Thailands Künstler*innen und Protestierende Boys Generation Presseofoto. | © Boys Generation
Die Rhythmen von K-Pop nutzen

Thailands Künstler*innen und Protestierende

Von Liew Kai Khiun, 2023

K-Pop, oder zeitgenössische koreanische Popmusik, steht mit der globalen Popindustrie in Verbindung. Hochgradig produzierte, gemanagte und gepflegte "Idol"-Bands führen synchronisierte Tanzperformances zu eingängigen Melodien für kreischende Fans auf. Welche Relevanz hat diese Mainstream-Popmusikindustrie für die eher experimentellen und unabhängigen Ausrichtungen von Nusasonic? Da ich mehr lokale und regionale Perspektiven sowie pädagogisches Material in die globale akademische Literatur einbringen möchte, habe ich mich in den letzten zwei Jahrzehnten mit der Popmusiklandschaft Asiens befasst.

Meine Forschung über K-Pop in Südostasien begann in den frühen 2000er Jahren. Dieser Zeitraum markiert die Anfänge der „koreanischen Welle“, als koreanische Fernsehdramen oder K-Dramen die frühe Verbreitung koreanischer populärer Unterhaltung in der Region anführten, die zu dieser Zeit noch eher mit Importen aus Taiwan, Hongkong und Japan vertraut war. Mit zunehmender Sichtbarkeit durch Fan-Treffen mit koreanischen Künstlern, die zu Besuch waren, und mit der Anwesenheit von Fans aus Südostasien als Touristen in Südkorea wurde ich Zeuge sich verändernder Trends auf dem Markt durch eine entstehende, zumeist weibliche Zielgruppe. Zwar gab es damals schon ein gewisses regionales Interesse an K-Pop, aber der Markt war noch vergleichsweise klein. Zu diesem Zeitpunkt war K-Pop für mich eine der wahrscheinlich erfrischendsten Neuentwicklungen auf dem aufstrebenden kosmopolitischen Verbrauchermarkt in Südostasien.  Da solche Trends immer wieder als Modeerscheinungen bezeichnet wurden, habe ich mir keine weiteren Entwicklungen vorgestellt.

Das folgende Jahrzehnt der 2010er Jahre war für die Region im wahrsten Sinne atemberaubend. Die jüngeren Millennials und die Generation Z Südostasiens bewiesen das transformative Potenzial von K-Pop, um Celebrity-Status zu erlangen, aber auch für den Aktivismus. Ich werde hier Thailand als Fallstudie für eine solche kulturelle Nutzung heranziehen. Abgesehen von der erheblich hohen Repräsentation seiner Künstler*innen in der K-Pop-Industrie zeichnete sich das Königreich mit seinen rund 70 Millionen Einwohnern auch als dynamische Kraft bei der Globalisierung des K-Pop durch kulturelle Ästhetik und politischen Aktivismus aus.

Lalisa

2016 debütierte unter dem koreanischen Label YG Entertainment die weibliche K-Pop-Band Blackpink. Innerhalb nur eines Jahres erreichte die Gruppe weltweiten Star-Status und konkurrierte auf der Weltbühne mit Boybands wie BTS. Eines der vier Mitglieder, Lalisa Manoban (Lisa) stammt aus Thailand. Bereits bilinguale Thai- und Englisch-Sprecherin, sprach sie bald fließend Koreanisch und hebt sich damit weiterhin als eine der kosmopolitischeren K-Pop-Künstlerinnen in der Industrie ab. In einem Segment ihres Musikvideos zu ihrem selbstbetitelten Solostück, das am 10. September 2021 veröffentlicht wurde, thematisierte Manoban ihre kulturelle Identität als Thaifrau, indem sie in einem Oberteil im Sabai-Stil und Sarong-Wickelrock rappte und damit thailändischem Kunsthandwerk und der Webkunst des Landes huldigte. Ein markantes Merkmal ihres Kostüms war die spitz zulaufende goldene Krone, die nach dem Muster des thailändischen traditionellen Kopfschmucks, des Chada, gestaltet war und bei traditionellen Tänzen verwendet wird. Kurz nach der Veröffentlichung des Musikvideos begannen ähnliche Versionen in Einzelhandelsgeschäften in Thailand aufzutauchen und die Nachfrage stieg stark an.

