Dokumentarfilm in China  „Der Wert von Dokumentarfilmen liegt in der Zukunft“

Portrait Zhang Li
Portrait Zhang Li Foto (Ausschnitt): Portrait Zhang Li © Zhang Li

Das Guangzhou International Documentary Film Festival (GZDOC 中国(广州)国际纪录片节) ist eines der größten Filmfestivals Chinas und zeigt eine Vielfalt an chinesischen und internationalen Dokumentarfilmen. Eine der treibenden Kräfte bei der Organisation des Festivals ist Zhang Li (张鹂), stellvertretende Generalsekretärin des GZDOC und passionierte Filmliebhaberin. Im 33. Stock eines Wolkenkratzers im Zentrum Guangzhous empfängt sie mich in den schick-traditionell eingerichteten Büroräumen des Festivals und spricht über ihren Weg ins Festivalteam, den Wert Guangzhous als Kulturstadt und die sozialen Medien als neue Plattform für den chinesischen Dokumentarfilm.

Ihre Liebe gilt nicht nur dem Film sondern auch Chinas Nationalgetränk, dem Tee. Als Zhang Li um Interview im Büro eintrifft, fragt sie als erstes, ob ich einen Tee trinken möchte. Ich rechne mit einem einfach aufgegossenen Grüntee in einem Pappbecher, doch stattdessen bittet Zhang mich ins Nebenzimmer, wo ein schön dekorierter Teetisch steht. Wir setzen uns und Zhang beginnt mit einer kleinen Zeremonie. Mit großer Aufmerksamkeit bereitet sie den Tee zu, wärmt die Schalen mit heißem Wasser und gießt den dampfenden Aufguss von einem Kännchen ins nächste. Erst als der hellgrüne Tee in kleinen weißen Porzellanschalen vor uns seinen Duft verbreitet, beginnt sie über ihre andere Leidenschaft, den Film, zu sprechen.

Seit 2012 arbeitet die in den frühen 1980ern geborene Zhang beim GZDOC, dem größten Dokumentarfilmfestival Chinas, mit. Zunächst hatte sie jedoch einen anderen Weg eingeschlagen. In Shenzhen aufgewachsen, nahm sie die Empfehlung ihrer Eltern an, studierte Internationales Finanzwesen und arbeitete eine Zeit lang in einer Regierungsbehörde. Doch ihr Interesse an Kultur und Kunst ebbte nicht ab. Die Nachbarstadt Guangzhou reizte sie, denn „dies ist eine Stadt mit einer langen Geschichte“, im Gegensatz zum jungen Shenzhen. Sie zog um und begann in der Medienbranche zu arbeiten, 2012 wechselte sie zum GZDOC.

Viele Dokumentarfilmer*innen schätzen Guangzhou. Sie bezeichnen es sogar als eine Art Paradies, das ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt.

Eine Geschichte wie Guangzhou haben tatsächlich nur wenige Städte in China, denn sie war aufgrund ihrer Lage in der Nähe des Südchinesischen Meeres lange Zeit ein Tor zum Rest der Welt. So ist die Metropole auch heute noch eine der internationalsten Städte des Landes. Unterschiedliche Kulturen sind vertreten, aus ganz China und aus dem Ausland. Vielen ist die Stadt noch heute unter dem westlichen Namen „Kanton“ bekannt, ein Relikt kolonialer Zeiten. Zhang schätzt die Offenheit der Stadt, das mache sie zu einem guten Ort für ein solches Festival, sagt sie. Trotz ihrer Größe – es leben etwa 13 Millionen Menschen in der Stadt – sei Guangzhou entspannt und maßvoll. Die Bewohner*innen würden nicht zu dick auftragen, egal ob erfolgreiche Geschäftsfrau, Künstler oder Beamter. So sei es auch mit dem Dokumentarfilm, er sei authentisch und essentiell, das passe gut zu Guangzhou, meint Zhang. „Viele Dokumentarfilmer*innen schätzen Guangzhou. Sie bezeichnen es sogar als eine Art Paradies, das ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt.“

