„Ein Mensch tötet sich selbst, weil seine Lebenskraft aufgebraucht ist, auch wenn sein Leib noch lebt. Zu leben ist wirklich eine große Qual, das Essen ist ohne Geschmack und im Schlaf finde ich keine Ruhe, aber am schlimmsten ist es, wenn ich das erstarrte Lächeln aus meinem Gesicht streiche und an den Tod denke, der sich deutlich darunter abzeichnet.“ — Aus dem Abschiedsbrief von Xu Yushu
Am 13. November 2019 stürzte sich Xu Yushu, Schüler der 12. Klasse der Fremdsprachenschule Nr. 2 in Chongqing, vom fünften Stock eines Schulgebäudes in den Tod. Knapp ein Jahr später liegt sein Leichnam noch immer im Bestattungsinstitut. Die ganze Zeit über sucht sein Vater Xu Yuanxia nach einer Antwort auf die Frage: „Warum hat mein so außergewöhnlich begabter Sohn den Freitod gewählt?“ Solange er auf diese Frage keine Antwort gefunden hat, will er seinen Sohn nicht bestatten lassen.Xu Yuanxia nennt seinen Sohn ein „Geschenk des Himmels“ – mit 20 Monaten fing er an chinesische Zeichen zu lernen; mit fünf Jahren las er das Gedicht Abschied von Cambridge von Xu Zhimo; mit sechs schrieb er einen Brief an den Leiter der Grundschule mit der Bitte, aufgenommen zu werden; mit 12 wurde er in eine Förderschule versetzt und mit 13 gewann er den ersten Preis im landesweiten Mathematikwettbewerb.
Seine Schulkameraden hielten Xu Yushu allerdings für einen sonderbaren Typ, der immer sehr tiefsinnige Sachen sagte und lange, gefühlvolle Aufsätze über Enttäuschungen und Verletzungen schrieb; im Chinesisch- und Geschichtsunterricht trat er sehr wichtigtuerisch auf und gab vor den Mitschülern mit seinen früheren tollen Leistungen an; er wünschte sich eine Frau zu sein und trug in der Schule einmal ein rotes Kleid und rote Schuhe, Fotos davon schickte er später an seine Freunde. In ihren Augen wollte er nur Aufmerksamkeit und Bestätigung.
Aber offensichtlich fühlte er sich zeitlebens unverstanden und je mehr er sich bemühte, desto schlimmer wurde es. Hinter seinem Rücken nannten Schulkameraden ihn einen „lächerlichen Clown“.
Nachdem Xu Yushu sich in den Tod gestürzt hatte, gab es Menschen, die ihm online mit dem Lied „Womxnly“ (der chinesische Titel heißt wörtlich: „Rosenjunge“) der taiwanischen Pop-Sängerin Jolin Tsai gedachten. Dieser Song wurde zum Andenken an den taiwanischen Schüler Ye Yongzhi geschrieben, der wegen seines femininen Auftretens in der Schule gemobbt und im Jahr 2000 in den Tod getrieben wurde. In dem Song heißt es: „Dein Leben war ohne Schuld, du musst dich nicht entschuldigen.“ Einträge seiner Schulkameraden in Xu Yushus Freundschaftsbuch zum Abschluss der Grundschule
Du bist größenwahnsinnig, ein Egomane, dabei bist du gar nicht der Beste, was hast du überhaupt vorzuweisen! Du bist so feige, halb Frau, halb Mann, haha, egal wie sehr man dich quält, du lachst immer noch, was soll ich Gutes über dich sagen? | © Beijing Youth Daily
Von keinem verstanden
Im Sisyphus Bookstore am Wanda-Platz im Chongqinger Stadtteil Nanping sitzt, sich hin und her wiegend, Hu Chunyan. Seit dem Freitod ihres Sohnes Xu Yushu kommt sie täglich her und verbringt hier den Nachmittag. Weil Xu Yushu früher oft zum Lesen in diesen Buchladen kam, fühlt seine Mutter sich ihm hier nahe. Manchmal denkt sie sogar: „Wenn ich auch springe, kann ich ihn dann wiedersehen?“Damit Hu Chunyan nicht ständig an ihren Sohn erinnert wird, ist die Familie umgezogen, Xu Yushus Sachen sind alle in der alten Wohnung geblieben. Zehn Monate nach der Tat ist es das erste Mal, dass Hu Chunyan mit Außenstehenden über ihren Sohn spricht.
Sie erinnert sich, dass Xu Yushu eine Woche vor seinem Selbstmord seiner Familie quasi ein Zeichen gegeben hatte. Am 3. November 2019 kam Xu Yushu zum letzten Mal von der Schule nachhause. Er berichtete, er habe bei der Geschichtsprüfung als bester in der Klasse abgeschnitten, in Erdkunde sei er achter geworden. Zu den Großeltern sagte er: „Macht euch keine Sorgen, meine Zensuren reichen locker für die Peking-Universität.“ Bevor er zurück in die Schule fuhr, erinnert sich seine Mutter, umarmte Xu Yushu sie besonders lange. Es schien ihr, dass er sie zuvor nie so lange und fest gedrückt hatte, aber nie hätte sie gedacht, dass dies ein Abschied sein würde.
„Ehrlich gesagt habe ich außer der Trauer auch noch ein schlechtes Gewissen“, sagt Hu Chunyan, „weil ich das Gefühl habe, ihm keine gute Mutter gewesen zu sein.“ Sie wirft sich vor, dass sie zwar einige Probleme wahrgenommen, ihrem Sohn aber nicht habe helfen können.
Sie erinnert sich, dass der introvertierte Junge einige Male launische Anfälle gehabt hatte. Als Xu Yushu in der siebten oder achten Klasse war, wollte die Familie einmal die Großeltern besuchen. Sein Vater und kleiner Bruder warteten bereits unten vor der Tür, während Xu Yushu noch immer in seinem Zimmer saß. Seine Mutter hatte ihn schon mehrmals gerufen, aber er weigerte sich mitzukommen. Sie wurde etwas wütend und forderte ihn auf zumindest einen Grund zu nennen.
