Die Arbeit von Livemusik verstehen

„Liveness“ als Lebensgrundlage

Von Anjeline de Dios, 2021

Mit Verboten von Livemusik auf der ganzen Welt hat die Pandemie einen wesentlichen Motor für soziale Verbindungen und kulturelle Vitalität unterbunden. Im Fall von philippinischen Exil-Musiker*innen in Asien hat die Pandemie auch historische Herausforderungen bei der Wertschätzung von Livemusik als Form kultureller und migrantischer Arbeit offen gelegt.

Livemusik: prekär und persistent

Lange bevor Covid-19 Diskurse die existentielle Frage aufwarfen, welche Jobs systemrelevant oder unverzichtbar sind und welche nicht, verstand niemand den prekären Charakter von Musik als Arbeit besser als die Personen, die davon lebten. „Unterhaltung ist das erste, was verschwindet“, sinniert Iskandar, ein Agent für philippinische Livemusik-Künstler*innen, die in Hotellobbys und Lounges in ganz Asien auftreten. Als bekennender Musikliebhaber war er stolz darauf, sich für die außergewöhnlichen Talente, die er vertritt, einzusetzen, sie vor den Launen von Hotelmanager*innen zu schützen und angesichts der bürokratischen Hürden beim Verlassen der Philippinen als migrantische Arbeiter*innen zu unterstützen. Einige seiner Musiker*innen, berichtete er mir, arbeiten seit über zwei Jahrzehnten mit ihm. Gagen von internationalen Auftritten haben es ihnen ermöglicht Geldsendungen nach Hause zu tätigen, um ihre Kindern zur Schule schicken zu können, Krankenhausrechnungen zu bezahlen und Häuser für die Familie in den Philippinen zu bauen. Für Iskandar war seine Mission als Musikagent zweierlei: er musste wertvolle Talente in einem unnachgiebigen Markt unterstützen, und Kund*innen beibringen, dieses Talent wertzuschätzen.
 
Bis vor kurzem existierte diese Möglichkeit ein stabiles Einkommen durch Liveauftritte zu erwirtschaften paradoxerweise neben den allgemein vorhandenen Vorurteilen, dass Unterhaltung für Publikum und Veranstalter*innen gleichermaßen eine unnötige Ausgabe sei. Heute wirkt die Wiederaufnahme der Livemusik wie eine Fata Morgana, die nur eine geringe Chance hat, wieder zu existieren. Hier in Hongkong führte der doppelte Schlag mit den sozialen Protesten im Jahr 2019 und der Pandemie im Jahr 2020 dazu, dass Freizeit- und Kultureinrichtungen für längere Zeit geschlossen werden mussten. Musiker*innen in der Stadt sind seit über eineinhalb Jahren arbeitslos. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Impfstoffen werden Aufführungsorte wie Clubs, Hotels, Proberäume, KTV-Lounges und Konzertsäle zögerlich wieder geöffnet, unter Einhaltung der staatlichen Regulatorien zum Tragen von Masken, Testen des Personals und Social Distancing.
 
Vergangene Covid-Ausbrüche in Bars und Clubs haben die Rückkehr von Livemusik zu solchen Locations in Hongkong, die rechtlich als Gastronomiebetriebe und nicht als spezielle Räume für darstellende Künste (wie Theater und Konzertsäle) eingestuft werden, erschwert. Diese Unterscheidung hat eine problematische Doppelmoral zutage treten lassen: Während die Beschränkungen für Aufführungen in Konzertsälen und Gaststätten frühzeitig gelockert wurden, blieb der Bann von Livemusik über ein Jahr lang in Kraft und wurde erst nach unbeirrter Lobbyarbeit und Appellen von Musiker*innenorganisationen wieder aufgehoben. Und das, obwohl Studien belegen, dass das Infektionsrisiko beim Spielen von Blasinstrumenten oder beim Singen nicht anders oder sogar geringer ist als beim Sprechen und gemeinsamen Essen.
 
