Chronik
Eine Linie ist ein Punkt, den man spazierenführt
Besessenheit lässt uns innehalten in ein und demselben Moment. Es herrscht eine Stille, die zum Verzweifeln ist. Die Rückkehr der Vergangenheit in Endlosschleife.
Ich stehe am Anfangspunkt einer Geschichte, der zugleich Endpunkt ist und an dem ich seit zwanzig Jahren feststecke. Ich habe wiederkehrende Träume, die zugleich verschlüsselte Botschaften sind, das Schreiben hat die Funktion von Kennwörtern, die ich vergessen habe.
Meine Kunstlehrerin sagt, sie habe ein Jahr lang ein Fenster gemalt. Sie sollte die Seele aus ihm herausmalen. Ein ums andere Mal derselbe Ausblick, nur anders. Ein ums andere Mal eine Komposition, die sich ihren Wünschen fügte. Sie wollte Frieden schlieβen, mit dem Fenster, mit ihren Wünschen und mit der Komposition. Sie lieβ es zu, das Fenster sollte sich ihr offenbaren. Ein ums andere Mal Fenster und nochmal Fenster, dargestellt mit unterschiedlichen Materialien. Jahre später malte sie wie besessen Regenwälder. Aber das lag ihr, die Fenster waren eine Aufgabe gewesen, kein Auftrag, eine Aufgabe ihres Lehrers. Male die Seele aus diesem Fenster heraus, danach kannst du malen was du willst. Auch die Regenwälder waren Fenster, zu einer anderen Lebenszeit. Sie näherte sich dem an, was dieses andere ausmachte, bis sie die Worte verlor.
Besessenheit lässt uns innehalten in ein und demselben Moment. Es herrscht eine Stille, die zum Verzweifeln ist. Die Rückkehr der Vergangenheit in Endlosschleife, immer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Versuchen, diesmal die Lösung zu finden. Die Geschichten kommen und gehen und wiederholen sich. Sie wiederholen sich nicht zufällig, sondern weil wir sie wiederholt aufsuchen. Wir sehen uns Filme wieder und wieder an. Als Kind sah ich mehrmals täglich Alice im Wunderland. Meine Mutter sagt, sie musste immer lachen, wenn ich sagte, ich wolle die Vögel fliegen sehen, ich hätte sie nicht gesehen. Vielleicht gab es mehrere und ich wollte jeden Einzelnen sehen. Vielleicht wollte ich beim nächsten Mal etwas überprüfen, das mir beim letzten Mal entgangen war.
Leser der Welt, wir sehen ein und dasselbe Objekt jedes Mal mit anderen Augen.
Das Fenster ist nicht mehr dasselbe Fenster, fragen Sie Funes.
Alles wiederholt sich, nichts ist neu. Nichts wiederholt sich, alles ist neu.
Jahrelang zeichnete ich Tischgedecke. In dieser toten Zeit, in der der Kaffee kalt wurde, zeichnete ich alles, was ich vor mir sah. Ich war frei beim Zeichnen, es fing an, mir Spaβ zu machen, auch wenn ich mich anfangs dazu zwingen musste. Bei dem Versuch, die durch die Tischgedecke gelernte Technik auf andere Zeichnungen anzuwenden, scheiterte ich. Da war etwas, das ich nicht benennen kann und das sich von ganz allein offenbarte. Es waren nicht die Tassen und auch nicht die Gesellschaft derer, mit denen ich ihren heiβen Inhalt zu mir nahm, es war die Gesamtheit aus all dem. Was mit der Zeit besser wurde, waren die schwarze Linie und der angedeutete Hintergrund, einige Skizzen und die Präzision des Dargestellten. Es war dieses Unbeschreibliche, was ich nicht greifen kann und betrachte, ohne darauf deuten zu können, was in jedem Objekt vorhanden ist, wenn es einem, nachdem man es eine Zeitlang krampfhaft versucht hat, letztendlich doch seine Seele offenbart. Und für einen Augenblick ist diese Seele auch die Seele der Welt.