Von den Fragen der Mutter in die Enge getrieben brach Xu Yushu in Tränen aus. „Er sagte, dass niemand ihn verstehe, dass seine Mitschüler ihn nicht verstünden und auch nicht glaubten, was er sagte.“ Hu Chunyan antwortete ihm, er solle das Problem bei sich selbst suchen. Als sie sich an diese Situation erinnert, röten sich ihre Augen wieder. „Ich hätte mich damals an seine Stelle versetzen, ihn verstehen und trösten sollen. Ich mache mir Vorwürfe.“
Hu Chunyan meint, Xu Yushu sei von klein auf sehr einsam gewesen. „Er war bestimmt fünf Jahre reifer als andere Kinder in seinem Alter“, sagt Hu Chunyan. „Er hat sehr viel gelesen und hatte ein breites Wissen, wenn er mit Gleichaltrigen sprach, dann haben die ihn nicht verstanden. Sie haben ihn nicht verstanden und er hatte auch keinen echten Freund.“ Zu seinem neunten Geburtstag wünschte er sich von seinem Onkel den chinesischen Literaturklassiker Traum der roten Kammer. Sein Onkel fand das unglaublich und meinte, das würde er ja gar nicht verstehen. Als er ihm zur Prüfung Fragen zum Inhalt des chinesischen Literaturklassikers Die drei Reiche stellte, konnte Xu Yushu alle beantworten.
„Während alle Kinder draußen spielten, versenkte er sich in Büchern, die selbst einige Erwachsene für anspruchsvoll halten würden.“ Hu Chunyan meint, dass Xu Yushus Kinderjahre sehr freudlos gewesen sein müssen. Er habe nicht wie andere Kinder getobt und gespielt. Auf dem Bücherregal neben seinem Bett standen Bücher wie das I Ging, die Geschichte Japans, Eine kurze Geschichte der westlichen Philosophie, Wang Yangmings Einheit von Wissen und Verhalten, Praktisches Wissen um den menschlichen Körper und ähnliche.
Xu Yushu hat ein dickes Freundschaftsbuch aus der Grundschule, aber nur zehn Seiten davon sind beschrieben. Dort gibt es Einträge von Mitschülern wie: „Du bist ein Idiot, voll bescheuert“ oder „Ich wünsch dir, dass du später zum Platzen satt sein sollst und beim Trinken ersäufst“ oder „Du bist größenwahnsinnig, dabei bist du gar nicht der beste, was hast du überhaupt vorzuweisen? Du bist so feige, halb Frau, halb Mann, egal wie sehr man dich quält, du lachst immer noch, was soll ich Gutes über dich sagen?“
Auf den Seiten hinter jenen, die von den Mitschülern spärlich beschrieben sind, hat Xu Yushu sich selbst drei Seiten gewidmet und diese mit drei Namen unterzeichnet: „Xu Yushu eins, zwei und drei“. Was hat er an sich selber geschrieben? „Ihn töten, um sie zu suchen.“ Im Interview mit der Autorin erzählt ein Mitschüler, „sie“ bedeute wohl, dass Xu Yushu eine Frau werden wollte.
Nach dem Neujahrsfest im Jahr 2018 wurde bei Xu Yushu eine Depression diagnostiziert und er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Während des Aufenthalts im Krankenhaus sagte er unter vier Augen zu seiner Mutter, in der Schule sei etwas sehr Ernstes geschehen, so ernst, dass es ein Gesetzesverstoß sei. Aber als seine Mutter fragte, ob er zur Polizei gehen wolle, reagierte Xu Yushu sehr unentschlossen. Weil Hu Chunyan Angst hatte, die Behandlung seiner Depression zu beeinträchtigen, fragte sie nicht weiter.
Stattdessen erzählte sie ihrem Ehemann davon, der heimlich das Handy seines Sohnes ausspionierte. Dabei fand er eine Nachricht, die Xu Yushu über den Messenger QQ an einen Freund geschickt hatte: „Ich bin vergewaltigt worden.“ Auch wenn diese Nachricht sie sehr schmerzhaft traf, sagt Hu Chunyan, hätte sie selbst nicht so wie der Vater in die Privatsphäre ihres Sohnes eingegriffen und das Handy ausspioniert.
Mit den Erziehungsmethoden ihres Mannes war Hu Chunyan zwar nicht einverstanden, konnte aber auch nicht eingreifen. „Mein Mann ist ein ziemlich eigensinniger Mensch, wenn er von etwas überzeugt ist, dann hört er auf nichts, was von außen kommt“, sagt sie. Xu Yuanxia war die unangefochtene Autorität in der Familie und die Mutter mischte sich nicht in seine Methoden ein.
„Ihn töten, um sie zu suchen.“
Xu Yuanxia bekam sogleich einen Wutanfall und brüllte: „Wenn du nur eine Stunde zuhause lernen würdest, wäre ich einverstanden, dass du nicht mehr in die Schule gehst.“ Seine Stimme explodierte geradezu, erinnert sich Hu Chunyan. Es war total beängstigend. „Der Junge war so eingeschüchtert, dass er kein Wort mehr herausbrachte und auch nichts über seinen Zustand sagte.“ Bis heute hat Hu Chunyan ihrem Mann nicht gesagt, dass die Idee mit dem Pausieren von ihr selbst kam.
Hu Chunyan erinnert sich, wie ihr Mann Xu Yuanxia einmal seinen Sohn anrief, als dessen Cousin gerade auf Xu Yushus Handy ein Spiel spielte. Der Cousin drückte den Anruf einfach weg. Xu Yuanxia rief noch mehrmals an und als er endlich durchkam, ließ er eine Schimpftirade los: „Komm mir sofort nachhause, spinnst du, nicht ans Telefon zu gehen, wenn dein Vater dich anruft?“ Xu Yushus Onkel brachte den Jungen nachhause und erklärte dem Vater, dass das Handy gar nicht bei ihm gewesen sei. Trotzdem ließ Xu Yuanxia seinen Sohn auf dem Boden knien und schlug ihn mit einem Ledergürtel.