Angesichts dieser hartnäckigen Fehlwahrnehmung von Livemusiker*innen als „Superspreader“ haben sich interessante Umwege und Lösungen ergeben. Im Mai kehrte die philippinische Sängerin Jennifer Palor zu ihrem ersten Auftritt seit 15 Monaten in eine Livemusik-Lounge im von der Regierung verwalteten West Kowloon Cultural District zurück. Gemäß einer Sonderregelung für den Veranstaltungsort traten Palor und ihre Band erst auf, nachdem das Personal keine Bestellungen mehr entgegennahm und das Publikum dazu aufforderte, Speisen und Getränke nach draußen, außerhalb des Veranstaltungsortes, zu bringen. Die Logik war einfach, wenn auch unbeholfen: Reduzierung des vermeintlichen Übertragungsrisikos durch das Entfernen von Speisen und Getränken aus den Räumlichkeiten und Umwandlung des Innenraums in einen Veranstaltungsort für Aufführungen.

Auftritt von Jennifer Palor und The Urban Crew im Lau Bak Freespace Livehouse in Hong Kongs West Kowloon Cultural District, 15. Mai 2021. Auftritt von Jennifer Palor und The Urban Crew im Lau Bak Freespace Livehouse in Hong Kongs West Kowloon Cultural District, 15. Mai 2021. | Foto: Anjeline de Dios.

Die Musiker*innen spielten zwei Sets mit Soul- und Acid-Jazz-Hits hinter einer Bühnenabsperrung aus durchsichtigem Plastik, während das maskierte Publikum von kahlen Tischen aus zuhörten, oder von draußen aus, wo man auf einer grasbewachsenen Anhöhe stehen und Wein aus Takeaway-Bechern trinken konnte. Während des Soundchecks der Band brachen wir in unkontrollierbaren Applaus aus. Palor entschuldigte sich sichtlich verlegen: „Das ist unser erster Auftritt seit mehr als einem Jahr, wir sind ein bisschen eingerostet.“ Nach dem Auftritt sprach sie mit mir darüber, wie seltsam es sich anfühlte, etwas zu tun, das ihr einst so selbstverständlich erschien. „Während der Proben waren wir schockiert darüber, wie schwierig es war, sich wieder einzugrooven“, sagte sie. „Ich war so außer Atem und meine Stimme fühlte sich so schwach an.“
 
Als eine der Zuhörerinnen des Abends allerdings konnte ich in dem Moment nichts außer Perfektion hören: ein Drink in der Hand, ein guter Freund im Schlepptau und Palors geschliffenes, sinnliches Alt, das vertrauten Liedern Leben einhaucht und die Gegenwart mit unerwarteten Erinnerungen durchsetzt.
 
Palors rührende Rückkehr auf die Bühne spricht Bände über die ungewisse Zukunft der Livemusikszene in Hongkong, die seit Jahrhunderten die klangliche Manifestation des ungeniert kapitalistischen und freizügigen kosmopolitischen Geistes der Stadt ist. Wie in anderen Städten arbeiten die meisten Musiker*innen im Livesektor als unabhängige Auftragnehmer*innen und haben keinen Anspruch auf die finanzielle Unterstützung der Regierung, die für darstellende Künstler*innen in kulturellen Einrichtungen vorgesehen ist. Außerdem sind die meisten Livemusiker*innen Ausländer*innen, die nicht kantonesisch sprechen, ein großer Teil davon sind Migrant*innen aus den Philippinen.
 
