Algerien

Sep. 2018

Migration  3 min Hassina, 60 Jahre, Fayçal, 9 Jahre

Eine ältere Frau, Hassina, mit ihrem Sohn Fayçal im Arm, auf dem Balkon mit Blick auf die Bucht von Algiers
Hassina und Fayçal auf ihrem Balkon, gegenüber der Bucht von Algier ©Goethe-Institut/Leïla Saadna
Mein Vater war Diplomat. Meine Kindheit habe ich in verschiedenen Ländern verbracht, aber wir sind oft hierher zurückgekehrt. Meine Eltern waren für die FLN politisch aktiv, haben also eine tiefe Bindung zu Algerien, dem Land, von dem mein Vater geträumt hat, ein blockfreier, afrikanischer und sozialistischer Staat. Er war stark mit Fanon verbunden und hat Algerien in Guinea vertreten. Wir sind mit diesem schönen Algerien, voller Solidarität und Offenheit gegenüber den anderen kämpfenden Völkern aufgewachsen. Sobald ich mein Abitur in der Tasche hatte, wollte ich also zurückkehren. Das war auch die Zeit der Agrarrevolution. Meine Freunde erzählten mir: „Wir erschaffen ein neues Algerien, beispielhaft für die Welt, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.“
 
Ich habe in Algerien studiert und dort angefangen zu arbeiten, aber es war ernüchternd. Du hast Arbeit, ein Gehalt, aber ohne wirkliche Verantwortung, vor allem wenn du eine junge Frau bist. Ich begann auch Zweifel in Hinblick auf die Gesellschaft zu entwickeln. Eine privilegierte Schicht hatte sich herausgebildet und es wurden nicht die Bedürfnisse aller berücksichtigt.

Trotzdem lebte ich hier, ich hatte nicht vor zu gehen. 1989 kehrte ich jedoch nach Frankreich zurück, um meinen Doktor zu machen und zu dem Mann zu ziehen, den ich liebte. Für mich war das jedoch nicht endgültig.
 
Ich bin 20 Jahre in Frankreich geblieben. Ich musste mich an diese Gesellschaft, die das Individuum und nicht die Gemeinschaft hochhält, erst gewöhnen. Auf beruflicher Ebene hat mir das den Aufstieg verschafft. Obwohl ich jung war, gab man mir eine Chance und ich konnte wirklich arbeiten. Ich begann bei Amnesty International France zum Thema Menschenrechte tätig zu werden und fand die internationale Solidarität wieder, die mich in meiner Kindheit so stark beeindruckt hatte. Aber in Frankreich zu leben, in dieser liberalen Individualgesellschaft, die auf Konsum basiert, entsprach mir nicht. Amnesty hatte eine Stelle in Algerien zu vergeben. Ich wollte auch in mein familiäres Umfeld zurück. Also bin ich nach Algerien zurückgekehrt.
 
Dank der engagierten Mitarbeit junger Menschen habe ich die algerische Zweigstelle von Amnesty wiederaufbauen können; eine sehr vielfältige Arbeit, so viel war zu tun. Ich habe die Energie dieser jungen Leute kennengelernt, die sich in mehreren Bereichen für Menschenrechte engagieren, mit wenigen Mitteln und viel Kreativität, in einer Gesellschaft in der Krise. Leider hält der Staat nicht Schritt.
 
Ich hatte schon lange Zeit vorgehabt, ein Kind zu adoptieren. In einer Kinderkrippe in der Nähe von Algier traf ich auf meinen zukünftigen Sohn, Fayçal. Er war bereits drei Jahre alt. „Wir schaffen es nicht ihn zu vermitteln“, hieß es, „wegen seiner Hautfarbe.“ Ich war wirklich schockiert. Die behördlichen Formalitäten haben viel Zeit in Anspruch genommen, aber am Ende konnte ich ihn adoptieren.
 