Seit ihr Sohn tot ist, denkt Hu Chunyan, wenn sie noch so ein kluges Kind wie Xu Yushu bekäme, würde sie es besser beschützen. Xu Yushu als Kind mit seinen Eltern (links), plötzlicher Stimmungswandel in der 8. Klasse (rechts) | © Beijing Youth Daily
„Erwachsen mit drei, alt mit sieben“
Der heute 53-jährige Xu Yuanxia ist nicht sehr groß, seine Haare sind ergraut. Wenn er von seinem Sohn Xu Yushu spricht, leuchtet Stolz aus seinen Augen: „Er war ein Schatz, ein Geschenk des Himmels.“ Seine Begabung war von klein auf nicht mit der normaler Kinder zu vergleichen. Von 1986 bis 1988 hatte Xu Yuanxia zwei Jahre lang als Mittelschullehrer gearbeitet und die Fächer Chinesisch und Musik gelehrt. „Ich bin nicht einfach so mit Kindern zusammen, es ist wirklich meine Berufung und mein Interesse".Wenn er von Xu Yushus Kindheit erzählt, sprudeln die Geschichten nur so aus ihm heraus: „Als unser Sohn ein Jahr und acht Monate alt war, habe ich ihm das erste Schriftzeichen beigebracht: Tür (门). Ich habe das Zeichen auf eine Karte geschrieben und bin dann zur Tür gegangen und habe gesagt: Das ist eine Tür.“ Danach brachte er ihm das Zeichen für Messer (刀) bei und wenige Minuten später konnte Xu Yushu die beiden Zeichen erkennen.
„Erwachsen mit drei, alt mit sieben“ ist ein Spruch, den Xu Yuanxia immer auf den Lippen trägt. Weil sich seine Begabung so früh zeigte, ließ der Vater Xu Yushu nicht in den Kindergarten gehen, sondern unterrichtete ihn bis er sechs wurde zuhause. Seit sein Sohn mit 20 Monaten die ersten zwei Zeichen gelernt hatte, brachte ihm sein Vater auf spielerische Art täglich drei neue Zeichen bei. Mit etwas über vier Jahren begann Xu Yushu selbstständig Geschichten zu lesen. Xu Yuanxia findet, dass die Erziehung seines Sohnes in diesen ersten Jahren vollkommen mühelos verlief, „weil ich auf sein Wesen einging und ihn erfolgreich angeleitet habe.“
Als Xu Yushu fünf Jahre alt war, lehrte ihn sein Vater das Gedicht Abschied von Cambridge. „Nach nur einer halben Stunde“, erzählt Xu Yuanxia, „hatte er das Gedicht schon auf dem Niveau eines Fünftklässlers erfasst. Was sagen Sie zu so einer Begabung!“ Mit sechs Jahren schrieb Xu Yushu unter der Anleitung seines Vaters einen Brief von 200 Zeichen an den Direktor der Tongnan-Volksschule, in dem er darum bat in die Schule gehen zur dürfen.
2011 wechselte Xu Yushu in die Chongqing Nanping Experimental School, seine Leistungen waren weiterhin gut, aber Xu Yuanxia merkte, dass sein Sohn sich veränderte, seit er in die Schule ging; seine Neugier auf die Welt schrumpfte, nicht wie früher, wenn er vor die Tür ging, um mit Steinen oder Pflanzen zu spielen. Auch entwickelte er nun eine Vorstellung von Geld.
Als Xu Yushu 2013 in der sechsten Klasse war, berichtete der Klassenlehrer Xu Yuanxia, dass sein Sohn in der Klasse gehänselt werde. Daraufhin sagte Xu Yuanxia zu seinem Sohn: „In dieser Welt muss man Toleranz üben und nachgeben können. Es gibt viele Dummköpfe und Nichtsnutze – aber gerade weil es die gibt, bringen sie deine Begabung besonders zur Geltung.“
2014 schloss Xu Yushu die Grundschule als Klassenbester ab und wurde auf der Fremdsprachenschule Nr. 2 in Chongqing angenommen, wo er die Unter- und Oberstufe der Mittelschule absolvierte. Seit er dort im Wohnheim wohnte, stellte sein Vater fest, begann er sehr großzügig mit Geld umzugehen. Innerhalb eines Jahres gab er zusätzlich zu den Ausgaben für Wohnen und Essen in der Schule 10.000 Yuan aus. „Ich nahm an, dass er Dinge kaufte, um sich bei seinen Schulkameraden beliebt zu machen“, sagt Xu Yuanxia. In seinen Augen wurde sein Sohn immer materialistischer und gewöhnlicher, immer mehr wie die anderen Leute.
Zu Beginn der achten Klasse änderte sich die Stimmung Xu Yushus. Wenn er nachhause kam, sprach er kaum noch, oder, um es mit den Worten seines Vaters zu sagen, zog ein Gesicht „wie wenn man ihm Geld schuldete und es nicht zurückzahlte“. 2016 geschah es einmal, dass Xu Yushu in der Schule Anstalten machte, aus dem Fenster zu springen. Der Klassenlehrer meinte, der Grund sei gewesen, dass Xu Yushu abends im Schlafsaal nach dem Löschen der Lichter noch mit seinem iPad spielte, woraufhin ein Lehrer ihm das Gerät wegnahm. Xu Yuanxia hingegen vermutet, dass sein Sohn zu dieser Zeit sexuellem Missbrauch ausgesetzt war, und er glaubt auch, dass es kein Einzelfall war. Der Autorin zeigt er einen Nachrichtenverlauf bei QQ, in dem jemand, den Xu Yuanxia als Klassenkamerad seines Sohnes identifiziert, schreibt: „Diese sexuellen Übergriffe geschahen in der siebten und achten Klasse.“
Am 7. Mai 2018 chattete Xu Yushu mit einer Klassenkameradin auf QQ. Xu Yushu schrieb: „Da ist ein Typ in Frauenkleidern, der will Analverkehr mit mir, ich habe Angst.“ Und an einem anderen Tag: „Ich hab Angst, dass er es wirklich mit mir macht, er will mich treffen …“ Weiter schrieb er dem Mädchen: „Der Typ ist aus der Nachbarklasse, er spielt Basketball.“
Im Interview mit der Autorin sagt ein Schüler der Nachbarklasse, er habe nie von so etwas gehört, die Jungs in der Klasse seien alle heterosexuell.
