„Ich lebe in einer Übergangszeit und ich nutze das anbrechende Tageslicht westlicher Zivilisation, um die Grenzen meines Weltbildes zu erweitern. Obwohl ich kaum gebildet bin, ist es doch sehr schmerzhaft für mich dran zu denken, dass die Frauen in meinem Vaterland in einer Welt der Finsternis wie trunken dahinleben, oder wie in einem Traum, ohne das geringste Wissen.“
Das schrieb Qiu Jin um etwa 1905 während ihres Studiums in Japan. Sie hatte einen klaren Blick auf die politische Situation in China und die der Frauen im Besonderen – eine Situation, die sie radikal verändern wollte, für sich, für alle Frauen, für ganz China, durch Wissen und Bildung, durch politisches Handeln.Als Qiu Jin 1875 in der südchinesischen Stadt Xiamen geboren wurde, war China ein von den imperialistischen Mächten ausgebeutetes Land, das zentrale Souveränitätsrechte verloren hatte. Xiamen (Amoy) war ein Vertragshafen: Ausländische Handels- und Marineschiffe ankerten hier, Ausländer lebten auf der Insel Gulangyu, der britischen Konzession mit eigenen Gesetzen. Der Dominanz der ausländischen Mächte stand die Ohnmacht der Qing-Regierung gegenüber, die der zunehmenden Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten kaum noch entgegenwirken konnte: Es fehlten die Steuereinnahmen, die vor den Opiumkriegen durch Außenhandel erzielt worden waren, notwendige Reformprozesse wurden nicht konsequent verfolgt. So prägte weiterhin eine patriarchalische Sozial- und Familienordnung, gestützt durch konfuzianisch legitimierte Hierarchien des Gehorsams und der Unterordnung, das Leben.
![Hafen von Amoy, China Zollboot, im Hintergrund europäische Gebäude mit verschiedenen Nationalflaggen](/resources/files/jpg1005/lossy-page1-1920px-hamnbild-amoys_hamn_i_kina_tullbt_djonker_-_sjhistoriska_museet_-_s_2763_tif-formatkey-jpg-w983.jpg)
![Qiu Jin Qiu Jin](/resources/files/jpg1005/qiu-jin-formatkey-jpg-w245.jpg)
Seit dem Entstehen der Reformbewegung, so schreibt Qiu Jin später einem Freund, hielt sie ihr eigenes Leben für nicht mehr so wichtig und war bereit, es der Rettung des Landes zu opfern. Hinzu kam ihre familiäre Situation. Sie hatte inzwischen zwei Kinder geboren und empfand ihr Leben als dem Ehemann und der Schwiegermutter gehorsame Schwiegertochter zunehmend als schwierig. Nach dem Tod ihres Vaters 1901 war ihr Mann überdies nicht bereit, sich um die mittellose Mutter Qiu Jins und ihre Geschwister zu kümmern, so dass diese gezwungen waren, nach Shaoxing zurückzukehren. Erneut musste Qiu Jin die Ohnmacht von Frauen erfahren.
Der Umzug nach Peking im Jahre 1902/03 wegen der Versetzung ihres Mannes eröffnete Qiu Jin neue Möglichkeiten. In der Hauptstadt fand sie Gleichgesinnte, vor allem Wu Zhiying 吳芝瑛 (1868–1934), eine Kalligraphin und Reformerin, kritisch gegenüber dem patriarchalischen Familienmodell. Als sie von der Möglichkeit hörte, in Japan studieren zu können, sah Qiu Jin ihre Chance, sich weiterzubilden und als Frau emanzipieren zu können. Gegen den entschiedenen Widerstand ihres Mannes gelang es ihr, die Kosten für ein Studium in Japan aufzubringen. Sie vollzog damit einen vollständigen Bruch mit Mann und Kindern – Kinder wurden stets der Familie des Ehemannes zugehörig betrachtet – und mit der patriarchalischen Familie. Nun trug sie eigenständig die Verantwortung für ihr Leben.