Wie Iskandar anmerkte, haben Livemusiker*innen im Laufe der Jahrhunderte allerlei existenzielle Bedrohungen ihres Lebensunterhalts überstanden, sei es durch die Launen von Veranstalter*innen und Trends auf dem Markt oder durch die Veränderungen in der Audiotechnik, die Formen von Livemusik überflüssig machten. Die Begleitung von Stummfilmen und Radiosendungen mit Livemusik wurde durch die Einführung des Tonfilms und der Schallplatte Mitte des 20. Jahrhunderts ausgelöscht, was zu Protesten der Gewerkschaften arbeitsloser Musiker*innen führte. In den letzten Jahrzehnten wurde die Nachfrage nach Big Bands durch die Popularisierung von Plattenspielern und MIDI-Sequenzern zerstört. Letzteres war einer der Hauptgründe für die plötzliche Arbeitslosigkeit philippinischer Bands im Hongkong der 1970er Jahre, als die Tanzflächen mit den Klängen von Disco-Platten gefüllt wurden, anstatt dass die „Combo“-Gruppen live spielten.
 
Doch so wie die Beschäftigungsbedingungen für die Arbeit im Livemusik-Bereich über Jahrhunderte hinweg prekär geblieben sind, so haben auch ihre Anziehungskraft als Beruf und ihr Wert nicht nachgelassen. Es liegt auf der Hand, dass das Publikum in der Livemusik eine Energie erlebt, die von günstigeren und automatisierten Formen der Klang- und Musikwiedergabe nicht nachgebildet werden kann, und dass live zu spielen eine besondere Bedeutung für Musiker*innen hat, die nicht nur eine finanzielle Vergütung, sondern auch Erfüllung suchen. Dies hat alles mit der besonderen Eigenschaft von „Liveness“ selbst zu tun, die wie sie ist an einem bestimmten Ort eingebettet ist und eine bestimmte Funktion erfüllt. Aber warum bleibt sie trotz ihres wesentlichen Wertes so prekär und ungewürdigt?
 

Als Filipinx singen

In keinem Bereich wird der widersprüchliche Charakter von musikalischer Liveness – ihre Herabsetzung als eine Art Lebensgrundlage und ihre Bedeutung in urbaner Kultur – deutlicher als in der Figur migrierender philippinischer Musiker*innen. Obwohl es schwierig ist, Daten über die genauen Bevölkerungszahlen zu finden, gibt es deutliche Hinweise in den , dass philippinische Musiker*innen mindestens seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert für Zuschauer*innen in ganz Asien und dem Rest der Welt sangen und sie unterhielten.

Eine philippinische Jazzband spielt für Tänzer*innen im Imperial Hotel in Tokio, 1924. Bild mit freundlicher Genehmigung von Fritz Schenker. Eine philippinische Jazzband spielt für Tänzer*innen im Imperial Hotel in Tokio, 1924. Bild mit freundlicher Genehmigung von Fritz Schenker. | Foto: Anjeline de Dios.

Die philippinischen Entertainer*innen von heute stehen in der Tradition der Viajeros oder Gastmusiker*innen des 19. und 20. Jahrhunderts, die im sich rasch modernisierenden und urbanisierenden Asien eine breite Palette europäischer und amerikanischer Musikgenres aufführten. Auf ihren Reisen von Indien nach China und quer durch Südostasien traten sie in Ballsälen, Theatern und Kirchen, an Konservatorien und Königshöfen, auf Kreuzfahrtschiffen, in Kirchen und bei Paraden auf. Sie füllten die Reihen in Militärkapellen, Orchestern und tourenden multiethnischen Ensembles und arbeiteten hinter den Kulissen als Pädagog*innen, Musikarrangeur*innen und Komponist*innen.
 