Zwei Klassenkameraden von Xu Yushu aus der Oberstufe erinnern sich, dass Xu Yushu wohl Beziehungen zu Jungen außerhalb der Schule erwähnt habe. Einer von beiden meint: „Es könnte etwas Sexuelles gewesen sein, aber es war nicht während der Zeit in der Oberstufe.“
In seinem Abschiedsbrief bezeichnete Xu Yushu sich selbst als „niedrige, erbärmliche Kreatur". Sein Vater fasst das so auf, dass die Ursache für Xu Yushus Depressionen sexueller Missbrauch sei, auch den Wunsch seines Sohnes, das Geschlecht zu wechseln, führt er darauf zurück. Am 25. November 2019, zwölf Tage nach Xu Yushus Selbstmord, meldete Xu Yuanxia der örtlichen Polizeidienststelle, dass Xu Yushu sexuell missbraucht worden sei. Am 11. Dezember kam die Zweigstelle Nan‘an des Büros für öffentliche Sicherheit in Chongqing nach einer Prüfung des Falles zu dem Schluss, dass es keinerlei Hinweise darauf gebe, so dass kein Verfahren eröffnet werde. Xu Yuanxia erzählt, dass die Polizei sich allerdings im Juni 2020, nachdem er einige der Hinweise auf sexuellen Missbrauch ins Internet gestellt hatte, mit ihm in Verbindung gesetzt und mitgeteilt habe, dass sie mit den Ermittlungen beginnen würden.
Auch wenn diese Nachricht sie sehr schmerzhaft traf, sagt Hu Chunyan, hätte sie selbst nicht so wie der Vater in die Privatsphäre ihres Sohnes eingegriffen und das Handy ausspioniert.
Ein Klassenkamerad von Xu Yushu aus der Grundschule offenbart, dass Xu Yushus Spitzname „Schwesterlein Xu" gewesen sei. Wenn Xu Yushu online persönliche Daten ausfüllte, so kreuzte er in der Regel „weiblich“ an und auch als Avatar wählte er weibliche Bilder. Auf einer Seite seines Freundschaftsbuches mit Kommentaren von Klassenkameraden schrieb einer: „Schwesterlein Xu, trag doch bloß keine roten Höschen mehr!“
„Mein ganzes Herz ist an diese kleinen Schachteln gebunden, die bald per Express-Sendung ankommen werden. Sie sind mein letzter Strohhalm ..." schrieb Xu Yushu in seinen „Krankheits-Notizen II“ während seines depressionsbedingten Krankenhausaufenthalts. Es war der erste Satz seiner Notizen. Xu Yuanxia sagt, er habe erst später erfahren, dass diese Schachteln Östrogene enthielten.
Xu Yushu bezeichnete die Pillen in der Schachtel als „die Augen des Sonnenuntergangs – das Licht ist so vergänglich, aber ich tat es ohne Umkehr, wissend, dass es mich in einen Abgrund gleiten lassen wird, aus dem es kein Zurück gibt". Manchmal nannte er sie auch „Büchse der Pandora“. Er schrieb: „Du weißt genau, dass das nicht geht, aber du sehnst dich immer noch nach der falschen Hoffnung am Boden der Schachtel".
„Ich sage, Schatz, das ist doch nicht die dringendste Angelegenheit, um die es geht. Was ist Geschlecht? Geschlecht ist ein biologisches Konzept, ein Verhalten, das von Menschen weitergeführt wird. Darüber kannst du nachdenken, wenn du einen Partner hast und heiratest, jetzt ist nicht die rechte Zeit dazu, jetzt ist die Zeit des Lernens". Wenn er mit Xu Yushu über dessen Identitätsstörung sprach, so der Vater, dann habe er sich an die Anweisungen des Arztes gehalten, „die Störung zu mildern und nicht zu verstärken".
Nach der achten Klasse begann Xu Yushu die Schule zu verabscheuen und wurde depressiv. Auch das Verhältnis zu seinem Vater wurde schwieriger. Xu Yuanxia sagt dazu, „es gab zwar Konflikte, aber die waren nicht sehr schwerwiegend.“ Seiner Meinung nach wurde Xu Yushus Schullaufbahn vor allem durch die Mitschüler und Lehrer beeinflusst.
In den Sommerferien 2016 fand Xu Yuanxia zwischen den Kleidern, die Xu Yushu aus der Schule mitgebracht hatte, eine Sportjacke, die in lauter Streifen gerissen war. Der Anblick brach dem Vater fast das Herz und er postete Fotos der zerrissenen Kleidung in der Social-Media-Gruppe der Eltern von Xu Yushus Klasse.
Xu Yuanxia sagt, im Mai 2019 habe er mit dem Klassenlehrer telefoniert und sich nach der Situation seines Sohnes erkundigt. „Der Klassenlehrer sagte, der Junge sei folgsam und vollkommen normal. Mich beruhigte das nicht, ich sagte ihm: Depressionen sind eine Negierung von Kummer, man darf nicht bloß die Oberfläche anschauen. Daraufhin beschimpfte mich der Lehrer am Telefon“.
