Film als Beispiel für eine nicht-anthropozentrischer KI
Die Hypothese, den Film als eine Form von künstlicher Intelligenz zu betrachten, wurde erstmals 1946 von dem Filmemacher und Theoretiker Jean Epstein formuliert. Er beschreibt den Film als die Denkleistung eines technischen Apparates, des Kinematographen, und stellt darauf aufbauend einige Grundprinzipien der dualistisch geprägten modernen Philosophie in Frage. Das macht Epstein zu einem Vordenker der spekulativen bzw. materialistischen Wende in der zeitgenössischen Philosophie.
Jean Epsteins Roboter-Philosophie
Den Film als die Denkleistung eines technischen Apparates zu verstehen, wurde erstmals im Jahr 1946 von dem Pionierfilmemacher und Theoretiker Jean Epstein formuliert, vier Jahrzehnte bevor Gilles Deleuzes seine berühmten Ausführungen zu Philosophie und Film verfasste. Das von Christophe Wall-Romana im Jahr 2014 ins Englische übersetzte Buch The Intelligence of a Machine ist noch geprägt von der Anfangszeit des Films, als der Kinematograph sowohl als Kamera als auch als Projektionsmaschine funktioniert. Epsteins Herangehensweise nimmt nicht nur den deleuzianischen Ansatz vorweg, sondern stellt ein eigenes komplexes filmphilosophisches System dar. Aus seinem Vorschlag, das Kino als "Maschinendenken" zu bezeichnen, wird ein explizites Argument für die Notwendigkeit einer neuen Philosophie in Zusammenhang mit der Entstehung des Mediums Film. Da Epstein schnell versteht, dass eine solche Philosophie den kartesisch und kantisch geprägten Prinzipien des modernen Denkens entgegensteht, spricht er von einer „Antiphilosophie“.
Das Besondere an Epsteins Ansatz ist, dass er den Kinematographen als einen "Roboterphilosophen", eine individuelle Denkmaschine beschreibt, die ein "kinematographisches Denken" und sogar eine "mechanische Philosophie" entwickelt. Dieses Denken ist nicht einfach eine Nachahmung des menschlichen Denkens: "The cinematograph", so argumentiert Epstein, "stands out as a substitute and annex of the organ in which the faculty that coordinates perceptions is generally located—the brain—the alleged center of intelligence" (Epstein, 2014: 65). Epstein postuliert daher die Notwendigkeit einer neuen Art des philosophischen Denkens und spricht von einem "nicht-menschlichen Anteil", einem "Halb-Denken" oder einer Form des Denkens, welches nach besonderen Regeln von Analyse und Synthese funktioniert. Diese Regeln hätte der Mensch ohne den kinematographischen Apparat nicht erschaffen können.
Als Beispiel führt Epstein das im Zeitraffer gefilmte Wachstum einer Pflanze an, welches für Epstein eine Befreiung von der vom Menschen wahrgenommenen Zeit darstellt. Die wachsende Pflanze in Beschleunigung zu sehen, zeigt für Epstein auf, dass es die Zeit nicht „an sich“ gibt – sie ist ein von Beobachtung abhängiges Phänomen, eine einfache Perspektive, und dasselbe gilt für den Raum: er ist lediglich eine Perspektive koexistierender Dinge. Außerdem, so Epstein, unterscheidet der Roboterphilosoph nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt und widerspricht damit weiteren Grundlagen des modernen philosophischen Dualismus. Für Epstein markiert die Entwicklung des Kinofilms explizit das Ende des Cartesianismus. Er spricht von einer Antiphilosophie mit Folgen für unsere erkenntnistheoretischen Grundlagen.
Für Epstein stellt das im Zeitraffer gefilmte Wachstum einer Pflanze eine Befreiung von der vom Menschen wahrgenommenen Zeit dar.
Eine nicht-anthropozentrischen Form von KI
Epsteins Position ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen stellt sie eines der wichtigsten und frühesten Argumente für die Entstehung einer Philosophie des Films dar und unterstreicht eine implizite Beziehung zwischen Film und Denken; zum anderen zeigt sie, wie gerade diese Argumente von Anfang an mit einem Konzept der künstlichen Intelligenz verbunden sind, das sich ausdrücklich von einer lebenden Intelligenz unterscheidet. Epstein ist ausdrücklich der Meinung, dass wir anerkennen sollten, dass es neben dem organischen auch ein mechanisches Denken gibt, das andere Formen von Erkenntnis hervorbringt.