Guangzhou ist eine Stadt der Traditionen: Im alten Stadtviertel Huangpu reihen sich Backsteinbauten und Villen aus dem 19. Jahrhundert aneinander, auf der beschaulichen Insel Shamian tanzen Seniorenpaare zu kantonesischer Volksmusik und am Wochenende treffen sich die Großfamilien zu „zaocha“, eine Art kantonesischem Brunch, in einem der vielen Restaurants der Stadt. Doch die Stadt kann auch modern. Schicke Hochhäuser erstrahlen des Nachts entlang des Perlflusses, der schlanke Canton Tower im Stadtzentrum ist eines der höchsten Gebäude der Welt und in der von Stararchitektin Zaha Hadid entworfenen Oper geben sich nationale und internationale Musikgrößen ein Stelldichein. „Guangzhou war immer vorne mit dabei“, sagt Zhang. Egal ob Film oder Kantonpop, hier werden oft die Maßstäbe fürs ganze Land gelegt. Wichtige Einflüsse erhält die Region aus den nahegelegenen Metropolen Hongkong und Macau sowie von ihrer multikulturellen Bevölkerung. „In den 1970er und 80er Jahren war Guangzhou weltweit ein Begriff. Viele Menschen wollten Kantonesisch lernen, es galt als nobel“, berichtet Zhang. Neben dem jährlich stattfindenden Canton Fair, der größten Messe weltweit, sei das Festival die wichtigste internationale Veranstaltung in Guangzhou. Die Regionalregierung unterstütze das Filmfestival und vertraue ihrem Team. „Sie sehen, was wir machen, sehen unseren Wert und die langfristige Perspektive des Festivals. Deswegen erhalten wir ihre Zustimmung.“

Ruhig erzählt sie, doch bestimmt. Oft lacht sie zwischendrin. Dann schenkt sie schweigend eine neue Tasse Tee ein, nimmt sich Zeit nachzudenken bevor sie antwortet.

Diese Plattformen sind sehr angesagt und haben die Entwicklung und Rezeption vom Dokumentarfilm nochmals verändert, das beeinflusst auch die Produktion.

In den letzten Jahren sieht Zhang eine starke Entwicklung im Bereich des Dokumentarfilms. Einerseits nehmen nationale TV-Sender vermehrt Dokumentarfilme in ihr Programm auf und zudem sind die neuen Medien eine wichtige Plattform. Auf Streaming-Portalen wie Youku, Bilibili und iQiyi erreichen die Filme ein Millionenpublikum. So manch eine Produktion, die im TV nur mäßig erfolgreich war, ist durch die sozialen Medien landesweit bekannt geworden. Ein solcher Überraschungserfolg war 2016 der dreiteilige CCTV-Dokumentarfilm „Masters in Forbidden City“ (我在故宫修文物), der den Alltag von Restaurator*innen im Palastmuseum in Peking dokumentiert. Über zwei Millionen vorwiegend junge Menschen sahen den Film auf der Plattform iQiyi, anschließend schaffte er es sogar in die chinesischen Kinos. „Diese Plattformen sind sehr angesagt und haben die Entwicklung und Rezeption vom Dokumentarfilm nochmals verändert“, sagt Zhang. „Das beeinflusst auch die Produktion.“

  © Zhang Li Zhang legt viel Wert auf den internationalen Dialog. Sie freut sich, dass Filmschaffende aus aller Welt zum GZDOC kommen und es mehr und mehr länderübergreifende Co-Produktionen gibt. Im letzten Jahr sichteten sie über 4000 Einreichungen für das Filmfestival. „Ich denke, dass durch den intensiveren internationalen Austausch die Qualität chinesischer Dokumentarfilme zugenommen hat“, sagt sie. An ausländischen Produktionen gefällt ihr, dass hier oft der Fokus auf das Innenleben der Menschen gelegt wird, eine philosophische Auseinandersetzung mit der Psyche stattfindet, unterstützt durch den Ton und die Komposition. Beeindruckt hat sie der Kurzfilm „Dark Waves“ von Ismaël Joffroy Chandoutis, der beim GZDOC 2018 als bester kurzer Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. „Dieser Film hat mich sehr überrascht. Er zeigt keine Menschen, kein klares Objekt, das war toll! Ich dachte, so kann man also einen Dokumentarfilm machen!“, erzählt sie begeistert. In China schätzt sie besonders den Filmemacher Zhou Hao, den sie als den chinesischen Frederick Wiseman (ein US-amerikanischer Regisseur, Anm. d. Autorin) bezeichnet. „Bei Zhous Filmen hat man das Gefühl, es gäbe gar keinen Kameramann. Die Menschen zeigen sich in ihrer ganzen Echtheit, sie scheinen ihm voll und ganz zu vertrauen.“

Zhang sieht den Dokumentarfilm als einen Schatz. „Ich denke, dass Dokumentarfilme wertvoll sind für die eigene Sicht auf die Welt, das eigene Wertesystem. Sie regen einen zum Nachdenken an.“ Der Wert vieler Dokumentationen würde erst später erkannt, wie dies beispielsweise bei Dokumentarfilmen aus früheren Jahrzehnten der Fall ist. „Durch diese können wir noch heute nachvollziehen, wie es in früheren Jahrzehnten aussah, was damals passierte. Man hat das Gefühl man befindet sich in der Zeit“, sagt Zhang. Diese Erfahrung, das Langfristige dieser Filme schätzt sie besonders und schließt lächelnd ab: „Der Wert von Dokumentarfilmen liegt in der Zukunft.“
 

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