Eine Geschichte ist ein Fenster.
Mein Fenster ist seit geraumer Zeit diese Reise in den Schnee, als ich eines Nachts den Schnee kennenlernte.
Ein Spirit. Immer der gleiche: eine Reise ans Meer und eine Begegnung mit dem Schnee. Das Geplante und das Unerwartete, ein Stau. Immer die gleiche Erinnerung, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven.
Eine Geschichte, die sich dagegen sträubt, erzählt zu werden, sollte man nicht unerzählt lassen, man sollte nur die Perspektive ändern.
Und ob ich sie jetzt erzähle, und ob sie jetzt der Himmel erzählt, und ob sie mein Vater erzählt, und ob ich sie aus der Zukunft erzähle, und ob die Gegenwart der Ungewissheit uns ins Stocken geraten lässt.
In jenem Winter war so viel Schnee gefallen, dass wir auf der Landstraße steckenblieben. Wir waren in einem Spirit unterwegs und es war 1995, ein Jahr bevor meine Eltern sich scheiden lieβen.
Ich betrachte mich von auβen und weiβ, dass dieses Mädchen das nicht weiβ. Es kann nicht wissen, was geschehen wird, darum sollte man diese Information besser weglassen. Seine Eltern sind verheiratet, das Auto riecht noch neu. Besser in erster Person erzählen. Zurück zu ihr.
Wir fuhren früh los und nahmen die Landstraβe. Ich erinnere mich, dass ich auf der linken Seite der Rückbank saβ, neben meinem Bruder. Ich stelle mir den Geruch des Morgens vor, den Qualm der Comander, die meine Mutter auf nüchternem Magen rauchte, der noch zu den Autoabgasen auf der Eje 10 Sur hinzukam. Wir fuhren nicht Richtung Observatorio aus Mexiko-Stadt raus, denn diese Straβe führt nach Morelia, und obwohl ich es weiβ, ist das alles, was meine Vorstellungskraft hergibt.
Lange Zeit dachte ich, dass die Erinnerung ein Werkzeug sei, dass präzise genug ist, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, inzwischen vertraue ich mehr der Vorstellungskraft.
Salvador Elizondo spricht von zwei wesentlichen Mechanismen der Erinnerung in der Kindheit: die Evokation und die Invokation. Die Evokation kommt ungefragt, sie ist all das, was passiert, wenn der Körper mit einem zuvor erlebten Sinneseindruck in Kontakt tritt, der Proust-Effekt. Sie wird vor allem über den Geruchs- und den Geschmackssinn ausgelöst. Die Invokation erfordert Kunsthandwerk und mehr Vorsatz, darum ist sie mit Ritualen verbunden: Wir bereiten einen Altar mit den Lieblingsspeisen unserer Verstorbenen und am nächsten Tag nehmen wir sie zu uns, ihren Geschmack und die Toten. Fotos und Musik, Bild und Klang verbinden uns auf eine rationalere Weise mit dem, was nicht mehr da ist.
Die Erinnerung ist ein Geist, absichtlich oder nicht.
Ich wappnete mich mit zwei Begriffen und tauche erneut in diese Kindheitserinnerung ein, von der ich nicht weiβ, warum sie immer und immer wieder auftaucht, ohne dass ich sie herbeirufe.
Ich habe es immer als das Mal erinnert, als mein Vater den Schnee kennenlernte. Wir waren im Auto unterwegs nach Veracruz, wir vier, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Tomás und ich, während der Rest der Familie mit dem Flugzeug anreiste. Wir sollten uns später dort mit meinen Groβeltern väterlicherseits, mit meiner Tante Laura, meiner Cousine Itzel und meinem Cousin Iván treffen.