Diese lange und tiefgehende Geschichte bedeutet, dass philippinische Musiker*innen eher für eine Art von musikalischer „Arbeit“ – die Livedarbietung populärer Musik – bekannt sind, im Gegensatz zu anderen nicht-westlichen Musiker*innen, deren Identitäten an die ästhetischen „Genre“ gebunden sind, die als kulturell authentisch wahrgenommen werden. Postkoloniale Ästhet*innen wie der britische Essayist Pico Iyer sind davon irritiert. Trauernd schrieb er in seinem 1989 erschienen Buch Video Night in Kathmandu über philippinische Barmusiker*innen: „Fast jede*r trat auf um eine fehlerfreie Imitation irgendeines amerikanischen Hits zu darzubieten. Ich empfand diese Entwicklung hin zu musikalischen Mannequins als seltsam, besonders in einem Land, das verständlicherweise seine musikalische Begabung als eine wichtige Quelle des Nationalstolzes betrachtete. Ich kann sicherlich verstehen, dass die Gabe philippinischer Künstler*innen, die Stimmen ihrer Meister*innen bis ins kleinste Detail imitieren zu können, sie zu den musikalischen Stars Asiens gemacht hat. Aber als eine Form von persönlichem Ausdruck deprimierte mich diese unheimliche Bauchrednerei.“
 
Iyers Melancholie hält problematische Annahmen über einen „ursprünglichen“ Ausdruck als einzig gültiges Ziel von Arbeit in der Musik aufrecht. Es baut Druck auf nicht-westliche Musiker*innen auf, eine leicht romantisierte Authentizität darzustellen. Aber philippinische Livemusiker*innen als „musikalische Schaufensterpuppen“ zu verurteilen ignoriert wirtschaftliche, soziale, politische und ja, auch kreative Aspekte des Daseins als postkoloniale Künstler*in – und reduziert den Akt der Liveperformance auf das Nachweisen des eigenen musikalischen Wertes entsprechend einer engen (und elitären) Ansammlung künstlerischer und kultureller Werte.
 
Ein anderer globaler Flaneur hat eine fairere und präzisere Sichtweise. Wie Iyer war auch Anthony Bourdain von den philippinischen Livemusiker*innen beeindruckt, die in fast jeder asiatischen Stadt, die er besuchte, allgegenwärtig und in der Bandbreite ihres Könnens flexibel waren. In einem Essay aus dem Jahr 2017 schrieb der 2018 verstorbene Koch und Autor: „In Hotelbars in Chiang Mai, in Lobbys in Singapur, in Cocktail-Lounges in Colombo und Kuala Lumpur und Hongkong; wo auch immer ich hinkomme, finde ich eine philippinische Coverband, die auf Anfrage in der Lage ist, 'Dark Side of the Moon' exakt nachzuspielen, bevor sie zu Happy Birthday (auf Englisch, Deutsch oder Kantonesisch), Patsy Cline, Celine Dion und schließlich zu ‚Welcome to the Jungle‘ übergehen. Ich musste mehr wissen. Woher kamen sie alle?“
 
Bourdain flog nach Manila um es herauszufinden und widmete eine Folge seiner Reise- und Kulinarikshow Parts Unknown der Küche und der städtischen Kultur der Philippinen. Er sah die Livemusiker*innen dort nicht als Inbegriff eines seelenlosen Mangels an Originalität, sondern als Inbegriff der verbreiteten Realität der Arbeitsmigration des Landes: der Export von Hilfsarbeiter*innen und Haushälter*innen, Krankenpfleger*innen und anderen Arbeiter*innen im Dienstleistungssektors, um einerseits den weltweiten Bedarf an Pflege zu decken und andererseits den nationalen Bedarf an Auslandsüberweisungen. Im Gegensatz zu Iyer schien er zu verstehen, dass jenseits der Frage, ob Filipinos ihre musikalischen Talente als Covermusiker*innen verschwenden, tiefere Fragen liegen, was diese Talente tatsächlich erschaffen und wie sie als Teil einer größeren Ökonomie migrantischer Arbeit verstanden werden können. Diese Fähigkeit stellte die Musiker*innen, seinem Gehör nach, auf eine Stufe mit den Urheber*innen der Stücke, die sie coverten.
 


