„Ich sehe das Maschinenlernen auf einem Kontinuum“ – Holly Herndon über KI-Musik

Holly Herndon und Band, vor der Veröffentlichung ihres Albums Proto Foto: Boris Camaca

Drei Alben haben Holly Herndon genügt, um sich als eine wichtige Figur in der KI-Musik zu etablieren. Obwohl sie manchmal anonym und unpersönlich klingen mag, ist die KI-gestützte Musik für Herndon weiterhin ein sehr menschliches Unterfangen.

André Leslie

In der zweieinhalbjährigen Arbeit an ihrem neuesten Album Proto fand Holly Herndon ihre bevorzugte Methode der Klangproduktion mit ihrem KI-gestützten System, das sie voller Zuneigung als Spawn bezeichnet.

„Ich las Unmengen an Text und sang ein paar Passagen, um Spawn auf meine Stimme zu trainieren. Meine Stimme wurde Spawns ganzes Universum“, erklärte sie kürzlich in einem Podiumsgespräch für Couch Lessons, eine wöchentliche Serie für wichtige Gespräche über künstliche Intelligenz.

Besonders deutlich tritt die Methode, die Herndon als „das Stimmmodell“ bezeichnet, im zwölften Song Godmother zutage, in dem Spawn versucht, eine Komposition des Musikproduzenten Jlin zu beatboxen. Es ist ein hektischer Song mit Echozeichen, Pieps- und Kreischtönen, so als würde eine Maschine versuchen, aus einem Plattenspieler herauszukriechen.

„Ich brachte ihr das Beatboxen nicht bei, die Trainingsdaten enthielten keine Beatboxing-Aufnahmen aus dem Studio“ erklärt Herndon, die Spawn stets als weiblich bezeichnet. „Wenn sie mit einem Schlagzeugklang konfrontiert wird und versucht, ihn zu verstehen, kommt eine Art von Beatboxsound heraus.” Holly Herndon und Band, vor der Veröffentlichung ihres Albums Proto Herndon hat sich in den letzten Jahren zu einem der größten Namen auf dem Gebiet der KI und Musik entwickelt | Foto: Boris Camaca

Eine Faszination, deren Ursprünge weit zurückliegen

Holly Herndons Album Proto, das vergangenes Jahr veröffentlicht wurde, ist ihre bisher ehrgeizigste Arbeit, mit der sie zu einer wichtigen Vertreterin der KI-Musik geworden ist. Zuvor hatte sie Movement (2012) und Platform (2015) herausgebracht, zwei Alben mit elektronischer Musik, in der die KI jedoch eine geringere Rolle spielt. Aber Herndon begann bereits als Teenager, sich mit dem Maschinenlernen und den kreativen Möglichkeiten in der KI-Musik zu beschäftigen.

Herndon, die aus Tennessee im Süden der Vereinigten Staaten stammt, kam während eines Schulaustauschs in Berlin in Kontakt mit der elektronischen Musik. Sie studierte dieses Fach an der Universität und hat vor kurzem am renommierten Zentrum für Computerforschung der Universität Stanford ihren Doktortitel in Musik und Akustik erworben.

Gegenwärtig lebt die Vierzigjährige in Berlin, wo sie einige Jahre mit einem kleinen Ensemble sowie mit ihrem Ehemann und langjährigen Produktionspartner Mat Dryhurst und dem Spawn-Entwickler Jules LaPlace an Proto arbeitete.Die intensive Arbeit an dem Album war eine kollektive Anstrengung, und die Integration der künstlichen Intelligenz in die musikalische Schöpfung war ein natürlicher Prozess.