Mein Vater hatte Angst vorm Fliegen, aber er liebte es, Auto zu fahren. Wir verbrachten unsere ganze Kindheit unterwegs im Auto und hörten Kassetten mit Trova- und englischer Rockmusik. Die Straβenkarte war die Stimme meines Vaters, der den nächsten Ort ankündigte: Maravatío, Pátzcuaro, Morelia.
1994 kaufte er einen Spirit von Chrysler. Ich weiβ nicht, ob vielleicht das Wort Spirit eines der wichtigsten Passwörter ist, ein Kieselstein, der mich zurück zu diesem verlorenen Zuhause von Hänsel und Gretel führt. Und ob dieses Märchen, auf das ich auch immer wieder zurückkomme, Waisenkinder, vielleicht ein weiterer Schlüssel ist, den ich verloren habe. Spirit ist das englische Wort für „Geist“, etwas woran mein Vater nie glaubte: an Geister. Vielleicht, weil in seiner Geschichte noch keiner vorkam. Für meine Mutter dagegen gab es gleich mehrere: ihr Bruder, der Älteste. Der Tod dieses Bruders ist eine weitere Geschichte, die mich seit meiner Kindheit verfolgt. Für meine Mutter sind diese anwesenden Abwesenden Engel, sie sagt, dass sie sie immer beschützen. So, wie sie uns auf jener Reise beschützten.
Die Straβe war vielleicht für meinen Vater ein Weg, um nicht selbst zum Geist zu werden. Nicht zu fliegen wie die Engel meiner Mutter, auf der Erde zu sein und Körper, Leben und Fleisch zu bleiben.
Die Geister und die Engel waren für mich immer weiβ. So weiβ wie der Schnee.
Das erste Mal, dass mein Vater Schnee sah, war auch das erste Mal, dass ich ihn sah. Auf dieser Reise fühlte ich, dass ich eines Tages wieder in den Schnee zurückkehren würde, dass ich nochmal hindurchstapfen, mich in ihm wälzen, in ihm leben würde. Aber vielleicht wusste ich auch, dass mein Vater nie wieder im Schnee sein würde, weil er Angst hatte, zu fliegen.
Wir fuhren mit dem Auto nach Veracruz und verbrachten ein paar Tage vor Silvester mit meinen Groβeltern und Cousins, meiner Tante und meinen Eltern. Am 30. Dezember kehrten wir zurück, die anderen mit dem Flugzeug, wir mit dem Auto. Ich schloss die Augen und schlief ein. Auf halber Strecke, wurden mein Bruder und ich geweckt, um etwas im Laden zu kaufen. Wir stiegen aus, um Chips zu kaufen, aber was mein Vater eigentlich wollte war, den Schnee zu berühren: „Ich hab‘ noch nie Schnee gesehen“, sagte er. Zumindest sagte er das laut meiner Erinnerung.
Ein schlecht gebauter Schneemann aus Hagelresten empfing uns im Lebensmittelladen am Fuβ der Berge. Es blieβ ein eisiger Wind und wir, die wir vom Strand kamen, hatten keine Jacke dabei, nur einen leichten Pulli und Sandalen.
Drakis waren Chips aus der Cheetos-Familie, aber geformt wie die spitzen Eckzähne eines Vampirs und etwas bitterer und schärfer. Als ein paar Stunden später die Straβe vereiste und die Autos nicht mehr vorankamen, war es das Einzige, was ich zu essen hatte. Noch heute erzeugt die Erinnerung an diesen Geschmack Übelkeit in mir. Diese Chips wurden irgendwann nicht mehr produziert.
In jener Zeit gab es keine Handys, oder sie waren noch ganz neu. Mein Vater hatte ein riesengroβes, und damit versuchte er, meine Groβeltern anzurufen. Wir sollten die Nacht dort verbringen, bis die Sonne aufging und das Eis auf der Straβe taute, wir hätten schon vor Stunden in Mexiko-Stadt ankommen sollen. Mein Vater ging auf diesem verschneiten Stück Straβe auf und ab, bekam aber nie ein Netz.