Für die Künstlerin, die in der thailändischen Provinz Buriram aufgewachsen ist, stammte der Wunsch, thailändisches Erbe mit zeitgenössischem Mode-Design und Tanzchoreografie zu kombinierendaher, eine »thailändische Melodie« in den Sets, dem Styling, dem Albumdesign und der Choreografie des Musikvideos heraufzubeschwören. Innerhalb von 24 Stunden nach seiner Veröffentlichung erreichte »Lalisa« auf YouTube mehr als 70 Millionen Aufrufe und stellte damit einen neuen Rekord auf der Plattform für das meistgesehene Video an einem einzigen Tag von einer Solokünstlerin auf. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes hat das Video bereits mehr als eine halbe Milliarde Aufrufe. Durch K-Pop hat Manoban nicht nur die thailändische Kulturästhetik und deren Erbe gestärkt, sondern auch die Präsenz Südostasiens auf der Weltbühne verstärkt.

Manobans Bekanntheit markierte einen neuen Höhepunkt im Momentum, das K-Pop-Künstler*innen aus Südostasien, die der globalen Talentsuche der Branche folgten, erfasst hatte. Er baute auf der Arbeit von Künstler*innen wie Sandara Park von 2NE1 (die fließend Tagalog spricht und auf den Philippinen aufgewachsen ist) und KhunNitchakhun Horawetchakun (Nichkhun) von 2PM aus Thailand in den frühen 2010er-Jahren auf. Neben Lisa dominieren auch Kunpimook Bhuwakul (Bam Bam) und Chittaphon Leechaiyapornkul (Ten) von den Boygroups GOT7 und SuperM sowie die Girlgroup-Mitglieder Nicha Yontararak (Minnie) von (G)I-DLE und Chonnason Satchakun (Sorn) von der mittlerweile aufgelösten CLC die Präsenz Thailands in der K-Pop-Industrie Südostasiens. Am 14. Mai 2023 stellte YG Entertainment, das Label, das Blackpink hervorbrachte, seine nächste Generation von K-Pop-Bands vor: Babymonster. Teil des multinationalen Septett sind zwei Thailänderinnen, Riracha Phondechaphiphat (Chiquita) und Pharita Chaikong (Pharita), die das Unternehmen als Teil des kosmopolitischen globalen Gesichts der K-Pop-Industrie positioniert.

Die Gründe für eine solche Prominenz bleiben unklar. Ein möglicher Faktor könnte der Erfolg von Nichkhun sein, der für aufstrebende thailändische K-Pop-Künstler*innen viele Türen geöffnet hat. Dies wurde von Bam Bam in einer Pressekonferenz im Jahr 2022 erwähnt, als er dem Künstler Tribut zollte. Außerdem haben Thailänder*innen seit Jahrzehnten anhaltenden Kontakt und Austausch sowohl mit westlichen als auch mit ostasiatischen Kolleg*innen. Durch die fortlaufenden kulturellen Verbindungen seiner ethnischen chinesischen Minderheiten ist der thailändische Markt mit der Popkultur aus dem Nachkriegs-Hongkong und Taiwan in Berührung gekommen. Als internationales Tourismusziel seit dem Vietnamkrieg ist das Königreich auch mit Trends aus der Popindustrie des Westens vertraut. Es verfügt daher über tiefere branchenspezifische Netzwerke und die begleitenden kulturellen Sensibilitäten sowohl des globalen Hollywood als auch der regionalen Unterhaltungsindustrie.

BNK48 and Isan

K-Pop hat weitgehend die Popindustrie des asiatisch-pazifischen Raums durchdrungen und die lokalen Unterhaltungsmärkte in den Schatten gestellt. In vielerlei Hinsicht lässt K-Pop die lokale Industrie veraltet aussehen und offenbart die Selbstzufriedenheit der nicht konkurrenzfähigen lokalen kommerziellen Unterhaltung. Dieses offensichtliche Klima könnte auch die Motivation für thailändische Protagonist*innen sein, in die K-Pop-Industrie einzusteigen. Ebenso wie in benachbarten südostasiatischen Ländern wurden auch in der thailändischen Popindustrie Anstrengungen unternommen, den von K-Pop entwickelten rhythmischen und ästhetischen Trends zu folgen. Der bemerkenswerteste Schwerpunkt liegt dabei auf der Lokalisierung des K-Pop-Idol-Gruppen-Konzepts durch lokale Vorauswahl-Auditions und Trainings, die zur Bildung und Vermarktung offizieller tanzorientierter Boy- und Girlbands unter einem neuen, frischen thailändischen Pop-Label, dem T-Pop, führen. In dieser Hinsicht wurde eine der innovativeren Initiativen zur Bewältigung der K-Pop-Herausforderung in Thailand durch die japanische Popmusik, auch J-Pop genannt, inspiriert.