Xu Yuanxia fühlt sowohl Schmerz als auch Verwirrung, er glaubt, dass sein Sohn in den ersten Jahren, als er sich selbst um seine Erziehung kümmerte, sehr talentiert und gut war. „Xu Yushu, warum bist du nicht deinem Vater gefolgt, sondern hängst lieber mit den Leuten da draußen ab? Es ist wie die sprichwörtliche Schelte, die besagt‚ wenn ein Mensch dich lehrt, bockst du, aber wenn der Teufel dich führt, dann läufst du schnell. Sollte man die Zügel der Erziehung also lieber immer in den eigenen Händen behalten oder dem Kind die Freiheit lassen, sich in der Schule freier zu entwickeln? Ich weiß heute nicht mehr, was richtig ist". Xu Yuanxia sagt, einmal habe Xu Yuanxia 2000 Yuan ausgegeben, um für seine Klassenkameraden Anime-Fanartikel zu kaufen | © Beijing Youth Daily
„Lächerlicher Clown“
Lin Quan, ein guter Freund von Xu Yushu, sagt im Interview, dass die Schulumgebung vielleicht nicht gut für Xu Yushu war. Die Probleme seien wohl vor allem seit der 7. Klasse aufgetreten.Während seiner Grundschulzeit hatte Xu Yushu einige gute Freunde gefunden, darunter Lin Quan. „Wir haben uns vielleicht manchmal gegenseitig etwas geärgert, aber das war im Spaß ohne besondere Boshaftigkeit, kleine Kinder kennen eigentlich keinen Hass. Er war introvertiert und legte sich nicht mit uns an oder so, wir sahen in ihm einfach unseren Spielkameraden". Lin Quan hielt Xu Yushu für klüger als normale Menschen, aber er sei auch kein „Genie“ gewesen. Er habe nur gerne über tiefgründige Fragen und abwegige Themen gegrübelt und einige anspruchsvoll verfasste Texte gepostet.
Im September 2014 bestanden Lin Quan und Xu Yushu beide die Aufnahmeprüfung für die Fremdsprachenschule Nr. 2 in Chongqing. Lin Quan erzählt, dass Xu Yushu mit Beginn der 7. Klasse zunehmend ausgegrenzt wurde. Aber zwischen der 7. und 9. Klasse sei das noch eher harmlos gewesen, die Klassenkameraden hätten hinter seinem Rücken über ihn gelästert und ein Urteil über ihn gefällt. Xu Yushu selbst habe zu Lin Quan gesagt, dass er sich isoliert fühle und darüber unglücklich sei. Li Quan sagt, manchmal habe Xu Yushu ihm Fotos geschickt, auf denen er in Frauenkleidern zu sehen war, er habe das als Versuch seines Freundes gesehen, Aufmerksamkeit und Bestätigung zu bekommen.
Lin Quan erinnert sich daran, dass Xu Yushu einmal ein Geschenk für eine Klassenkameradin gekauft hatte, die es aber nicht annehmen wollte. Auch der Vater erfuhr von dieser Sache, nachdem er zu Hause eine große, schwarze Tasche geöffnet und darin sieben oder acht mit lebensgroßen Anime-Figuren bedruckte Kissen und einige Poster gefunden hatte, die alle brandneu aussahen. Xu Yuanxia erzählt, Xu Yushu sei eines Tages mit dieser großen Tasche nachhause gekommen, habe sie im Wohnzimmer stehen gelassen und sich in sein Zimmer verzogen. Erst auf Nachfrage fand sein Vater heraus, dass die Sachen in der Tasche mehr als 2000 Yuan gekostet hatten und dass Xu Yushu sie seinen Klassenkameraden schenken wollte.
In der Oberstufe schien sich die Isolation und Ausgrenzung Xu Yushus zu verstärken. Lin Quan hielt in dieser Zeit weiter Kontakt zu Xu Yushu. In der 10. Klasse beschwerte sich Xu Yushu bei Lin Quan, dass viele der Mädchen in seiner Klasse ihn missverstanden und ihn oft anmachten. „Einige sahen ihn als leichtes Opfer und beleidigten ihn ziemlich schlimm, nannten ihn einen lächerlichen Clown und ähnliches. Nach seinem Selbstmord hörte ich, dass diese Klassenkameraden sagten, es sei gut, dass er tot sei."
Im Februar 2019, als Xu Yushu in der 11. Klasse war, fuhr er in den Nordosten Chinas. Er hinterließ einen Brief, in dem stand: „Es tut mir leid, macht euch keine Sorgen. Mir fehlt die Fähigkeit, schöne Dinge wahrzunehmen, obwohl ich weiß, dass es sie in meinem Leben gibt. Es ist anstrengend so zu tun, als hätte ich diese Fähigkeit, ich quäle mich durchs Leben und suche täglich nach Wegen, mich selbst zu betäuben. Ich will so nicht leben, also gehe ich weg, um irgendetwas zu finden, bitte sucht mich auf keinen Fall ... Ich liebe euch."
Das eigentliche Ziel Xu Yushus bei seinem Trip in den Nordosten war die Teilnahme an der Organisation einer Anime-Ausstellung, aber das klappte nicht. Seinem Vater zufolge hat er dort zwei Monate lang Online-Spiele gespielt, seinen Schulkameraden sagte er, er arbeite in einem Internetcafé als Webmaster.
Warum seine Mitschülerinnen mit Xu Yushu ein Problem hatten, weiß Lin Quan nicht. Er vermutet, dass es an Xu Yushus „femininem Auftreten“ lag: „Manche Leute denken, auch wenn du mich nicht provozierst, finde ich trotzdem, dass du eine seltsame Person bist", sagt Lin Quan. „Es ist einfacher für Schüler, der Menge zu folgen, es muss nur einer sagen, der Typ ist blöd, und viele werden das nachplappern.“
Xu Yushu liebte Literatur und schrieb gerne Aufsätze, er war sogar Vorsitzender der Literatur-AG seiner Schule. Er verglich das Schreiben damit, ein „Opfer darzubringen“. In einem seiner Aufsätze schrieb er: „Echtes Schreiben ist wie das Darbringen eines Opfers – sich selbst als Opfer auf den Altar der Muse zu stellen."