In der Nacht öffnete ich meine Neujahrsgeschenke: eine CD von Shakira und eine von Café Tacvba. Ich las mit meinem Vater die Songtexte, der Spirit hatte keinen CD-Player, wir stellten uns die Musik dazu vor. Mein Bruder bekam Fieber und er verbrachte die Nacht hinten mit meiner Mutter. Wir pinkelten in leere Limoflaschen. Mein Vater entfernte die Schneeschicht, die sich auf dem Dach gebildet hatte. Es schneien zu sehen war wie es regnen zu sehen, die Flocken waren so klein, dass sie aussahen wie Tropfen. Ohne die Schneeschicht wurde es noch kälter, darum lieβ mein Vater dann den ganzen Schnee über uns, als würde er uns mit einer Geisterdecke zudecken.
Am nächsten Morgen stiegen wir alle aus den Autos aus. Es hatte aufgehört zu schneien und mein Vater konnte endlich meine Groβeltern erreichen: „Es ist nicht Petrus, Tere, es ist Javier“, sagte mein Opa zu meiner Oma und lachte.
Meine Oma hatte immer an Gott geglaubt, meine Opa nie. Sie hatten die ganze Nacht gedacht, wir hätten einen Unfall gehabt und wären tot.
Hinter dem Spirit war ein Bus mit Fahrgästen, mein Vater lieh dem Busfahrer sein Handy und er lieβ uns dafür die Toilette benutzen. Vor uns war ein Paar um die fünfzig in einem Pick-up. Sie gaben uns etwas von dem Obst, das sie transportierten, im Gegenzug für einen Anruf mit dem Handy. Es waren Tauschhandel, aber auch ein Gemeinschaftserlebnis, als seien wir Freunde oder gute Nachbarn, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich aβ Guayabas und eine Banane. Vielleicht ist diese Erinnerung auch von mir erfunden und es war anderes Obst. Ein Pfirsich und ein Apfel. Mangos. Alles scheint möglich, wenn ich es mir nur vorstelle.
Von einem Moment auf den anderen begannen die Motoren der Autos wieder zu laufen, die Luft füllte sich wieder mit Abgasen, der Schnee schmolz und die Autos fuhren an. Es kam ein Abschleppwagen und entfernte die Absperrung, die die Spuren für die beiden Fahrtrichtungen trennte. Wir kamen aus dem Loch heraus und fuhren auf der Gegenspur die Strecke von Puebla nach Mexiko-Stadt. Wir fuhren nicht direkt nach Hause, sondern erst zu meinen Groβeltern väterlicherseits, die uns mit meinen anderen Groβeltern empfingen, den Eltern meiner Mutter. Meine Omas machten uns Rührei und Orangensaft.
Wir lachten, wie jemand, der über eine rote Ampel geht und um ein Haar überfahren wird. Man lacht, weil es einem gelungen ist, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Man lacht aus Erschöpfung und aus Liebe. Über die Lieblichkeit der besiegten Angst, die immer noch im Körper kribbelt. Die Geister waren wir, die wir eine Nacht lang tot gewesen waren, zurückgeholt durch ein Frühstück, alle die wir da saβen, aus Fleisch und Blut.
Und jetzt sind sie die Toten, uns vier erwartet zuhause niemand mehr.
Diese Nacht im Schnee ist eine Erinnerung, zu der ich immer wieder zurückkehre. Wir haben in der Familie so gut wie nie über das Thema gesprochen, höchstens mal angesprochen, aber ohne auf Einzelheiten einzugehen. Einmal erinnerten wir uns gemeinsam daran, ich war sehr bewegt und beim Erzählen bemerkte ich, dass mein Vater und ich eine unterschiedliche Erinnerung an das Erlebte hatten.
In der Vorstellung der Dinge zeichnet sich nur das Leben des Einzelnen ab.
