Jan Fingerland hat ein Gespräch mit Takis Würger geführt

Stella Stella | © Carl Hanser Verlag   Sie waren ein sehr erfolgreicher Journalist, sie befassten sich auch mit sehr dramatischen Themen, wie zum Beispiel mit den Kampfmissionen der Bundeswehr außerhalb Europas oder dem deutschen Islamismus. Viele Menschen wären damit zufrieden, warum entschieden Sie sich, auch noch Romane zu schreiben? Gibt es Ihnen etwas, was die journalistische Arbeit Ihnen nicht bietet?
 
Für mich sind die Gemeinsamkeiten zwischen fiktionalem Schreiben und Journalismus kleiner, als man vielleicht annehmen könnte. Ich glaube, die größte Gemeinsamkeit ist, dass beides mit geschrieben Wörtern zu tun hat. Aber das eine ist wahr und das andere Fantasie. Die Aufgabe von Journalisten ist es, nach Antworten zu suchen. In einem Roman reicht es mir manchmal, wenn ich eine gute Frage finde.
 
Ihr Roman spielt in Berlin, und ich hatte bei der Lektüre das Gefühl, dass es sich eigentlich um einen Liebesbrief an Berlin mit all seinen Dämonen handelt. Ist es so?
 
Ich lebe in Berlin, und ich liebe diese Stadt. Aber mein Roman ist nicht als Liebesbrief gedacht. In meinem Roman geht es ja vor allem um Terror, Trauer, Entsetzen. Das sind die Gefühle, die den Protagonisten Fritz umtreiben. Und das denke ich selbst, wenn ich an Berlin unter dem Nazi-Regime denke.
 
Sie haben Ihren Roman dem Gedächtnis Ihres Urgroßvaters gewidmet, der im Rahmen der von den Nazis organisierten „Aktion T4“ ermordet wurde. Kennt man im heutigen Deutschland die Geschichte der Euthanasie an behinderten Menschen? Ist diese Geschichte Bestandteil der Erinnerungen an den Holocaust, oder hat sie im deutschen Gedächtnis ihren eigenen Platz?
 
Ich bin kein Experte der deutschen Erinnerungskultur. Und kann Ihnen leider nicht genau sagen, wie die Morde der Aktion T4 im Vergleich zu anderen Verbrechen der Nazis erinnert werden sollten. Für mich ist der Mord an meinem Ur-Großvater eine persönliche Geschichte und wir versuchen in meiner Familie, daran zu erinnern. Ich habe in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein in der Gaskammer gestanden, in der mein Ur-Großvater ermordet wurde. Diese Erfahrung hat mich erschüttert und geprägt und ich glaube, ohne diese Erfahrung hätte ich den Roman "Stella" nicht geschrieben. Deshalb die Widmung.
 
Die Haupt-(Anti)Heldin des Romans ist die junge Jüdin Stella, die den Nazis die sich verbergenden Berliner Juden jagen half. Sie konnte Hunderte von Menschen auf dem Gewissen haben. Ich gebe zu, dass ich die Geschichte Stellas vor dem Lesen Ihres Buches nicht kannte. War diese Geschichte in Deutschland noch vor dem Erfolg Ihres Romans bekannt? Wie wird sie wahrgenommen?
 
Manche Menschen kannten diese Geschichte. Es gibt ein starkes Sachbuch über Stella Goldschlag, es war allerdings 20 Jahre alt und wurde nicht mehr gedruckt, bevor mein Roman rauskam. Wenn ich nach den Leserinnen und Lesern gehe, die ich auf meinen Lesungen kennenlernen durfte, würde ich sagen, das Schicksal Stella Goldschlags war den wenigsten bekannt. Nach den Diskussionen um meinen Roman ist das Sachbuch über sie übrigens wieder aufgelegt worden, es erscheint im Steidl Verlag. Ich kann es sehr empfehlen.
 
Was war der Hauptanlass zur Niederschrift der Geschichte von Stella Goldschlag? Ihr persönliches Interesse an einer unglaublichen Verwicklung oder ein Versuch, diese Seite der neuen deutschen Geschichte aufzugreifen?
 