Epstein vertritt damit eindeutig eine posthumanistische Position, die auch eine Neupositionierung unseres gängigen Verständnisses von KI beinhaltet: Künstliche Intelligenz sollte, wenn wir uns das Beispiel des Kinematographen vor Augen führen, unter nicht-anthropozentrischen Kriterien betrachtet werden, also nicht die menschliche Form von Intelligenz als Referenzpunkt haben. Die Frage von Alan Turing: “Can machines think?” (Turing, 1950) und sein "Turing-Test" – die Frage, ob eine Maschine wie ein Mensch handeln kann – haben bis heute das vorherrschende anthropomorphe bzw. anthropozentrische Verständnis von KI geprägt. Dieses Verständnis wurde zum Ende des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Philosophen John R. Searle mit dem sogenannten „Chinese Room Argument“ gefestigt. Tatsächlich fordert Epsteins Ansatz jedoch eine andere Definition des Verhältnisses von Mensch und Maschine, welche die Vormachtstellung des Menschen in Frage stellt.
In der zeitgenössischen Philosophie vertreten verschiedene Strömungen des spekulativen Realismus und des neuen Materialismus eine anhaltende Kritik an den anthropozentrischen und dualistisch geprägten Positionen der westlichen, modernen Philosophie. Einige ihrer Herangehensweisen kommen Epsteins Überlegungen überraschend nahe.
Epstein und der kritische Posthumanismus
In diesem Zusammenhang ist insbesondere der holistisch geprägte kritische Posthumanismus interessant. Dieser fordert die Überwindung bestimmter mit der kartesischen Philosophie verbundenen Dichotomien heraus, wie zum Beispiel Geist und Körper, Tier und Mensch, Organismus und Maschine, oder Natur und Kultur, wie die amerikanische Denkerin Donna Haraway in ihrem bekannten Aufsatz A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century (1985) festhält. Gerade mit der Figur des Cyborgs schafft Haraway einen Ansatz, der auf der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine basiert. Haraway erklärt, dass es zum Ende des 20. Jahrhundert nicht mehr klar sei, wer in der Beziehung von Mensch und Maschine wen hervorbringt. Es gibt also eine Verschränkung zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen.
Haraways Position lässt sich mit Epsteins Beschreibung des entmenschten Anteils des Kinematographen in Verbindung bringen. Epsteins halbmenschliches Denken kommt Haraways Figur der Cyborgs nahe – im Sinne einer verschränkten Existenz mit Maschinen. Das betrifft insbesondere das Potenzial einer radikalen, onto-epistemologischen Verschiebung innerhalb des philosophischen Denkens. Wie Epstein argumentiert, fügt der Kinematograph dem Denken etwas Eigenes hinzu, etwas zu dem die Menschen alleine nicht fähig gewesen wären. Im Kinematographen ist also nicht genau klar, was der menschliche und was der nicht-menschliche Teil des Denkens ist, sowie welcher Teil welchen hervorbringt. Diese Unschärfe erfordert eine neue Art von Kausalität, die insbesondere von der Quantenontologin Karen Barad eingehend erforscht wird: ihre Erkenntnisse begründet sie aus der Quantenphysik nach der Lesart von Niels Bohr.
Das Schlüsselwort dieser quantenontologischen und holistischen Form von Kausalität heißt „Intraaktivität“ und meint die Untrennbarkeit verschiedener Phänomene oder Objekte. Sie basiert auf dem Prinzip von Diffraktion, welche neu figurierend funktioniert, statt auf dem Prinzip einer spiegelnden Reflektion. Anstelle einer Interaktion zwischen zwei Polen konstituieren sich die Pole gegenseitig in wirkmächtiger Intra-Aktion. Wenn wir die Mensch-Maschine-Beziehung als intra-aktiv begreifen, verstehen wir, dass diese "Unschärferelation" symptomatisch für die diffraktive Art der Kausalität ist, und dass diese auch im Kinematographen der Fall ist: Mensch und Maschine konstituieren hier ihr Denken gegenseitig.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Theorien Epsteins nicht nur die genannten zeitgenössischen philosophischen Strömungen bestätigen, sondern aufzeigen, wie diese vom Kinematographen denkend ergänzt werden, wenn wir seine Performanz als eine intelligente Denkleistung verstehen und entsprechend analysieren. Dadurch erhält die Frage, was künstliche Intelligenz ist, und ob wir sie als nicht-anthropozentrisch begreifen können, eine neue Perspektive: Die Antiphilosophie des Kinematographen wird so, wie der Übersetzer Wall-Romana zusammenfasst, zu einer neuen Epistemologie, die sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten bewegt.