Akzeptieren, dass wir alle das erinnern, was wir erinnern wollen und dass jede Geschichte die wiederholt erzählt wird, jedesmal etwas anderes aussagen will. Dieser Ausgangspunkt ist zugleich ein Endpunkt, der mich seit zwanzig an toten Punkten wiederbelebt. Schlüssel oder versteckte Botschaften einer Welt, die ich nicht vergessen habe. Der Geist dieser Erinnerungen lässt die Zeit stillstehen und rekonstruiert sie immer wieder aufs Neue.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in dem Buch Blickwinkel: marasmo, veröffentlicht vom Goethe-Institut Mexiko und Pitzilein Books.
Meine Kunstlehrerin sagt, sie habe ein Jahr lang ein Fenster gemalt. Sie sollte die Seele aus ihm herausmalen. Ein ums andere Mal derselbe Ausblick, nur anders. Ein ums andere Mal eine Komposition, die sich ihren Wünschen fügte. Sie wollte Frieden schlieβen, mit dem Fenster, mit ihren Wünschen und mit der Komposition. Sie lieβ es zu, das Fenster sollte sich ihr offenbaren. Ein ums andere Mal Fenster und nochmal Fenster, dargestellt mit unterschiedlichen Materialien. Jahre später malte sie wie besessen Regenwälder. Aber das lag ihr, die Fenster waren eine Aufgabe gewesen, kein Auftrag, eine Aufgabe ihres Lehrers. Male die Seele aus diesem Fenster heraus, danach kannst du malen was du willst. Auch die Regenwälder waren Fenster, zu einer anderen Lebenszeit. Sie näherte sich dem an, was dieses andere ausmachte, bis sie die Worte verlor.
Besessenheit lässt uns innehalten in ein und demselben Moment. Es herrscht eine Stille, die zum Verzweifeln ist. Die Rückkehr der Vergangenheit in Endlosschleife, immer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Versuchen, diesmal die Lösung zu finden. Die Geschichten kommen und gehen und wiederholen sich. Sie wiederholen sich nicht zufällig, sondern weil wir sie wiederholt aufsuchen. Wir sehen uns Filme wieder und wieder an. Als Kind sah ich mehrmals täglich Alice im Wunderland. Meine Mutter sagt, sie musste immer lachen, wenn ich sagte, ich wolle die Vögel fliegen sehen, ich hätte sie nicht gesehen. Vielleicht gab es mehrere und ich wollte jeden Einzelnen sehen. Vielleicht wollte ich beim nächsten Mal etwas überprüfen, das mir beim letzten Mal entgangen war.
Leser der Welt, wir sehen ein und dasselbe Objekt jedes Mal mit anderen Augen.
Das Fenster ist nicht mehr dasselbe Fenster, fragen Sie Funes.
Alles wiederholt sich, nichts ist neu. Nichts wiederholt sich, alles ist neu.
Lange Zeit dachte ich, dass die Erinnerung ein Werkzeug sei, dass präzise genug ist, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, inzwischen vertraue ich mehr der Vorstellungskraft.
Eine Geschichte ist ein Fenster.
Mein Fenster ist seit geraumer Zeit diese Reise in den Schnee, als ich eines Nachts den Schnee kennenlernte.
Ein Spirit. Immer der gleiche: eine Reise ans Meer und eine Begegnung mit dem Schnee. Das Geplante und das Unerwartete, ein Stau. Immer die gleiche Erinnerung, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven.
Eine Geschichte, die sich dagegen sträubt, erzählt zu werden, sollte man nicht unerzählt lassen, man sollte nur die Perspektive ändern.
Und ob ich sie jetzt erzähle, und ob sie jetzt der Himmel erzählt, und ob sie mein Vater erzählt, und ob ich sie aus der Zukunft erzähle, und ob die Gegenwart der Ungewissheit uns ins Stocken geraten lässt.