Mit Wurzeln im Tokioter Stadtteil Akihabara im Jahr 2005 ist AKB48 ein Kollektiv junger Amateur-Künstlerinnen, deren individuelle Beliebtheit bei den Fans durch ihre täglichen Auftritte im AKB-Theater gefördert wird. Gegründet von Yasushi Akimoto, beruht der Reiz dieses Kollektivs auf der »Unvollkommenheit« und dem »Work-in-Progress«-Gefühl der jugendlichen weiblichen Darstellerinnen, die sich fortwährend in ihren Gesangs- und Tanzfähigkeiten verbessern und solidarische Beziehungen zu ihren Teammitgliedern knüpfen. Durch ihre täglichen Shows können sich die Fans sowohl mit den Herausforderungen als auch mit dem Fortschritt der einzelnen Mitglieder identifizieren. Das AKB48-Konzept wurde innerhalb der J-Pop-Industrie sehr gut aufgenommen und auch exportiert.

Im Jahr 2016 kaufte der thailändische Unternehmer Jirat Bawonwattana das AK48-Franchise und gründete eine Bangkok-Dependance, BNK48. Bawonwattana begann damit, die T-Pop-Industrie mit dem Versprechen von Ruhm und Starstatus für eine neue Generation thailändischer Jugendlicher zu erneuern. Die Erfahrung der neuen BNK48-Rekrutinnen wurde im Land als etwas Neues wahrgenommen. Tarwaan, ein Mitglied von BNK48, beschreibt es in einem Interview mit All Magazine im Jahr 2019 wie folgt:

»Ich war vorher K-Pop-Fan. Ich habe das koreanische Entertainment mehr verfolgt als das japanische, daher wusste ich nicht viel über das System der 48-Gruppen. Als ich Teil der Gruppe wurde, erfuhr ich, dass wir 16 Senbatsu-Mitglieder (Mitglieder, die für jeden Song ausgewählt werden) haben müssen. Es gibt Bühnenauftritte und Wettbewerbe. Ich war verwirrt. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.«
 

Der über das BNK48-Konzept gefestigte Pool an »Talents« trat auf Konzerten, in Fernsehprogrammen und Filmen auf. Eine der herausragendsten Produktionen war der Titelsong für den Film Thibaan aus dem Jahre 2020 mit dem Titel "ไทบ้าน x BNK48 จากใจผู้สาวคนนี้". Das Stück, eine Koproduktion von Surasak Pongsorn und Thiti, entstand dadurch, dass mehrere Mitglieder von BNK48 dazu aufgefordert wurden, in den ländlichen Raum zu reisen und traditionelle Volkslieder zu lernen, um neue Songs für die Band zu entwickeln. Das Musikvideo zeigte die Reisen der BNK48-Mitglieder in Cosplay- bzw. Fantasie-Uniformen in die Isan-Region im Norden Thailands und inszenierte die synchronisierten Tanzchoreografien der Künstler vor dem musikalischen Hintergrund der traditionellen Volkslieder der Region, die von den morlam- und luk thong-Traditionen geprägt sind. Der Film und das dazugehörige Musikvideo waren Folge einer breiteren regionalen Bewegung, bei der sich neue Soundwelten aus dem ostasiatischen Raum mit traditionellen Volksmusikästhetiken Thailands vermischen. Abgesehen von der Hervorhebung lokaler Geografien trugen solche Produktionen auch zur Gestaltung lokaler Geschlechtsidentitäten bei, die von thailändischen Jugendlichen mit Hilfe von K-Pop definiert werden.

Boys Generation

Männliche K-Pop-Idole werden aufgrund ihrer Nutzung von Kosmetika und einem metrosexuellen Modebewusstsein oft als »verweiblicht« gelabelt. Innerhalb der Industrie sind Geschlechterrollen stark voneinander getrennt, etwa durch strukturierte »maskuline« und »feminine« Choreographien für die Tanzperformances männlicher und weiblicher K-Pop-Bands. Der Act, der diese Geschlechtsunterschiede vielleicht am stärksten verkörpert hat, war “Girls Generation (SNSD). Als eine der wichtigsten Gruppen für SM Entertainment wurde die ursprüngliche neunköpfige Gruppe vor allem für ihre auf die langen  Beine fokussierten Tanzperformances in High Heels bekannt, die mit Referenzen aus dem Cabaret des vergangenen Jahrhunderts spielten.