Wie auch Bourdain hörte ich in Livemusik etwas, das Bände darüber sprach, was es bedeutet, philippinisch zu sein; eine grundlegende nationale Identität, die mit den verborgenen Geschichten von Kolonialismus und Globalisierung auf eine Weise umgeht, die komplexer ist als Iyers nostalgischer Exotismus. Um zu verstehen, wie es sich anfühlt, seinen Lebensunterhalt mit Livemusik zu verdienen – und aus welchen Gründen Filipinos über die Jahrhunderte hinweg die „idealen“ Musik-Arbeiter*innen für diesen Job geblieben sind –, habe ich fast 70 philippinische Musiker*innen und Agent*innen interviewt, die im Ausland in Hotels, auf Kreuzfahrtschiffen, in Bars und Themenparks in Hongkong, Macao, Singapur und Malaysia arbeiten. Ich habe auch mit Musiker*innen und Agent*innen in Manila und Cebu gesprochen, um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie unterschiedliche Standorte (im Ausland und zu Hause) ein und denselben Job (Livemusik zu spielen) spürbar prägen. Ihre Geschichten zeigen, dass die Besonderheit und Prekarität der Arbeit als Livemusiker*in auf zwei grundlegende Faktoren zurückzuführen ist, die von Außenstehenden oft missverstanden werden: die Eigenschaften von Livemusik als Dienstleistung und das transnationale Profil der Beschäftigten.

 

Entertainment zu Ihren Diensten

Livemusik ist Entertainment, ist Unterhaltung. Diese Definition wirkt unnötig offensichtlich, aber sie ist zentral dafür, ihren Unterschied zu anderen Musikgenres und Ökonomien, die angeblich von der gleichen Sache zu handeln scheinen, zu verstehen. Auftreten zu Unterhaltungszwecken ist eine besondere Form ästhetischer Arbeit, die darauf abzielt, eine soziale Erfahrung von Spaß und Freizeit zu schaffen. Mit anderen Worten, es ist Unterhaltung, Livemusik ist eine Dienstleistung.
 
Im Gegensatz zu (meist elitären) Darbietungsformen, bei denen künstlerische Subjektivität im Vordergrund steht, rückt Entertainment das Erleben des Publikums in den Mittelpunkt – ganz so, als würden freundliche Gastgeber*innen ihr Haus für Besucher*innen öffnen und in jedem Moment ihres Aufenthalts geschickt auf deren Vorlieben eingehen. Welche Art von Songs könnten diese Gäste wohl mögen? In welcher Stimmung scheinen sie zu sein? Welche Stimmung passt gut zu diesem bestimmten Moment und dieser Atmosphäre, zu dieser Zeit des Abends, der Woche oder des Jahres?

Liveperformer*innen in Hotels, Kneipen und Partys durchleuchten kontinuierlich den Raum hinsichtlich  Antworten auf diese Fragen und lesen Hinweise während sie noch performen. Entscheidend ist, dass sie sich auf Zuhörer*innen einstellen, die vielleicht zunächst gar nicht wegen ihnen da sind, aber vielleicht durch sie zum Bleiben (und Zahlen) überredet werden. „Wir haben kein designiertes Publikum, aber es hören immer Leute zu! Sei es die Bedienung, Manager*in oder die Gäste selbst“, berichtet Solana*, eine Hotelsängerin in Macau.

Im Gegensatz zu Künstler*innen, die aufgrund ihrer Berühmtheit (z. B. Popstars) oder dem Wert ihres Repertoires (z. B. Interpreten traditioneller oder klassischer Musik) im Mittelpunkt von Konzerten stehen, sind Livemusiker*innen an Orten der Freizeitgestaltung nicht die Hauptattraktion. Doch die Aufgabe, musikalische Untermalung beizusteuern, erfordert ebenso viel Präzision wie die aktive Darbietung „für“ die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft.