In jenem Winter war so viel Schnee gefallen, dass wir auf der Landstraße steckenblieben. Wir waren in einem Spirit unterwegs und es war 1995, ein Jahr bevor meine Eltern sich scheiden lieβen.
Ich betrachte mich von auβen und weiβ, dass dieses Mädchen das nicht weiβ. Es kann nicht wissen, was geschehen wird, darum sollte man diese Information besser weglassen. Seine Eltern sind verheiratet, das Auto riecht noch neu. Besser in erster Person erzählen. Zurück zu ihr.
Wir fuhren früh los und nahmen die Landstraβe. Ich erinnere mich, dass ich auf der linken Seite der Rückbank saβ, neben meinem Bruder. Ich stelle mir den Geruch des Morgens vor, den Qualm der Comander, die meine Mutter auf nüchternem Magen rauchte, der noch zu den Autoabgasen auf der Eje 10 Sur hinzukam. Wir fuhren nicht Richtung Observatorio aus Mexiko-Stadt raus, denn diese Straβe führt nach Morelia, und obwohl ich es weiβ, ist das alles, was meine Vorstellungskraft hergibt.
Lange Zeit dachte ich, dass die Erinnerung ein Werkzeug sei, dass präzise genug ist, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, inzwischen vertraue ich mehr der Vorstellungskraft.
Salvador Elizondo spricht von zwei wesentlichen Mechanismen der Erinnerung in der Kindheit: die Evokation und die Invokation. Die Evokation kommt ungefragt, sie ist all das, was passiert, wenn der Körper mit einem zuvor erlebten Sinneseindruck in Kontakt tritt, der Proust-Effekt. Sie wird vor allem über den Geruchs- und den Geschmackssinn ausgelöst. Die Invokation erfordert Kunsthandwerk und mehr Vorsatz, darum ist sie mit Ritualen verbunden: Wir bereiten einen Altar mit den Lieblingsspeisen unserer Verstorbenen und am nächsten Tag nehmen wir sie zu uns, ihren Geschmack und die Toten. Fotos und Musik, Bild und Klang verbinden uns auf eine rationalere Weise mit dem, was nicht mehr da ist.
Die Erinnerung ist ein Geist, absichtlich oder nicht.
Ich wappnete mich mit zwei Begriffen und tauche erneut in diese Kindheitserinnerung ein, von der ich nicht weiβ, warum sie immer und immer wieder auftaucht, ohne dass ich sie herbeirufe.
Ich habe es immer als das Mal erinnert, als mein Vater den Schnee kennenlernte. Wir waren im Auto unterwegs nach Veracruz, wir vier, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Tomás und ich, während der Rest der Familie mit dem Flugzeug anreiste. Wir sollten uns später dort mit meinen Groβeltern väterlicherseits, mit meiner Tante Laura, meiner Cousine Itzel und meinem Cousin Iván treffen.
Mein Vater hatte Angst vorm Fliegen, aber er liebte es, Auto zu fahren. Wir verbrachten unsere ganze Kindheit unterwegs im Auto und hörten Kassetten mit Trova- und englischer Rockmusik. Die Straβenkarte war die Stimme meines Vaters, der den nächsten Ort ankündigte: Maravatío, Pátzcuaro, Morelia.
1994 kaufte er einen Spirit von Chrysler. Ich weiβ nicht, ob vielleicht das Wort Spirit eines der wichtigsten Passwörter ist, ein Kieselstein, der mich zurück zu diesem verlorenen Zuhause von Hänsel und Gretel führt. Und ob dieses Märchen, auf das ich auch immer wieder zurückkomme, Waisenkinder, vielleicht ein weiterer Schlüssel ist, den ich verloren habe. Spirit ist das englische Wort für „Geist“, etwas woran mein Vater nie glaubte: an Geister. Vielleicht, weil in seiner Geschichte noch keiner vorkam. Für meine Mutter dagegen gab es gleich mehrere: ihr Bruder, der Älteste. Der Tod dieses Bruders ist eine weitere Geschichte, die mich seit meiner Kindheit verfolgt. Für meine Mutter sind diese anwesenden Abwesenden Engel, sie sagt, dass sie sie immer beschützen. So, wie sie uns auf jener Reise beschützten.