Cover-Dance-Performances sind ein fester Bestandteil von K-Pop, bei denen sowohl in der physischen als auch in der digitalen Sphäre oftmals schon kurz nach der Veröffentlichung von offiziellen Musikvideos und Tanzroutinen von K-Pop-Gruppen die Tänze nachgeahmt werden. Beobachter*innen von K-Pop-Trends haben in Südostasien den Beginn einer Entwicklung zur lässigen, gemischtgeschlechtlichen Aneignung von ansonsten klar geschlechtsspezifischen K-Pop-Performances festgestellt. Zum Beispiel verwendeten Schulen und Gefängnisse auf den Philippinen seit den frühen 2010er-Jahren die Tanzchoreografien von K-Pop-Gruppen wie T-ara und Momoland als Teil ihres Tanzunterrichts und der Aufführungen, ohne dabei Bezug darauf zu nehmen, für welches Geschlecht diese Choreografien ursprünglich erstellt wurden. In Thailand entstand eine subversive Neuinterpretation und Appropriation von K-Pop, als 2009 eine Gruppe von Jungen im Teenageralter unter dem Namen Wonder Gays eine Cover-Dance-Parodie des K-Pop-Songs "Nobody" von den Wonder Girls veröffentlichte. Sie waren Vorreiter eines Trends zu genderübergreifenden Cover-Dance-Performances im K-Pop, und ihr Cover wurde eines der ersten viralen YouTube-Videos in Thailand. Die Performance der Wonder Gays führte in der thailändischen Öffentlichkeit sowohl zu feierlichem Lob als auch zu sissyphoben Reaktionen. Die Gruppe wurde daraufhin von einem bedeutenden lokalen Plattenlabel, RS Thailand, für eine einjährige landesweite Tournee unter Vertrag genommen.

Eine weitere K-Pop-Cover-Tanzgruppe, die in Thailand öffentliche Aufmerksamkeit erlangte, war Boys Generation, die sich hauptsächlich auf die Choreografien von Girls Generation bezog.  Die neunköpfige Gruppe wurde 2009 aus Mitgliedern eines lokalen K-Pop-Fan-Internetforums gegründet und erlangte öffentliche Aufmerksamkeit durch nachhaltigere Coverversionen der offiziellen Versionen von SNSD. Boys Generation bestand hauptsächlich aus College-Studenten und war eher ein informelles Kollektiv, dessen Mitglieder die Aufgabe hatten, bei ihren Auftritten die Rollen bestimmter SNSD-Mitglieder zu übernehmen. Obwohl die Gruppe neben Video-Uploads ihrer Choreografien auch öffentliche Auftritte hatte, löste sich Boys Generation schließlich auf, da einzelne Mitglieder die Gruppe nach dem College-Abschluss verließen. Mit der zunehmenden Verbreitung von K-Pop-Cover-Tänzen, die von beiden Geschlechtern aufgeführt werden, wirken die geschlechtsübergreifenden Inszenierungen von Gruppen wie Wonder Gays und Boys Generation heute vielleicht nicht mehr so radikal transgressiv. Ich habe jedoch das Gefühl, dass sie den Weg für diese transformative Möglichkeit geebnet haben, indem sie das normalisierten, was der K-Pop-Forscher Dredge Kang als den von K-Pop inspirierten »all-kathoey« beschreibt, einen von trans Frauen aufgeführten thailändischen Covertanz.

Tings

Das Wort »ting« (kurz für »ting hu« oder »Ohrläppchen« auf Thai) bezog sich üblicherweise auf die Vorschriften von High Schools bezüglich der Haarlänge von Schülerinnen, die nicht kürzer als die Ohrläppchen sein sollte. Das Wort erhielt eine neue Bedeutung, als in Thailand vor allem weibliche, junge K-Pop-Fans sichtbar wurden, die als »ting« oder »ting Korean« (ausgesprochen wie Ting Kaw-ree) bekannt wurden. Die rasche Ausbreitung von Smartphones fiel mit einem wachsenden Anteil von jungen Menschen in der Gesamtdemographie der Schwellenländer der Region zusammen. Die zunehmende Erschwinglichkeit von Smartphones in den letzten zehn Jahren hat zu einer digital verbundenen, sozial vernetzten und kulturell autonomen Generation Z geführt.