„Wir betrachten sie wirklich als Teil unseres Ensembles, als Gruppenmitglied, als Musikerin“, erklärt Herndon. „Wir verwenden die Metapher eines Babys (in Bezug auf Spawn), weil wir sie als eine Art von neugeborener Technologie betrachten, die nur von einer Gemeinschaft aufgezogen werden kann und deren ganzes Weltverständnis auf den Trainingsdaten beruht, mit denen wir sie füttern.“ Titelbild von Holly Herndons neuestem Album 'Proto'. Das Cover von Holly Herndons neuestem Album "Proto" ist ein Bild, das aus einer Mischung aller beitragenden Künstler besteht | © Holly Herndon, 4AD

Das Gute, das Schlechte und das Hässliche an der Musiktechnologie

Herndon findet, dass dies eine aufregende Zeit für KI-Musiker ist, denn „vor fünfzig Jahren – oder auch vor zehn Jahren – waren vollkommen andere Dinge wichtig als heute“. Aber sie macht keinen Hehl aus ihren Sorgen bezüglich der Urheberrechts- und Ausschüttungsfragen in Zusammenhang mit dem Dateneinsatz für neue KI-gestützte Musik. Beispielsweise sorgte Herndon bei der Produktion des Albums Proto persönlich dafür, dass keinerlei Zweifel an der Herkunft von Spawns Daten aufkommen konnten. Das neuronale Netz in dem einfachen Desktop-Computer, den sie verwendete, wurde ausschließlich mit Musikdaten gefüttert, die aus ihrem eigenen Gesang, der Musik ihres Ensembles und gelegentlich den Stimmen größerer Chorgruppen stammten, die ausschließlich zu dem Zweck engagiert wurden, das System zu trainieren. Das alles entspringt Herndons Überzeugung, dass der Kontext einer musikalischen Komposition respektiert werden muss.

„Die Streamingplattformen behandeln uns so, als würden wir algorithmisch Musik konsumieren, als wäre es uns eigentlich egal, woher etwas stammt oder welche Gemeinschaft es erzeugt“, sagt sie. „Ich glaube, das ist ein wirklich wichtiger ästhetischer Aspekt der Musik.“

„Wenn wir einfach nur unser gesamtes Archiv plündern und anschließend Unternehmen Subkulturen erschaffen, die wir konsumieren können, ohne dass wir den Leuten, welche die Ideen haben, ihre Beiträge zuschreiben, dann steuern wir auf eine wirklich dystopische Zukunft der Musik zu.“ Holly Herndon tritt im November 2019 mit Begleitsängern in Lissabon auf Holly Herndon tritt im November 2019 mit Begleitsängern in Lissabon auf | Foto: Vera Marmelo

Gebt die Hoffnung nicht auf

Herndons Hoffnung für die Zukunft ist, dass die Technologie und insbesondere die KI nicht entmenschlichend wirken oder Musiker und Musikliebhaber gleichermaßen überwältigen werden. Sie will auch nicht, dass ihre Arbeit mit Spawn dazu beiträgt, den Menschen „von der Bühne zu automatisieren“.
„Ich sehe im Maschinenlernen eine faszinierende und wundervolle neue Koordinierungstechnik für den Menschen“, erklärt sie. „Ich sehe sie auf einem Kontinuum mit den frühen stimmlichen Traditionen, die ebenfalls menschliche Koordinierungstechniken waren.“

In der absehbaren Zukunft, erklärt sie, werden noch beträchtliche menschliche Beiträge nötig sein, damit wir mit KI-Technologie Musik erzeugen können, die uns etwas sagt.

„Es ist weiterhin etwas, das großen menschlichen Arbeitsaufwand erfordert, und es ist etwas, woran Menschen Freude haben, womit sie sich ausdrücken und schöpferisch tätig sein können – diese Kunst ist etwas, das unsere Erfahrung im Hier und Jetzt ausdrückt.“
 
Das Gespräch über KI und Musik fand am 30. September 2020 zwischen Holly Herndon, Claire L. Evans und Ash Koosha statt und kann im Youtube-Kanal des Goethe-Instituts angesehen werden. Weitere Beiträge sind auf der Couch Lessons Webseite zu finden.

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