Xu Yuanxia erzählt, dass sein Sohn in der Unterstufe seinem Lehrer einen sehr langen Aufsatz zur Beurteilung gab, woraufhin der Lehrer ihn fragte: „Was soll das?“ In der Oberstufe schrieb er einen Aufsatz über die Liebe mit dem Titel „Bekenntnis an die längste Liebe“, darin zitierte er aus Traum der roten Kammer und Die umzingelte Festung, die Sprache war fein und sensibel. Der Aufsatz wurde mit A+ bewertet, aber sei es wegen des Inhalts oder weil die Zeichen so klein und eng geschrieben waren, jedenfalls kommentierte der Lehrer ihn mit: „Meine Augen schmerzten.” Zu seinen Klassenkameraden sagte Xu Yushu, er habe das Gefühl, die Lehrer hätten es immer auf ihn abgesehen. Gegenüber der Autorin sagten Xu Yushus Kameraden, Xu Yushu sei ziemlich empfindlich gewesen.
„Die Schule ist sehr streng, wenn es ums Lernen und das Betragen der Schüler geht", beschreibt Lin Quan seine Schule. Als in der Unterstufe das Smartphone von Xu Yushu einkassiert wurde, sollte er gemäß den Regeln der Schule ein schriftliches Formular über ein Disziplinarvergehen ausfüllen. Wie Lin Quan erklärt, müssen dann alle Klassenlehrer der Klassenstufe eines Schülers dieses Formular abzeichnen. „Es gibt aber einige Lehrer, die nicht mit sich reden lassen und sich weigern zu unterschreiben, also muss man sie anflehen, dass sie es doch tun, sonst kann man womöglich am Wochenende nicht nachhause.“
Xu Yushu beschwerte sich bei Lin Quan über die Beschlagnahmung seines Handys und die Disziplinarmaßnahme und sagte, dass er das Formular nur sehr ungern ausfüllen wolle und sehr deprimiert sei. Lin Quan lässt durchblicken, dass Xu Yushu von seinem Smartphone oder vielmehr von seinen Online-Freunden ziemlich abhängig gewesen sei. Er sagt: „Wenn Xu Yushu etwas passierte, schluckte er es runter oder sprach mit Leuten im Internet darüber, denn im realen Leben blieb er immer hinter den Erwartungen seiner Umgebung zurück und im Internet waren die Leute wahrscheinlich netter zu ihm.
Lin Quan und Xu Yushu hatten ein gemeinsames Hobby: Anime und Mangas. Einmal gab es in Chongqing eine Messe dazu und die beide gingen zusammen hin. Xu Yushu kaufte Fan-Artikel im Wert von rund 800 Yuan, auch Lin Quan kaufte einige. Xu Yushu nahm sie mit in die Schule und verstaute sie in seinem Spind. Dort wurden sie vom Erzieher gefunden, der schimpfte, das sei alles Ramsch. Nach Lin Quans Aussage habe Xu Yushu dem Lehrer später gesagt, die Sachen gehörten gar nicht ihm, sondern Lin Quan.
Lin Quan half Xu Yushu aus der Sache raus, aber von diesem Zeitpunkt an spürte er, dass das Verhalten von Xu Yushu sich merklich änderte und immer unangemessener wurde: „Xu Yushu meinte immer, die Erzieher hätten es auf ihn abgesehen.“ Lin Quan stimmt dem nicht zu: „Das stimmte eigentlich nicht, man kann sagen, dass sie zu allen Schülern streng waren.“
„Dass er später diesen Weg gewählt hat, hat sicher viele verschiedene Gründe“, meint Lin Quan, „aber einer davon sind bestimmt die Beziehungen zwischen ihm und den anderen Leuten in der Schule.“ Xu Yushus Abschiedsbrief
Verzeiht mir, ich habe alles versucht. Bevor ich noch ein weiteres Mal so dermaßen hoffnungslos sein werde, mache ich lieber rechtzeitig selber Schluss. Dass ich so hoffnungslos bin, liegt nicht an meinen niederen Taten, sondern an dem Gefühl danach. Verdruss über die üblen Folgen, keine Buße für übles Verhalten. Voller Trauer – wieder habe ich meine Grundsätze verraten und mich dann betäubt. Es gibt keine niedrigere, erbärmlichere Kreatur als mich. Ein Mensch tötet sich selbst, weil seine Lebenskraft aufgebraucht ist, auch wenn sein Leib noch lebt. Zu leben ist wirklich eine große Qual, das Essen ist ohne Geschmack und im Schlaf finde ich keine Ruhe, aber am schlimmsten ist es, wenn ich das erstarrte Lächeln aus meinem Gesicht streiche und an den Tod denke, der sich deutlich darunter abzeichnet. Denken, schreiben – das sind die Tätigkeiten, die die Lebenskraft am schnellsten verbrauchen; im Angesicht einer immer schwereren Vergangenheit, einer schwierigen Gegenwart und einer fiktiven Zukunft – ich bin nicht geeignet, sie zu schultern. Ich liebe zutiefst jene, die die Fähigkeit und den Mut dazu haben. Ich bin zu schwach, wurde einfach zu Boden gedrückt. Ich wollte ein Gelehrter werden – das sind vielleicht die ehrlichsten Worte, die ich je geschrieben habe. Gelehrte haben den Mut, alles zu schultern und ihre Worte finden Gehör. Gelehrte haben Charakterstärke, große Männer haben moralische Integrität. Leider hat das nichts mit mir zu tun. Meine Seele wird zum Geladandong-Gipfel fliegen. Früher habe ich mal spöttisch gesagt, Tibet ist die Waschmaschine für die Seelen der schöngeistigen Jugend, aber ich möchte wirklich sehr dorthin. | © Beijing Youth Daily
„Sozialer Tod“
Li Can ist vielleicht der letzte Mitschüler, der Xu Yushu lebend gesehen hat.Am Morgen des 13. November 2019 um kurz vor sieben Uhr sah Li Can Xu Yushu, der für sich allein hinten im Klassenzimmer stand. Als er wenige Minuten später noch einmal dorthin blickte, war Xu Yushu nicht mehr da. Eine Überwachungskamera zeigt, dass Xu Yushu das Klassenzimmer um 7:02 Uhr verließ und vom fünften Stock eines anderen Schulgebäudes, etwa 150 Meter entfernt, aus einem Fenster sprang.