![Qiu Jin 1905 Qiu Jin](/resources/files/jpg1005/qiu-jin-in-1905-formatkey-jpg-w245.jpg)
Nach intensiven Japanischkursen begann Qiu Jin an einer Mädchenhochschule Pädagogik, Kunsthandwerk und Krankenpflege zu studieren. Doch wichtiger war ihre Einbindung in die Gruppen der aus China geflüchteten Reformer von 1898 und der chinesischen Studierenden, von denen viele Qiu Jins Kritik am politischen und gesellschaftlichen System Chinas teilten. Sie wurde schnell zu einer der führenden Aktivistinnen, bestimmte die politischen Debatten mit und trieb die Organisierung und Vernetzung aktiv voran. Zentrale Orte waren für sie die landsmannschaftlichen Gruppen aus Zhejiang und Hunan, die zu entschiedenen Verfechtern radikaler Veränderung zählen; Qiu Jin gehörte bald zu deren beliebtesten Rednerinnen. Sie schloss sich auch zwei Geheimgesellschaften an, deren dezidiertes Ziel der Sturz der Qing-Regierung war. Einer, eine Sektion der Triade, gehörte auch Sun Yatsen an, Qiu Jin und zwei weitere Studenten fungierten als Leiter. Gemeinsam mit Kommilitoninnen belebte sie die erste Frauen-Vereinigung wieder, die 1903 gegründete Gongaihui (共爱会, Gesellschaft für gemeinsame Liebe). Die Gesellschaft hatte, wie ihre männlichen Pendants, den Widerstand gegen die Mandschu und die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation zum Ziel.
Die Befreiung der Frauen und nationale Befreiung waren für Qiu Jin eng miteinander verknüpft.
Die revolutionären Gruppen in Tokio hielten enge Verbindungen zu Gleichgesinnten in China. Auch Qiu Jin war hier aktiv, im Frühjahr 1905 besuchte sie zu diesem Zweck auch China. Sie lernte die führenden Köpfe des Widerstandes gegen die Qing-Regierung kennen und wurde Mitglied der von Cai Yuanpei gegründeten Guangfuhui (光复会, Gesellschaft zur Wiedererstarkung), in der sich die Widerständler sammelten und die sich 1905 gemeinsam mit anderen Gruppen unter Führung Sun Yatsens zur Tongmenghui (同盟会, Revolutionäre Allianz) zusammenschloss. Sie wurde die stärkste Kraft im Kampf gegen die Qing-Regierung und sollte 1911 ihren Sturz bewirken. Qiu Jin war eine der wenigen Frauen in der Führung der Guangfuhui, sie wurde nach ihrer Rückkehr aus Japan verantwortlich für die politische Arbeit der geheim operierenden Gruppe in der Provinz Zhejiang.
Qiu Jin kehrte Anfang 1906 nach China zurück, gemeinsam mit etwa 40 Kommilitonen, die sich den neuen Restriktionen der japanischen Regierung gegenüber den politisch aktiven Studierenden nicht unterwerfen wollten. Sie unterrichtete in Zhejiang sukzessive an Mädchenschulen in Shaoxing und Nanxun, doch im Wesentlichen war sie politisch tätig: Sie machte ihre Schülerinnen mit ihren politischen Ideen bekannt, musste deshalb aber nach einigen Monaten auch die zweite Schule verlassen und widmete sich ab Sommer 1906 in Shanghai ganz dem Aufbringen von Stipendien für fortschrittliche Studierende und der Vorbereitung militanter Aktionen. Sie koordinierte die Arbeit in Zhejiang und stellte Verbindungen zu lokalen Geheimgesellschaften her, die traditionell anti-Qing eingestellt waren und die in den gesamten revolutionären Bewegungen des frühen 20. Jh. eine große Rolle spielten. Im Januar begründete sie überdies die erste Frauenzeitung Chinas, die Zhongguo Nübao (中國女報, Frauenzeitung Chinas), die zweimal erscheinen konnte. Qiu Jin formulierte hier die Einrichtung von Mädchenschulen sowie Vernetzung und Organisation der Frauen als große Ziele, die in verschiedenen literarischen umgangssprachlichen Formen ihren Ausdruck finden sollten. Die Praxis des Füßebindens wurde in der Frauenzeitung ebenso kritisiert wie arrangierte Ehen.
![Qiu Jin in Männerkleidung Qiu Jin in Männerkleidung](/resources/files/jpg1006/qiu-jin_-formatkey-jpg-w245.jpg)
Qiu Jins Kampf um die Befreiung der Frauen und die Befreiung ihres Landes und Volkes von Unterdrückung haben im kollektiven Gedächtnis Chinas ihren festen Platz. Erinnerungsschriften, ihre wieder aufgelegten Gedichte und ihre Erzählung, Geschichtsbücher, populäre Romane und Filme – zuletzt 2011 Jackie Chan und Zhang Li in The Woman Knight of Mirror Lake – zeichnen das kämpferische Leben dieser außergewöhnlichen Frau, die den Bruch mit den bestehenden Geschlechternormen durch ihre Worte und Taten deutlich machte.
März 2021