Die Straβe war vielleicht für meinen Vater ein Weg, um nicht selbst zum Geist zu werden. Nicht zu fliegen wie die Engel meiner Mutter, auf der Erde zu sein und Körper, Leben und Fleisch zu bleiben.
Die Geister und die Engel waren für mich immer weiβ. So weiβ wie der Schnee.
Das erste Mal, dass mein Vater Schnee sah, war auch das erste Mal, dass ich ihn sah. Auf dieser Reise fühlte ich, dass ich eines Tages wieder in den Schnee zurückkehren würde, dass ich nochmal hindurchstapfen, mich in ihm wälzen, in ihm leben würde. Aber vielleicht wusste ich auch, dass mein Vater nie wieder im Schnee sein würde, weil er Angst hatte, zu fliegen.
Wir fuhren mit dem Auto nach Veracruz und verbrachten ein paar Tage vor Silvester mit meinen Groβeltern und Cousins, meiner Tante und meinen Eltern. Am 30. Dezember kehrten wir zurück, die anderen mit dem Flugzeug, wir mit dem Auto. Ich schloss die Augen und schlief ein. Auf halber Strecke, wurden mein Bruder und ich geweckt, um etwas im Laden zu kaufen. Wir stiegen aus, um Chips zu kaufen, aber was mein Vater eigentlich wollte war, den Schnee zu berühren: „Ich hab‘ noch nie Schnee gesehen“, sagte er. Zumindest sagte er das laut meiner Erinnerung.
Ein schlecht gebauter Schneemann aus Hagelresten empfing uns im Lebensmittelladen am Fuβ der Berge. Es blieβ ein eisiger Wind und wir, die wir vom Strand kamen, hatten keine Jacke dabei, nur einen leichten Pulli und Sandalen.
Drakis waren Chips aus der Cheetos-Familie, aber geformt wie die spitzen Eckzähne eines Vampirs und etwas bitterer und schärfer. Als ein paar Stunden später die Straβe vereiste und die Autos nicht mehr vorankamen, war es das Einzige, was ich zu essen hatte. Noch heute erzeugt die Erinnerung an diesen Geschmack Übelkeit in mir. Diese Chips wurden irgendwann nicht mehr produziert.
Akzeptieren, dass wir alle das erinnern, was wir erinnern wollen und dass jede Geschichte die wiederholt erzählt wird, jedesmal etwas anderes aussagen will. Dieser Ausgangspunkt ist zugleich ein Endpunkt, der mich seit zwanzig an toten Punkten wiederbelebt.
In jener Zeit gab es keine Handys, oder sie waren noch ganz neu. Mein Vater hatte ein riesengroβes, und damit versuchte er, meine Groβeltern anzurufen. Wir sollten die Nacht dort verbringen, bis die Sonne aufging und das Eis auf der Straβe taute, wir hätten schon vor Stunden in Mexiko-Stadt ankommen sollen. Mein Vater ging auf diesem verschneiten Stück Straβe auf und ab, bekam aber nie ein Netz.
In der Nacht öffnete ich meine Neujahrsgeschenke: eine CD von Shakira und eine von Café Tacvba. Ich las mit meinem Vater die Songtexte, der Spirit hatte keinen CD-Player, wir stellten uns die Musik dazu vor. Mein Bruder bekam Fieber und er verbrachte die Nacht hinten mit meiner Mutter. Wir pinkelten in leere Limoflaschen. Mein Vater entfernte die Schneeschicht, die sich auf dem Dach gebildet hatte. Es schneien zu sehen war wie es regnen zu sehen, die Flocken waren so klein, dass sie aussahen wie Tropfen. Ohne die Schneeschicht wurde es noch kälter, darum lieβ mein Vater dann den ganzen Schnee über uns, als würde er uns mit einer Geisterdecke zudecken.