Im November 2021 wurde H1-Key, eine neue K-Pop-Girlgroup, mit einem ihrer Mitglieder, Sitala Wongkrachan aus Thailand, vorgestellt. Als Tochter des kurz zuvor verstorbenen populären Schauspielers Sarunyoo Wongkrachan hätte Sitalas Herkunft ihr einen Vorteil auf dem thailändischen Markt verschafft. Der ältere Wongkrachan war jedoch auch für seine königstreue politische Einstellung bekannt und war sogar zusammen mit Sitala bei einer den Militärputsch unterstützenden Demonstration im Jahr 2014 zu sehen. Nach ihrem Debüt wandte sich die sonst thailändische Künstler*innen unterstützende thailändische Öffentlichkeit mit dem Twitter-Hashtag #แบนลูกหนัง (cancelt die Künstlerin Looknung) gegen Sitala. Die Wut der Öffentlichkeit rührt von einer thailändischen K-Pop-Fangemeinde her, die politisch bewusster geworden ist.

In den späten 2010er Jahren wurden »tings« in der hauptsächlich von jungen Menschen angeführten Protestbewegung für eine Reform der thailändischen Monarchie sichtbarer. In einem Interview mit Reuters im November 2020 brachte eine »ting« mit dem Pseudonym »Suphinchaya« die Politisierung der überwiegend weiblichen Sphäre des K-Pop-Fandoms auf den Punkt: »K-Pop-Fans würden am liebsten nur von unseren »Oppas« schwärmen [was auf Koreanisch »großer Bruder« bedeutet, wobei männliche Idole von weiblichen Fans in der Regel liebevoll angesprochen werden] und sich um nichts anderes kümmern, aber bei den Verhältnissen in unserem Land müssen wir als Bürger eine Verbesserung der Dinge fordern.«

Die »tings« sind Teil einer breiteren regionalen Bewegung spontaner, von jungen Menschen getragener sozialer Proteste, die auch unter dem Namen »Milk Tea Alliance« bekannt ist. Diese Bewegung, die ihren Namen von einem bei Jugendlichen der Region beliebten Getränk leiht, steht für gemeinsame transnationale Demokratiebestrebungen und Solidaritäten. In diesem Kontext wird K-Pop zu Protestmusik und -tänzen, und normalerweise unpolitische Fanclubs werden zu Orten öffentlicher Mobilisierung und des Aktivismus. Auch dieser Trend war in Thailand während der von Jugendlichen angeführten Anti-Regierungs-Proteste Anfang 2020 am deutlichsten zu erkennen. Die fast ein Jahr andauernden Demonstrationen waren Ausdruck einer neuen Welle öffentlicher Unzufriedenheit gegen die vom Militär gestützte thailändische Regierung unter Premierminister Prayuth Chan-ocha, einem royalistischen Armeegeneral, der 2014 einen Militärputsch gegen die Zivilregierung inszenierte.

Bei öffentlichen Demonstrationen markierten K-Pop-Fans ihre Präsenz mit K-Pop-Tanzchoreografien und Liedern, die sich akustisch mit wütenden Anti-Regierungs-Slogans und Sprechchören vermischten. Theaterinszenierungen neben laienhaften und professionellen Kunstinstallationen und Ausstellungen waren zentraler Bestandteil der Proteste und sozialen Bewegungen und verliehen den ernsthaften Ereignissen eine rummelhafte Atmosphäre.

Es zeigt sich hier, wie die mit K-Pop aufgewachsene Generation scheinbar apolitische kommerzielle Mainstream-Inhalte in politische Haltungen und Positionierungen umwandeln konnte. Ein K-Pop-Song, »Into the New World (다시 만난 세계)«, stach als Protesthymne hervor. Das Debüt von Girls Generation aus dem Jahr 2007, ein Candy-Pop-Narrativ über jugendliches Selbstvertrauen, wurde in Südkorea während der Demonstrationen gegen die damalige Präsidentin Park Guen Hye, die Tochter des Militärdiktators Park Chun-Hee, erstmals als Protesthymne gehört. Ein Auszug aus dem Text (hier aus der englischen Übersetzung ins Deutsche übertragen) spiegelt die potenzielle Kraft des Liedes wider, das auch in einen Protest umgewandelt werden könnte:

»Warte nicht auf irgendein besonderes Wunder
Unser steiniger Weg vor uns
Mag eine unbekannte Zukunft und Herausforderung sein
Aber wir können nicht aufgeben«

Eigentlich als veraltet wahrgenommen, hätte dieser Song wohl kaum die jugendlichen Demonstrierenden angesprochen, die zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wahrscheinlich noch Kinder waren. Doch wie auch ihre koreanischen Pendants nutzten thailändische Demonstrierende »Into the New World« als eine von mehreren Protesthymnen. Der Aktivist Natchapol Chaloeykul und seine Mitstreiter, die in einem Interview mit der South China Morning Post am 3. November 2020 erklärten, sie seien von den üblichen Protestchören und -sprüchen gelangweilt, stellten Lautsprecher auf und spielten »Into the New World« ab. Eher künstlerisch veranlagte Protestierende gaben Tanzworkshops, die auf der Choreografie der Pophymne basierten.

Den physischen Raum ergänzten etablierte K-Pop-Netzwerke von Fanclubs und Communitys in den sozialen Medien, die sich zu Plattformen politischer Mobilisierung und öffentlichem Aktivismus entwickelten. Hier wurden Fans mittels Spendencrowdfunding zur Finanzierung von Protestaktionen, Informationsvermittlung oder etwa durch die Koordinierung von Aktivitäten mobilisiert. Eine der Social-Media-Aktivitäten, die ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte, war eine Twitter-Seite für Girls Generation, die in weniger als einem Tag 780.000 Baht (25.000 US-Dollar) sammelte, was zu den insgesamt 4 Millionen Baht (128.000 US-Dollar) hinzukam, die in einer Woche zusammen über andere K-Pop-Social-Media-Seiten in Thailand gesammelt wurden.

Vor dem Staatsstreich kauften thailändische K-Pop-Fans Werbeflächen vom Bangkok Train System (BTS) und den wichtigsten öffentlichen Verkehrsbetrieben, die mit dem politischen Establishment verbunden sind, um an die Geburtstage ihrer Idole zu erinnern. Als sie beschlossen, diese Unternehmen zu boykottieren, lenkten sie ihre Ressourcen um und brachten die gleichen Plakate auf den Rückseiten der allgegenwärtigen privaten »Tuk-Tuks« (Rollertaxis) in Bangkok an. Zur Zeit der Covid-19-Pandemie war dieser Schritt auch bedeutend, weil er Tuk-Tuk-Fahrer*innen zusätzliche finanzielle Unterstützung verschaffte.

Vergleichbar mit Blockchains waren diese K-Pop-Fanclubs höchst autonome Einheiten, die nur lose miteinander verbunden waren. Ohne die formalisierten Strukturen, die für traditionelle Gewerkschaften und NGOs charakteristisch sind und die leicht mit Behörden in Verbindung gebracht werden können, konnten diese Gruppen effektiver und ohne aufzufallen agieren.

Fast zufällig rückte digitaler K-Pop Aktivismus einige Monate später bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 ins Zentrum der Weltöffentlichkeit, als K-Pop-Fans, die auch die »Black Lives Matter«-Bewegung offen unterstützten, Trumps Social-Media-Kampagnen störten. Eine ähnliche Taktik war ein Jahr später in Myanmar zu beobachten, als die einst politisch latente K-Pop-Community des Landes öffentliche Proteste gegen den Militärputsch mobilisierte, der die Zivilregierung im Februar 2021 abgesetzt hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass thailändische K-Pop-Communitys die Referenz für ihr Pendant in Myanmar waren und die Inspiration lieferten.

Fazit

Lisa von Blackpink, die Frauen von BNK48, die Cover-Tänzer*innen von Boys Generation und Wonder Gays, die namenlosen "ting's" im David gegen Goliath-ähnlichen Kampf gegen die vom Militär gestützte monarchistische Regierung: Thailand steht im Zentrum der Erzählung über Südostasien als wichtiger Motor für die beispiellose globale Verbreitung von K-Pop in den letzten zwei Jahrzehnten. Die kreative Aneignung und Umwandlung von Popkultur in dynamische politische Ausdrucksformen ist auch ein sehr frauen- und weiblich zentriertes Unterfangen. Jung und lebendig bringt die Auseinandersetzung und Interaktion Südostasiens mit K-Pop auch neue Soundmöglichkeiten mit sich, bei denen jedes Land der Region die nächste globale Popmusiksensation anführen kann.

Referenzen