Ein philippinisches Gitarrentrio performt in der Lobby eines Kreuzfahrtschiffs, das von Penang, Malaysia, nach Phuket, Thailand, fährt, 2013. Ein philippinisches Gitarrentrio performt in der Lobby eines Kreuzfahrtschiffs, das von Penang, Malaysia, nach Phuket, Thailand, fährt, 2013. | Foto: Anjeline de Dios.

„Stell dir vor, du bist ein Geschäftsmann, der in eine Bar geht um sich nach einem langen Tag auf der Arbeit zu entspannen“, sagt Fernan, ein Hotelpianist und Gitarrist in Singapur. „Und wenn du dann da bist, hörst du falsche Töne und sowas. Wird dich das nicht noch mehr stressen?“

Freizeiteinrichtungen wie Hotels und Clubs müssen nicht nur die Vorlieben eines möglichst breiten Spektrums an Gästen voraussehen, sondern auch zuverlässig die am meisten akzeptierten, oder am wenigsten als beleidigend wahrgenommenen, Versionen beliebter Songs produzieren – daher liegt der Schwerpunkt auf der Treue zu den aufgenommenen Originalen und nicht auf den kreativen Launen der Interpret*innen.

Die technische Herausforderung, populäre Musik zu reproduzieren, steht nicht im Widerspruch zu der Forderung nach künstlerischer Authentizität, sondern verschiebt deren Form – von kulturell und ästhetisch zu emotional und körperlich. Beim Besuch einer Hotellounge im malaysischen Penang traf ich Drew und Monica*, ein philippinisches Akustikduo, das den Glanz seines Auftritts auf der Bühne durch Wärme und Großzügigkeit abseits der musikalischen Darbietung steigerte. Monica winkte mir von der Bühne aus zu, sobald ich den Veranstaltungsort betrat, und kam zwischen den Sets auf mich zu, um Hallo zu sagen und sich vorzustellen. Einmal hob sie ihr Weinglas, um einen Toast auszusprechen: Einer ihrer Stammgäste hatte seine ältere Mutter mitgebracht, die ihren 75. Geburtstag feierte. Gerührt, dass ich bis zum Ende ihres letzten Sets um ein Uhr morgens geblieben war, luden sie mich nach der Vorstellung zum Essen ein. Monica lachte, als ich ihren Geburtstags-Trinkspruch erwähnte: „Ja, ich versuche, mit allen Zuhörer*innen ins Gespräch zu kommen. Nur um ihnen das Gefühl zu geben: ‚Hey, die Sängerin erinnert sich an mich‘.“

Drew stimmte zu: „Es macht einen großen Unterschied, weil die Verbindung da ist. Du magst die Band und die Band mag dich. So ist es einfacher für die Gäste, das nächste Mal ihre Freund*innen mitzubringen.“

Livemusik als Dienstleistung umfasst also mehrere Ebenen des Hörens, die sich alle zu einer immateriellen, aber instinktiven Erfahrung der Verbindung zusammensetzen. Da ist zum einen das mimetische Zuhören, das erforderlich ist, um originalgetreue Versionen populärer Songs souverän und in Aufnahmequalität wiederzugeben, in der Hoffnung, dass sie eine Erinnerung wachrufen oder die Fantasie anregen. Dann gibt es das einfühlende Zuhören, das erforderlich ist, um ein Repertoire zusammenzustellen, das dem Temperament des Publikums und dem Augenblick selbst entspricht. Es gibt auch das aufmerksame Zuhören, welches in Gesprächen mit Gästen am Rand der Bühne eingesetzt wird – ganz zu schweigen vom intuitiven Zuhören, das erforderlich ist, um mit seinen Bandkolleg*innen auf der Bühne synchron zu spielen, insbesondere wenn man einen Songwunsch improvisiert, auf den sich niemand vorbereitet hat (ein häufiges Szenario). Auch wenn es albern erscheint, kann die emotionale Kraft von Livemusik über die Beliebtheit eines Veranstaltungsortes entscheiden. Und sie erfordert nichts Geringeres als die Fähigkeit, dem Publikum das Gefühl zu geben, etwas Besonderes und willkommen zu sein: Kund*innen zu Gästen zu machen, Fremden das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein.
 