So ein Roman und seine Entstehung sind nicht so monokausal und so einfach zu erklären, wie ich das gern können würde. Ich habe durch einen Freund vom Schicksal der historischen Stella Goldschlag erfahren. Dem Schicksal einer Frau, die vor die Wahl gestellt wird, mit den Nazi zu kollaborieren oder der Deportation ihrer Eltern zuzuschauen. Die Grausamkeit dieser Geschichte hat bei mir Fragen nach Schuld aufgeworfen, auf die ich bis heute keine Antwort weiß. Ich glaube, solche offenen Fragen sind ein guter Punkt, um die Arbeit an einem Roman zu beginnen.
 
Ihr Roman war sehr erfolgreich, aber gleichzeitig gerieten Sie in eine sehr brisante Debatte rund um die Schuld und Verantwortung etc. Wie würden Sie dieses zweite Leben Ihres Buches für das tschechische Publikum beschreiben?
 
Das ist eine Frage, die Ihnen die Kritiker besser beantworten können als ich. Mein Roman hat zu einer Debatte über Erinnerungskultur geführt. Ich bin allen dankbar, die das möglich gemacht haben.
 
Die Geschichte der historischen Stella kannte ich nicht. Zunächst hielt ich es sogar für ein Wortspiel mit dem Namen der biblischen Ester, einer jungen Jüdin, die sich umgekehrt trotz eigener Bedrohung bemühte, die bedrohten Juden zu schützen. Es handelt sich jedoch um eine wahre Geschichte und um einen umstrittenen Teil der Geschichte des Holocaust. Befürchteten Sie die Reaktion der deutschen jüdischen Gemeinde? Wie war die Reaktion?
 
Ich denke, Angst ist ein schlechter Ratgeber für einen Schriftsteller. Die wichtigste jüdische Zeitung in Deutschland, die Jüdische Allgemeine, hat sich in der Debatte hinter meinen Roman gestellt.
 
Aus literarischer Sicht fand ich den Kontrast zwischen den beiden Haupthelden interessant. Sie analysieren Fritzens Gefühle und Motivation, sogar seine Familiengeschichte, man erfährt schrittweise sehr viel über diese Person. Gleichzeitig behandeln Sie jedoch Stella wie eine „Blackbox“, jemanden, dessen Überlegungen und Gefühle vor dem Leser verborgen bleiben. War dies Ihre Absicht, zum Beispiel weil Sie meinten, dass es nicht möglich ist, die wahren Motive von Stella zu erfassen?
 
Ich erzähle meinen Roman aus der Perspektive eines jungen Mannes, der nicht begreift, was in dem damaligen Berlin passiert und der nicht weiß, wie er die Schuld der Frau bewerten soll, in die er sich verliebt. Das war die Perspektive, die mich interessiert. Die Stella meines Romans ist eine fiktionale Stella. Ich glaube, es könnte einen anderen Roman über ihre Gedanken geben, aber ich wollte ihn nicht schreiben. Ich wollte, dass meine Leserinnen und Leser selbst überlegen, was diese Frau denkt und fühlt.
 
Ich kämpfte auch ein bisschen mit der wichtigen Randfigur Tristan. Er ist Nazi, aber er gehört auch zu den Berliner Bars, versteckten Jazzklubs und Nachtstraßen. Für mich hat diese Figur etwas Unwirkliches an sich. Gibt es ein reales Vorbild für Tristan, vertritt er etwas in der Geschichte, oder handelt es sich hier um eine Figur, die erst beim Schreiben Ihres Romans entstand?
 
Ich habe einen Roman geschrieben, inspiriert von einer historischen Figur Stella Goldschlag, aber am Ende eine fiktionale Geschichte. Es gab nie einen Tristan von Appen, der in seiner SS-Uniform zu Jazz getanzt hat. Die Frage, ob es diese Person wirklich gegeben hat, war für mich nicht die entscheidende Frage. Ich hoffe, Tristan fügt sich für die Leserinnen meines Romans in die Geschichte und macht in dieser Geschichte Sinn. Dort muss er Sinn machen, weil es ihn nur dort gibt, sonst nirgends.
 
Ich habe noch eine Frage. Sie hängt mit Ihrem anderen Buch zusammen, das sich mit dem Boxen befasst. Auch im Roman Stella kommt eine kleine Figur eines jüdischen Boxers vor. Was interessiert Sie am Boxen?
 
Ich habe mein halbes Leben lang geboxt. Boxen inspiriert mich und macht mir Freude. Gerade arbeite ich an einem Roman, in dem wieder eine kleine Boxszene vorkommt. Dieses Mal kämpft eine Frau, als kleine Abwechslung.
 
Vielen Dank für Ihre Antworten. Berlin/Prag, den 6. Juni 2020