Meine Mutter war eine der ersten Frauen ihres Dorfes, die ausgewandert ist, übers Meer, dem Zufall entgegen, weil sie hier niemanden hatte. Vorher waren es nur Männer, die auswanderten. Sie hat den Weg für etwas Neues geebnet. Nach ihr sind viele weitere Frauen gegangen. Es erforderte viel Mut, um sich das zu trauen. Es war schwierig und wurde nicht gern gesehen, wenn eine Frau das Dorf verließ, das eine enge Gemeinschaft bildete. Auch meine Tanten sind fortgegangen, die eine in die tschechische Republik, andere sind zum Studium in die Hauptstadt. Man kann die Geschichte meiner Migration also auf mehreren Ebenen betrachten: von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, auch vom Dorf in die Stadt. Es ist eine Frauengeschichte.
Meine Mutter war 40, als sie fortgegangen ist, ich selbst war eine Jugendliche. Die Ausbildung war für sie das oberste Ziel, wir waren nicht gekommen, um Däumchen zu drehen und mussten in der Schule wirklich Erfolg haben. Die Entschlossenheit, die die Erstankömmlinge in einer unbekannten Gesellschaft ausmacht, hat mich bis an die Universität begleitet. Dank ihr habe ich es geschafft, mich dem Rassismus zu stellen, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte, die Meinesgleichen aber oft traf. In meinem Masterstudiengang waren wir zwei, die immigriert waren. Da habe ich begriffen, dass ich Teil einer kollektiven Geschichte des Kampfes bin, der einem kolonialen Verhältnis eingeschrieben ist und Generationen vor meiner begann. Von maghrebinischen Arbeitern, die sich in Gewerkschaften zusammenschlossen, oder mit Auseinandersetzungen in den Arbeitervierteln, denn es ist schwierig, in einem Frankreich zu leben, das rassistische Anti-Migrations-Gesetze erlässt.
Ich war auch überzeugte Feministin. Meine Mutter und meine Tanten haben mir beigebracht, was es bedeutet, als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu leben, wie man sich durchsetzt, Solidarität unter Frauen schafft, sich wertschätzt, sich selbst finanziert. Meine Mutter war sehr feministisch, sowohl in Frankreich als auch in Algerien. Sie hat als Frau das Leben geführt, das sie immer wollte, niemand störte sie. In Frankreich lebten wir zu dritt, sie führte einen kleinen Zeitungskiosk und war unabhängig, entschied über ihr Geld, und niemand mischte sich in ihr Leben ein. Sie forderte das Recht ein, als alleinstehende und alleinerziehende Frau zu leben und respektiert zu werden, und das war schwierig. Sie war tief in ihrer amazighischen Kultur verwurzelt, das Funktionieren der ländlichen Gesellschaft war der Grund, warum sie gegangen ist. Sie wollte sich in einer anonymeren Umgebung ausleben, die Stadt kennenlernen, wo ihr Schicksal nicht zwangsläufig mit dem der Gemeinschaft zusammenhing. Mit 40 Jahren fragte sie sich: „Was habe ich meinen Töchtern eigentlich zu bieten? Ich will, dass sie die Freiheit haben, zu tun und zu sein, was sie möchten.“ Am Ende bin ich es nun, die die Gemeinschaft sucht.
Wenn ich nach Algerien komme, versuche ich auf bescheidene Art, das Werk meiner Mutter fortzuführen, die sich immer um ihre Mutter und ihre Schwester gesorgt hat, um ihre kleine Gemeinschaft, die sich durch ihre Sprache und die amazighische Kultur geweitet hat. Ich habe verschiedene Wege, das symbolische und ökonomische Kapital, dass ich vor allem in Frankreich erhalten habe, meiner Gemeinschaft zurückzugeben. Und ich habe das Gefühl, Teil mehrerer Gemeinschaften zu sein. Der Feminismus ist meine Basis, ich gehöre also der Gemeinschaft der Frauen an, ich bin Algerierin, komme aus einem eher bescheidenen Milieu. Das alles sind Gemeinschaften, denen ich angehöre. Wichtig ist für mich, meinen Lebensweg sichtbar zu machen, in die Welt hinauszuschreien, dass wir existieren, dass wir kämpfen, hier und dort, denn die Frauen, die hier kämpfen, sind die gleichen, die in Frankreich kämpfen. Ich gehöre auch zu einer Gemeinschaft von Einheimischen, denn ich entstamme einer Kolonialgeschichte und ich lebe in Frankreich, ein Land, das einen großen Teil der Welt kolonialisiert hat. Ich muss mit all diesen Geschichten leben. Entschlossenheit ist wichtig, um ein würdiges Leben zu leben und meiner Gemeinschaft begreiflich zu machen, dass wir das Recht haben zu existieren und dasselbe zu beanspruchen wie die anderen. Kämpfe mit dem Herzen zu führen, die "niya", wie man im Arabischen sagt, das ist der Schatz, den mir meine Mutter vererbt hat.
Fotografin Leïla Saadna
Leïla Saadna produziert Dokumentarfilme und visuelle Kunst. Sie lebt und arbeitet seit zwei Jahren in Algier. Nach dem Studium der Bildenden Künste in Paris hat sich Saadna filmischen und künstlerischen Dokumentarprojekten zugewandt, die engagiert und poetisch sind. Die Themen ihrer Arbeit und Recherchen sind postkoloniale Migrationsgeschichten, Aussagen und Kämpfe von Personen, die von Formen der merkmalübergreifenden Unterdrückung betroffen sind, wie Rassismus und Sexismus; und insbesondere die Erlebnisse von Frauen im postkolonialen Kontext.
September 2018