Den Film als die Denkleistung eines technischen Apparates zu verstehen, wurde erstmals im Jahr 1946 von dem Pionierfilmemacher und Theoretiker Jean Epstein formuliert, vier Jahrzehnte bevor Gilles Deleuzes seine berühmten Ausführungen zu Philosophie und Film verfasste. Das von Christophe Wall-Romana im Jahr 2014 ins Englische übersetzte Buch The Intelligence of a Machine ist noch geprägt von der Anfangszeit des Films, als der Kinematograph sowohl als Kamera als auch als Projektionsmaschine funktioniert. Epsteins Herangehensweise nimmt nicht nur den deleuzianischen Ansatz vorweg, sondern stellt ein eigenes komplexes filmphilosophisches System dar. Aus seinem Vorschlag, das Kino als "Maschinendenken" zu bezeichnen, wird ein explizites Argument für die Notwendigkeit einer neuen Philosophie in Zusammenhang mit der Entstehung des Mediums Film. Da Epstein schnell versteht, dass eine solche Philosophie den kartesisch und kantisch geprägten Prinzipien des modernen Denkens entgegensteht, spricht er von einer „Antiphilosophie“.
Das Besondere an Epsteins Ansatz ist, dass er den Kinematographen als einen "Roboterphilosophen", eine individuelle Denkmaschine beschreibt, die ein "kinematographisches Denken" und sogar eine "mechanische Philosophie" entwickelt. Dieses Denken ist nicht einfach eine Nachahmung des menschlichen Denkens: "The cinematograph", so argumentiert Epstein, "stands out as a substitute and annex of the organ in which the faculty that coordinates perceptions is generally located—the brain—the alleged center of intelligence" (Epstein, 2014: 65). Epstein postuliert daher die Notwendigkeit einer neuen Art des philosophischen Denkens und spricht von einem "nicht-menschlichen Anteil", einem "Halb-Denken" oder einer Form des Denkens, welches nach besonderen Regeln von Analyse und Synthese funktioniert. Diese Regeln hätte der Mensch ohne den kinematographischen Apparat nicht erschaffen können.
Als Beispiel führt Epstein das im Zeitraffer gefilmte Wachstum einer Pflanze an, welches für Epstein eine Befreiung von der vom Menschen wahrgenommenen Zeit darstellt. Die wachsende Pflanze in Beschleunigung zu sehen, zeigt für Epstein auf, dass es die Zeit nicht „an sich“ gibt – sie ist ein von Beobachtung abhängiges Phänomen, eine einfache Perspektive, und dasselbe gilt für den Raum: er ist lediglich eine Perspektive koexistierender Dinge. Außerdem, so Epstein, unterscheidet der Roboterphilosoph nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt und widerspricht damit weiteren Grundlagen des modernen philosophischen Dualismus. Für Epstein markiert die Entwicklung des Kinofilms explizit das Ende des Cartesianismus. Er spricht von einer Antiphilosophie mit Folgen für unsere erkenntnistheoretischen Grundlagen.
Eine nicht-anthropozentrischen Form von KI
Epsteins Position ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Zum einen stellt sie eines der wichtigsten und frühesten Argumente für die Entstehung einer Philosophie des Films dar und unterstreicht eine implizite Beziehung zwischen Film und Denken; zum anderen zeigt sie, wie gerade diese Argumente von Anfang an mit einem Konzept der künstlichen Intelligenz verbunden sind, das sich ausdrücklich von einer lebenden Intelligenz unterscheidet. Epstein ist ausdrücklich der Meinung, dass wir anerkennen sollten, dass es neben dem organischen auch ein mechanisches Denken gibt, das andere Formen von Erkenntnis hervorbringt.