Unterhalb des Fensters war ein Gemüsegärtchen. Als Xu Yushu entdeckt wurde, konnte er noch sprechen und wiederholte mehrmals: „Helft mir aufzustehen.“ Als sein Vater Xu Yuanxia um 8:20 Uhr im Krankenhaus ankam, sah er, dass die eine Pupille seines Sohnes sich bereits geweitet hatte, eine Rippe hatte die Lunge verletzt und er atmete schwer. Xu Yushu wurde in diesem Moment in die Intensivstation getragen. Fünf Minuten später stoppten sein Herz und sein Atem.
Da Xu Yushu am Abend zuvor ganz normal gewirkt und noch mit seinen Mitbewohnern Karten gespielt hatte, war Li Can, auch ein Mitbewohner von Xu Yushu im Wohnheim, von dem Ereignis völlig überrascht.
Im Nachhinein erinnert sich Li Can, dass Xu Yushu vielleicht doch Andeutungen gemacht hat, die auf seine Selbstmordpläne schließen ließen, aber keiner hatte das ernst genommen. „Am 12. November nachmittags hingen wir Jungs mit unseren Computern ab und spielten Spiele, da sagte er etwas kryptisch zu dem Typ neben ihm: Vielleicht gucken wir grad zum letzten Mal zusammen Videos. Keiner von uns hat in dem Moment gedacht, dass er damit zum letzten Mal im Leben meinte.“
Am selben Nachmittag ging Xu Yushu noch mit zwei Klassenkameraden auf dem Sportplatz spazieren. Dabei bemerkte er, er selbst befände sich in einem Zustand des „sozialen Todes“, aber auch das wurde von den Klassenkameraden kaum beachtet. Wie Li Can berichtet, benutzte Xu Yushu oft irgendwelche „schweren Formulierungen“, „daran waren wir alle gewöhnt, also war ein Satz zum sozialen Tod von ihm auch nicht überraschend.“
Der Ausdruck „sozialer Tod“ stammt aus dem Internet, er bezeichnet jemanden, der sich vor allen Leuten blamiert hat und dessen Blamage dann weite Kreise zieht, so dass er verspottet wird, bis er sich vor lauter Scham umbringen möchte.
Am 12. November wurde Xu Yushus Smartphone während der monatlichen Prüfungen eingezogen. Zu Li Can sagte er, er habe nicht versucht zu schummeln, sondern nur nach der Zeit geschaut. Li Can sah, dass Xu Yushu kreidebleich im Gesicht war, und fragte, ob es ihm schlecht gehe. Xu Yushu antwortete, es sei alles ok.
Li Can meint, dass Xu Youshu ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis hatte und sehr darauf achtete, was andere Menschen über ihn dachten. In der elften und zwölften Klasse prahlte Xu Yushu oft mit seinen Leistungen aus der Grundschule und Unterstufe, was seine Mitbewohner ziemlich schnell nervte: „Erzähl nicht immer von früher“, sagten sie zu ihm, „Was zählt ist, wie du jetzt stehst, das weißt du doch genau.“
Infolge seiner langen Abwesenheit von der Schule waren Xu Yushus Noten immer schlechter geworden. Einige von Xu Yushus Klassenkameraden, die ihn besser kannten, sagten der Autorin, dass er, als er in die Unterstufe an der Fremdsprachenschule Nr. 2 kam, zum oberen Notenschnitt gehörte, in der Abschlussklasse der Oberstufe hingegen fand er sich am unteren Ende. Mit solchen Ergebnissen sei es schwierig, an eine gute Uni zu kommen. Ein anderer Mitschüler meint, wenn man in einer Klassenstufe unter den ersten zehn sei, habe man Chancen auf einen Studienplatz an einer der etwa 200 renommierteren Hochschulen im Land.
Xu Yushu hatte jedoch immer den Wunsch geäußert, an der Peking-Universität zu studieren, sowohl gegenüber seiner Familie als auch seinen Mitschülern und auch sich selbst gegenüber. In einem Oberstufen-Aufsatz schrieb er: „Auch wenn es arrogant klingen mag, möchte ich behaupten, dass es kein Problem sein wird, an eine erstklassige Spitzen-Universität in China zu kommen, und wenn ich mich nur etwas anstrenge, könnte ich selbst die Peking-Universität oder die Tsinghua erobern. Außerdem ist der Zulassungsbescheid an die Chinesisch-Fakultät der Peking-Universität mein Versprechen an eine andere Person."
Im Interview mit der Autorin sagten drei Schüler, an Xu Yushus Testergebnissen sei etwas „faul“. Einmal lieh Li Can sich im Anschluss an eine Prüfung das Smartphone von Xu Yushu, um zu telefonieren. Nach Eingabe des Passworts zeigte der Bildschirm Ergebnisse in der Suchmaschine, die direkt in Zusammenhang mit der Prüfung standen. Zwar verriet Li Can nichts nach außen, aber die Klasse erfuhr trotzdem davon, „weil seine Antworten zu sehr den Standardantworten glichen, von zehn Wörtern wichen nur ein oder zwei ab", sagt Li Can.
In den Fächern Literatur und Geschichte suchte Xu Yushu oft ganz bewusst eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung. In der Abschlussklasse brachte der Lehrer einmal ein außercurriculares Thema ein, und wie Li Can sich erinnert, recherchierte Xu Yushu einen Nachmittag dazu und schlug auch später auf dem Zimmer weiterhin Informationen auf seinem Smartphone nach. Am nächsten Tag meldete Xu Yushu sich in der Klasse und sagte, er wolle über das gestrige Thema sprechen. Dann stand er auf und sprach eine halbe Unterrichtseinheit lang.
Im Geschichtsunterricht mochte es Xu Yushu, „das Wort des Lehrers zu übernehmen und zeigte sich dabei besonders aktiv“, erzählt Li Can. „Erst hörst du dem Unterricht des Lehrers zu, dann unterbricht einer und spricht und spricht ohne aufzuhören, also viele waren nur genervt davon.“ Li Can flehte Xu Yushu oft an, im Geschichtsunterricht weniger zu sprechen. Yu Hao, ein anderer Klassenkamerad sagt, „anfangs fanden wir das noch cool, aber nachdem wir ihn ständig reden hörten, hatten wir es bald satt.“
„Wenn einer sich immer in den Vordergrund drängt, kann er kaum vermeiden, auf Ablehnung zu stoßen“, meint Yu Hao.