So gesehen ähnelt Livemusik zu Unterhaltungszwecken sehr stark Jobs wie Kinderbetreuung, in Callcentern und im Tourismussektor. Doch im Gegensatz zu diesen Berufen müssen Musiker*innen ihre Emotionen steuern, indem sie sie in die ausdrucksstarke und technische Tätigkeit des Musizierens leiten. Sie müssen das Lied fühlen, egal, wie sie sich innerlich fühlen.

„Deine Persönlichkeit zeigt sich in der Art, wie du spielst“, erzählte mir Brian, ein Performer in einem Freizeitpark. „Wenn du glücklich bist, klingt deine Musik glücklich. Wenn du wütend bist, ‚spielst‘ du wütend!“

Wahre Entertainer*innen lassen harte Arbeit nach Spaß aussehen – so sehr, dass sie selbst vielleicht Spaß empfinden. Obwohl die Vorlieben des Publikums und der Veranstalter*innen Vorrang haben, waren sich alle Musiker*innen, die ich interviewte, einig, dass nur „wahre“ Musiker*innen, die wissen, wie man „vom Herzen spielt“ – die Musik und das Zusammenspiel mit Kolleg*innen mit ihren individuellen Erfahrungen von Affekt und Performance verbindend – wirkliche Entertainer*innen sein können.

„Deswegen sagen wir Musik ‚spielen‘ und nicht ‚arbeiten‘“, sagt Palor. „Bei Musik kann man nicht täuschen. Es bedeutet bei jedem Auftritt seine Seele zu offenbaren, zu versuchen, etwas magisches zu erschaffen, Energie mit den Mitmusiker*innen auszutauschen und (manchmal!) sich auch mit seiner Zuhörerschaft zu verbinden.“
 

Günstige, qualitativ hochwertige Talente

Diese Transparenz der Gefühle verkompliziert die Arbeitsbedingungen in der Livemusikbranche. Die Erfordernis emotionaler Glaubwürdigkeit sowie die Möglichkeit, echte Freude zu empfinden, können die hartnäckigen beruflichen Schwierigkeiten von Freiberufler*innen verschleiern, die wenig Verhandlungsmacht über ihre Gehälter und Arbeitsbedingungen haben. Livemusiker*innen in Hongkong und anderen Städten sind in der Regel Ausländer*innen, was vielleicht auf die internationale Kundschaft an ihren Arbeitsplätzen, das Vorherrschen englischsprachiger Lieder in ihrem Repertoire und die kurze Dauer ihrer Verträge zurückzuführen ist. Vor der Pandemie hätten sie ihren Lebensunterhalt durch flexible Migrationsrouten sichern können: ein sechsmonatiger Vertrag in einer Stadt, gefolgt von einem Aufenthalt an einem anderen Ort. Aus Gründen der Notwendigkeit und der Attraktivität entsprechen philippinische Musiker*innen dem Idealbild der Livemusik-Entertainer*innen: Sie sprechen fließend Englisch und sind schillernd, flexibel in ihrer musikalischen Variationsbreite; außerdem besitzen sie angeblich schon „kulturell“ emotionale Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen und Enthusiasmus, die für die Dienstleistungsbranche und Carearbeit so zentral sind. Tatsächlich werden diese „natürlichen“ oder rassifizierten Fähigkeiten des „Philippinischseins“ aktiv vom Markt und Institutionen geformt, von einzelnen Akteur*innen bis hin zur philippinischen Regierung selbst, die als massiver Vermittlungsstaat fungiert, der philippinische Bürger für Jobs ins Ausland exportiert.
 