Epstein vertritt damit eindeutig eine posthumanistische Position, die auch eine Neupositionierung unseres gängigen Verständnisses von KI beinhaltet: Künstliche Intelligenz sollte, wenn wir uns das Beispiel des Kinematographen vor Augen führen, unter nicht-anthropozentrischen Kriterien betrachtet werden, also nicht die menschliche Form von Intelligenz als Referenzpunkt haben. Die Frage von Alan Turing: “Can machines think?” (Turing, 1950) und sein "Turing-Test" – die Frage, ob eine Maschine wie ein Mensch handeln kann – haben bis heute das vorherrschende anthropomorphe bzw. anthropozentrische Verständnis von KI geprägt. Dieses Verständnis wurde zum Ende des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Philosophen John R. Searle mit dem sogenannten „Chinese Room Argument“ gefestigt. Tatsächlich fordert Epsteins Ansatz jedoch eine andere Definition des Verhältnisses von Mensch und Maschine, welche die Vormachtstellung des Menschen in Frage stellt.
In der zeitgenössischen Philosophie vertreten verschiedene Strömungen des spekulativen Realismus und des neuen Materialismus eine anhaltende Kritik an den anthropozentrischen und dualistisch geprägten Positionen der westlichen, modernen Philosophie. Einige ihrer Herangehensweisen kommen Epsteins Überlegungen überraschend nahe.
Epstein und der kritische Posthumanismus
In diesem Zusammenhang ist insbesondere der holistisch geprägte kritische Posthumanismus interessant. Dieser fordert die Überwindung bestimmter mit der kartesischen Philosophie verbundenen Dichotomien heraus, wie zum Beispiel Geist und Körper, Tier und Mensch, Organismus und Maschine, oder Natur und Kultur, wie die amerikanische Denkerin Donna Haraway in ihrem bekannten Aufsatz A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century (1985) festhält. Gerade mit der Figur des Cyborgs schafft Haraway einen Ansatz, der auf der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine basiert. Haraway erklärt, dass es zum Ende des 20. Jahrhundert nicht mehr klar sei, wer in der Beziehung von Mensch und Maschine wen hervorbringt. Es gibt also eine Verschränkung zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen.
Haraways Position lässt sich mit Epsteins Beschreibung des entmenschten Anteils des Kinematographen in Verbindung bringen. Epsteins halbmenschliches Denken kommt Haraways Figur der Cyborgs nahe – im Sinne einer verschränkten Existenz mit Maschinen. Das betrifft insbesondere das Potenzial einer radikalen, onto-epistemologischen Verschiebung innerhalb des philosophischen Denkens. Wie Epstein argumentiert, fügt der Kinematograph dem Denken etwas Eigenes hinzu, etwas zu dem die Menschen alleine nicht fähig gewesen wären. Im Kinematographen ist also nicht genau klar, was der menschliche und was der nicht-menschliche Teil des Denkens ist, sowie welcher Teil welchen hervorbringt. Diese Unschärfe erfordert eine neue Art von Kausalität, die insbesondere von der Quantenontologin Karen Barad eingehend erforscht wird: ihre Erkenntnisse begründet sie aus der Quantenphysik nach der Lesart von Niels Bohr.
Das Schlüsselwort dieser quantenontologischen und holistischen Form von Kausalität heißt „Intraaktivität“ und meint die Untrennbarkeit verschiedener Phänomene oder Objekte. Sie basiert auf dem Prinzip von Diffraktion, welche neu figurierend funktioniert, statt auf dem Prinzip einer spiegelnden Reflektion. Anstelle einer Interaktion zwischen zwei Polen konstituieren sich die Pole gegenseitig in wirkmächtiger Intra-Aktion. Wenn wir die Mensch-Maschine-Beziehung als intra-aktiv begreifen, verstehen wir, dass diese "Unschärferelation" symptomatisch für die diffraktive Art der Kausalität ist, und dass diese auch im Kinematographen der Fall ist: Mensch und Maschine konstituieren hier ihr Denken gegenseitig.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Theorien Epsteins nicht nur die genannten zeitgenössischen philosophischen Strömungen bestätigen, sondern aufzeigen, wie diese vom Kinematographen denkend ergänzt werden, wenn wir seine Performanz als eine intelligente Denkleistung verstehen und entsprechend analysieren. Dadurch erhält die Frage, was künstliche Intelligenz ist, und ob wir sie als nicht-anthropozentrisch begreifen können, eine neue Perspektive: Die Antiphilosophie des Kinematographen wird so, wie der Übersetzer Wall-Romana zusammenfasst, zu einer neuen Epistemologie, die sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten bewegt.