Für die Willkommensparty zum ersten Oberstufenjahr war Xu Yushu für keinen Auftritt eingeplant, trotzdem bereitete er sich tagelang sorgfältig vor. Er kaufte ein rotes Kleid und Damenschuhe aus Leder. Li Can sah zu, wie Xu Yushu die Damenschuhe anprobierte: „Seine Füße passten nicht in die Schuhe, er musste sie hineinzwängen“, erinnert sich Li Can. Um die Schuhe einzulaufen, trug Xu Yushu sie zwei oder drei Tage lang im Schlafsaal. Am Tag der Feier riet Li Can Xu Yushu, die Frauenkleider nicht außerhalb des Schlafsaals zu tragen, doch Xu Yushu ging trotzdem in ihnen hinaus.
Am selben Tag ging Yu Hao aufs Klo und bemerkte, dass in der Nebenkabine ein Junge war, der ein japanisches Manga-Kostüm und eine Perücke trug. Da die Kabine halb geschlossen war, konnte Yu Hao nur Xu Yushus Rücken sehen. Yu Hao erinnert sich, dass ein paar Leute um Xu Yushu herum standen, sich amüsierten und noch weitere Freunde hinzuriefen.
An jenem Tag war Li Can nicht mit Xu Yushu zusammen, aber er hörte, dass einer aus der Jahrgangsstufe in Frauenkleidern herumging. Das war was Neues in der Schule, sagt Yu Hao, „wenn so etwas Ungewöhnliches in der Schule geschieht, wird da natürlich darüber diskutiert.“
Xu Yushus Verhalten hatte auch weibliche Züge. Laut Li Can zog Xu Yushu oft die Satzenden in die Länge wie einige Mädchen, und manchmal umarmte er andere männliche Schüler von hinten.
Auch sein Vater entdeckte zuhause einige Frauenkleider. Sein Sohn erklärte, die seien für eine Aufführung. Xu Yuanxia sammelte die Kleider ein und findet, er habe damit nicht überreagiert.
Li Can meint, die Lehrer der Klasse hätten sich um Xu Yushu gesorgt. Als Xu Yushu im zweiten Halbjahr der 12. Klasse mit Freunden in den Nordosten fuhr, „war es dem Klassenlehrer zu verdanken, dass er zurückkam“, sagt Li Can. „Der hat dafür gesorgt, dass er weiter den Unterricht besuchte.“ Bevor er zurückkam, habe der Klassenlehrer noch die Mitschüler instruiert, dass sie Xu Yushu unterstützen sollten.
Xu Yuanxia hat ein Bild ins Internet gestellt, auf dem der Kommentar eines Lehrers zu einem Aufsatz von Xu Yushu zu lesen ist: „Entschuldige meine Direktheit, aber du grübelst zu viel“, heißt es da. In dem Aufsatz gab Xu Yushu der Enttäuschung über das Leben und seine Situation Ausdruck. Li Can sagt, es handele sich eigentlich um ein Wochentagebuch, Xu Yushu habe es schnell vor der Abgabe der Hausaufgabe geschrieben.
„Er hatte da schon einige Emotionen hineingeschrieben, aber vieles ist seinem Schreibstil geschuldet. Viele der Aufsätze von Xu Yushu sahen so aus, wobei der Lehrer eigentlich nur die Aufgabe ausgab, ein wöchentliches Tagebuch zu schreiben, das den Alltag festhalten sollte. Wenn er dann jede Woche so kummervolle Texte lesen musste, was meinen Sie, sollte ein Lehrer da tun?“ Nach Li Cans Meinung war es nichts Besonderes, dass Xu Yushu so sentimentale Texte schrieb, erst sein Vater machte eine große Sache daraus.
Während der gesamten Oberstufe hörte Li Can Xu Yushu nur zweimal über seine Eltern sprechen – einmal beschwerte sich Xu Yushu, weil sein Vater ihm kein Geld gab, und einmal hielt er in der offenen Literaturstunde eine Präsentation und sagte: „Eltern kommt nur die Gnade zu, dich geboren zu haben, nicht aber die, dich aufzuziehen.“
Zuhause auf Xu Yushus Schreibtisch liegt das Geschenk eines Mitschülers: ein Paket Spielkarten. Es ist nicht neu, die Hülle ist so abgerieben, dass sie teilweise fast weiß ist, und an der Öffnung ist sie eingerissen. Im persönlichen Abschiedsbrief an diesen Mitschüler heißt es: „für meinen besten Freund“. Xu Yushu hat einige beste Freunde aufgezählt und geschrieben, „dass ihr meine Freunde wart (vielleicht ist das Gefühl nur auf meiner Seite), ist mir eine außerordentliche Ehre.“
Ob dieser Mitschüler ihn auch als Freund bezeichnen würde: „Nicht wirklich“, antwortet er. Auf die Frage, was wohl der Hauptgrund für seinen Freitod sei, sagt er: „Die Familie“.
Auf die gleiche Frage gibt Yu Hao eine ähnliche, aber doch andere Antwort: „Ich denke, ein Grund ist, dass Xu Yushu einige der Probleme seiner Familie und andere Probleme in die Schule mitgebracht hat, aber die Schule kann solche Risse nicht kitten, sie kann sie nur freilegen und noch verstärken. Ich denke, wir sollten niemandes Fehlverhalten ignorieren, aber die Ursache des Problems lag bestimmt nicht in der Schule."
Die Namen der Interviewten Lin Quan, Li Can und Yu Hao wurden geändert.
Verschiedene Organisationen bieten Hilfe und Auswege an. In Deutschland sind Seelsorger*innen der TelefonSeelsorge rund um die Uhr kostenlos unter den Rufnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 oder online im Chat und per E-Mail zu erreichen.
Eine Übersicht weiterer Beratungsangebote bei Krisen hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention zusammengestellt.
November 2020