Weil Livemusik auf einem breiten Repertoire westlicher, insbesondere anglophoner Popmusik basiert, sind die philippinischen Musiker*innen, mit denen ich sprach, besonders sensibel was die Nachfrage nach emotionaler, ästhetischer und funktionaler Flexibilität angeht. Nicht-westliche Künstler*innen, die sich in internationalen Räumen bewegen, tragen die repräsentative Last, kulturell, und sogar rassifiziert authentisch zu sein. Nichts rüttelt an dieser Erwartung mehr als das Antlitz und der Sound eines dunkelhäutigen Filipino, der mühelos amerikanische Hits schmettert. Iyers Urteil, dass philippinische Livemusiker*innen „Schaufensterpuppen“ seien, die auf irgendeine Weise ihren weißen oder Schwarzen Kolleg*innen unterlegen seien (unabhängig von ihren tatsächlichen Fähigkeiten), ist eine weit verbreitete Meinung unter Arbeitgeber*innen in Hongkong und anderen Reisezielen, die auf dieser Basis philippinische Musiker*innen ausbeuten.

Dieser strukturellen Diskriminierung und der strukturellen Unsicherheit des Livemusiksektors schmerzlich bewusst, verlangen philippinische Musiker*innen oft geringere Löhne als ihre Kolleg*innen anderer Nationalitäten, oder nehmen es hin. „Hinsichtlich der Nachfrage sind Filipinos billig“, erklärt mir Fernan, „verglichen mit Südafrikaner*innen, Amerikaner*innen, Malaysier*innen, Thai oder Musiker*innen aus Hongkong – die gehen auch alle ins Ausland. Und philippinische Musiker*innen sind die günstigsten, ‚aber‘ besser als die meisten anderen. Günstige und qualitativ hochwertige Talente. Sehen Sie, so werden Filipinos ‚gebranded‘. Das ist alles, was wir haben.“
 

Systemrelevante Arbeit

Darin liegt das Paradox von Livemusik: es ist hochqualifizierte Arbeit unter Bedingungen der Ungleichheit und Unsicherheit, wie sie in den Niedriglohnjobs von Migrant*innen normalisiert sind. Solange Arbeitgeber*innen, das Publikum und Ökonomien weiterhin die Würde von Livemusik als Arbeit ignorieren und falsch verstehen, wird sie weiter von tiefliegenden Strukturen rassistischer und kultureller Ungleichheit geformt sein.

Die Pandemie hat noch nie dagewesene Schäden verursacht, dessen Ausmaß hart zu kalkulieren ist. In Hongkong sind Hunderte migrantische philippinische Musiker*innen seit über anderthalb Jahren arbeitslos, und es ist ihnen damit nicht möglich, ihre Rolle als die Hauptverdiener*innen für ihre Familien zu erfüllen. Wie bei anderen künstlerischen Communities anderswo auch, haben sich die Musiker*innen gegenseitig umeinander gekümmert und Sammelaktionen für Essen und Care-Netzwerke organisiert, die den glückloseren Mitglieder ihrer Gemeinschaft direkte Unterstützung zuteil werden ließ. Falls wir jedoch auf eine vollständige Erholung hoffen wollen, muss mehr Hilfe kommen – und es muss größerer Wandel stattfinden.

Seit Jahrhunderten verlassen wir uns auf Livemusik, um Leben, Energie und ein Gefühl von Heimat in Städte zu bringen. Jetzt, da einige Teile der Welt aus dem von der Pandemie erzwungenen Schweigen erwachen, ist es höchste Zeit, dass die Arbeit im Livesektor – als Kunst, Dienstleistung und Form von Care – neu und anders wahrgenommen wird. Anders gesagt, war es schon immer an der Zeit, Livemusik als lebensnotwendige und lebensspendende Arbeit zu verstehen.


* Die in diesem Artikel verwendeten Namen wurden geändert, um die Identität der Personen zu schützen.