Von da an war ich mit der Frage der Hautfarbe in Algerien konfrontiert. Zunächst kam Fayçal schlecht damit zurecht, schwarz zu sein. Mit einem Blick wusste er, ob eine Person schwarz war oder nicht. Mein Mann ist aus Guadeloupe, also war es für Fayçal eindeutig, dass sein Vater schwarz ist. Und anfangs dachte er, dass dies nicht schön sei. Dann hat er mich eines Tages gefragt: „Du liebst mich also, auch wenn ich ein Kahlouch bin?“
 
Die Blicke der Leute in den Straßen sind belastend. Viele halten uns für Ausländer, manchmal sprechen sie Englisch mit uns. Sie sind irritiert, wenn Fayçal Arabisch mit Dialekt spricht, sie können nicht glauben, dass er algerisch ist.
 
Wie in der Krippe war er auch später überall oft das einzige schwarze Kind. Einmal ist er in einem Geschäft einem anderen schwarzen Jungen in die Arme gefallen. Sie hielten sich wie Freunde umklammert, obwohl sie sich nicht einmal kannten!
 
Eines Tages hat ihn ein Kind auf der Straße gestoßen und zu ihm gesagt: „Kahlouch!“ Die Mutter sagte beschämt: „Machi Kahlouch, houwa marron (Er ist nicht schwarz, er ist braun!)“, ich habe ihr geantwortet, dass er schwarz ist und Punkt.
 
Kinder beleidigen sich schnell mal, aber „Kahlouch“ zu ihm zu sagen, habe ich ihm erklärt, das ist rassistisch! Also haben wir versucht, das Schwarzsein wertzuschätzen. Obama hat uns sehr geholfen! Wir sind auch nach Frankreich und Barbès gefahren, es war das erste Mal, dass er so viele Schwarzafrikaner sah. Jetzt fühlt er sich weniger in der Minderheit. Und in seiner neuen Schule sind drei Kinder Afroamerikaner.
 
Auf der Straße sah ich vor kurzem, wie Migranten panisch mit ihren Kindern wegrannten; Polizeiauto kamen angefahren und sie hatten Angst, mitgenommen zu werden. Fayçal war gerade zum Sport gegangen und plötzlich hatte ich Angst, dass man ihn festnehmen könnte. Als ich ihnen abholen gegangen bin, war ich so glücklich, sein Gesicht zu sehen! Jetzt lasse ich ihn allein gehen, aber ich schärfe ihm ein, dass er sagen soll, dass er algerisch ist, dass seine Mama bei Amnesty arbeitet, und ich lasse ihn unsere Adresse aufsagen.
 
Wenn du mich vor 15 Jahren gefragt hättest, ob es in Algerien Rassismus gibt, hätte ich mit Nein geantwortet. Ich habe es verdrängt, wie viele Algerier. Wenn ich heute den Rassismus in Algerien anprangere, schockiert das viele, aber zumindest entsteht eine Diskussion. Manche Algerier fangen an, offen zu ihrer Afrikanität zu stehen. Die algerischen Schwarzen sind in der Gesellschaft unterrepräsentiert und einen Schwarzen zu heiraten ist immer noch ein Tabubruch. Manchmal werde ich gefragt, aus welchem afrikanischen Land Fayçal kommt. Na, Algerien! Das ist ein afrikanisches Land!
 
Das panafrikanische Algerien, in dem ich aufgewachsen bin, ist das Algerien, das mein Vater sich erträumt und an mich weitergegeben hat und für das wir weiterhin kämpfen müssen.  

Fotografin Leïla Saadna

Leïla Saadna produziert Dokumentarfilme und visuelle Kunst. Sie lebt und arbeitet seit zwei Jahren in Algier. Nach dem Studium der Bildenden Künste in Paris hat sich Saadna filmischen und künstlerischen Dokumentarprojekten zugewandt, die engagiert und poetisch sind. Die Themen ihrer Arbeit und Recherchen sind postkoloniale Migrationsgeschichten, Aussagen und Kämpfe von Personen, die von Formen der merkmalübergreifenden Unterdrückung betroffen sind, wie Rassismus und Sexismus; und insbesondere die Erlebnisse von Frauen im postkolonialen Kontext.