Am nächsten Morgen stiegen wir alle aus den Autos aus. Es hatte aufgehört zu schneien und mein Vater konnte endlich meine Groβeltern erreichen: „Es ist nicht Petrus, Tere, es ist Javier“, sagte mein Opa zu meiner Oma und lachte.
Meine Oma hatte immer an Gott geglaubt, meine Opa nie. Sie hatten die ganze Nacht gedacht, wir hätten einen Unfall gehabt und wären tot.
Hinter dem Spirit war ein Bus mit Fahrgästen, mein Vater lieh dem Busfahrer sein Handy und er lieβ uns dafür die Toilette benutzen. Vor uns war ein Paar um die fünfzig in einem Pick-up. Sie gaben uns etwas von dem Obst, das sie transportierten, im Gegenzug für einen Anruf mit dem Handy. Es waren Tauschhandel, aber auch ein Gemeinschaftserlebnis, als seien wir Freunde oder gute Nachbarn, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich aβ Guayabas und eine Banane. Vielleicht ist diese Erinnerung auch von mir erfunden und es war anderes Obst. Ein Pfirsich und ein Apfel. Mangos. Alles scheint möglich, wenn ich es mir nur vorstelle.
Von einem Moment auf den anderen begannen die Motoren der Autos wieder zu laufen, die Luft füllte sich wieder mit Abgasen, der Schnee schmolz und die Autos fuhren an. Es kam ein Abschleppwagen und entfernte die Absperrung, die die Spuren für die beiden Fahrtrichtungen trennte. Wir kamen aus dem Loch heraus und fuhren auf der Gegenspur die Strecke von Puebla nach Mexiko-Stadt. Wir fuhren nicht direkt nach Hause, sondern erst zu meinen Groβeltern väterlicherseits, die uns mit meinen anderen Groβeltern empfingen, den Eltern meiner Mutter. Meine Omas machten uns Rührei und Orangensaft.
Wir lachten, wie jemand, der über eine rote Ampel geht und um ein Haar überfahren wird. Man lacht, weil es einem gelungen ist, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Man lacht aus Erschöpfung und aus Liebe. Über die Lieblichkeit der besiegten Angst, die immer noch im Körper kribbelt. Die Geister waren wir, die wir eine Nacht lang tot gewesen waren, zurückgeholt durch ein Frühstück, alle die wir da saβen, aus Fleisch und Blut.
Und jetzt sind sie die Toten, uns vier erwartet zuhause niemand mehr.
Diese Nacht im Schnee ist eine Erinnerung, zu der ich immer wieder zurückkehre. Wir haben in der Familie so gut wie nie über das Thema gesprochen, höchstens mal angesprochen, aber ohne auf Einzelheiten einzugehen. Einmal erinnerten wir uns gemeinsam daran, ich war sehr bewegt und beim Erzählen bemerkte ich, dass mein Vater und ich eine unterschiedliche Erinnerung an das Erlebte hatten.
In der Vorstellung der Dinge zeichnet sich nur das Leben des Einzelnen ab.
Akzeptieren, dass wir alle das erinnern, was wir erinnern wollen und dass jede Geschichte die wiederholt erzählt wird, jedesmal etwas anderes aussagen will. Dieser Ausgangspunkt ist zugleich ein Endpunkt, der mich seit zwanzig an toten Punkten wiederbelebt. Schlüssel oder versteckte Botschaften einer Welt, die ich nicht vergessen habe. Der Geist dieser Erinnerungen lässt die Zeit stillstehen und rekonstruiert sie immer wieder aufs Neue.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in dem Buch Blickwinkel: marasmo, veröffentlicht vom Goethe-Institut Mexiko und Pitzilein Books.