Berlinale 2021  Gibt es eine 7. Generation chinesischer Filmemacher*innen?

Screenshot vom Film Day Is Done mit einem Jungen
Day Is Done © RENCai

Eine Besonderheit der chinesischen Filmgeschichte ist ihre Zählung in Generationen. Von den Filmanfängen in China bis zur 6. Generation konnte man die noch relativ gut nachvollziehen.

Zur 1. Generation der 1910er und 20er Jahre gehören die chinesischen Filmpioniere wie Zheng Zhengqiu oder Zhang Shichuan. Die 2. Generation sind die dem sozialen Realismus verpflichteten Regisseure der 1930er und 40er Jahre: Cai Chusheng oder Sun Yu beispielsweise. Xie Jin, Cui Wei u.a. gehören zur 3. Generation der Filmemacher, die in den 1950er und 60er Jahren dem Realismus verpflichtet waren und lokale Geschichten erzählten. Die 4. Generation in den 1970er und 80er Jahren um Zhang Nuanxin und Xie Fei versuchte die Filmsprache zu revolutionieren. Zur bekannten 5. Generation zählen die Absolventen der Pekinger Filmakademie der frühen 1980er Jahre. Zhang Yimou, Chen Kaige oder Tian Zhuangzhuang verarbeiteten in ihren Filmen die eigenen leidvollen Erfahrungen mit der chinesischen Geschichte. Zur 6. Generation schließlich zählen Zhang Yuan, Jia Zhangke oder Wang Xiaoshuai. Sie begannen in den späten 1980er Jahren ihr Studium an der Filmakademie und drehten in den 1990er Jahren dann ihre ersten Filme. Auf Grundlage ihrer Erfahrungen in der Zeit der Reform und Öffnung geht es in ihnen häufig um den Konflikt von alter und neuer Zeit.
 
Diese Einteilung in Generationen zeigt die Veränderungen, wie in China Filme gemacht wurden. Seit der 3. Generation stand dabei die Pekinger Filmakademie im Zentrum. Ihre Absolventen waren für die Arbeit in den staatlichen Filmstudios vorgesehen. Aber mit der marktwirtschaftlichen Öffnung in den 1990er Jahren gerieten diese mit ihrem starren System in Schwierigkeiten. Plötzlich sollten sie eigenverantwortlich wirtschaften, dabei verstanden sie nichts von Marketing oder Verleih und verloren allmählich ihre führende Rolle auf dem Filmmarkt. Daneben hatte die Einführung einer jährlichen Quote für amerikanische Blockbuster nach Chinas WHO-Beitritt großen Einfluss auf den chinesischen Markt. Die Filmemacher der 6. Generation hatten kaum Gelegenheit, innerhalb dieses Systems zu arbeiten. Mit ihren außerhalb des Systems gedrehten Filmen gewannen sie Anerkennung bei internationalen Festivals und bekamen folgerichtig auch ausländische Gelder. Wegen dieser Rebellion gegen das System wurde vielen Filmen die Möglichkeit entzogen, offiziell in China gezeigt zu werden.

Dann drängten immer mehr private Geldgeber ins Geschäft, Filmproduktionen hatten sich nach Erfordernissen des Marktes zu richten, filmische Formen und Inhalte wurden immer vielfältiger, was es schwerer machte, eine neue Regiegeneration auszumachen. Die Frage, ob es denn eine 7. Generation gebe, verneinte Wang Xiaoshuai in Cannes 2010 ganz klar. Worauf Lu Chuan prompt konterte, er gehöre schließlich zu dieser 7. Generation. Und zehn Jahre später, auf der Berlinale 2020, sagte Jia Zhangke, er hoffe nicht, dass es eine 7. Generation geben werde.

Die Filmemacher der 6. Generation hatten kaum Gelegenheit innerhalb dieses Systems zu arbeiten. Mit ihren außerhalb des Systems gedrehten Filmen gewannen sie Anerkennung bei internationalen Festivals und bekamen folgerichtig auch ausländische Gelder. Wegen dieser Rebellion gegen das System wurde vielen Filmen die Möglichkeit entzogen, offiziell in China gezeigt zu werden.

Woher kommen diese unterschiedlichen Ansichten, wenn es um die Frage nach einer neuen Regiegeneration geht? Können nicht mal die chinesischen Filmemacher selbst diese 7. Generation klar definieren? Und was bedeutet ihre Existenz für die Filmbranche? 

Wang Xiaoshuais Ansatz war eine Kritik am Filmkonsum, da seiner Meinung nach die nach kommerziellen Kriterien gemachten Filme nichts mit Filmkunst zu tun haben. Lu Chuan ist überzeugt, die 7. Generation existiere, denn für ihn sind das die neuen kommerziellen Regisseure, die etwas von den Spielregeln des Filmkapitals verstehen. Jia Zhangke wiederum argumentiert von einem historischen Standpunkt aus, künftige Regisseure sollen nicht wieder ein kollektives Trauma durchleben, sie sollen sich frei entfalten können. Er hat dabei vor allem auf eine neue Generation von Arthouse-Filmemacherinnen im Sinn.
 
Die Kontroverse um eine 7. Generation chinesischer Filmemacher zeigt die komplizierte Beziehung zwischen Film und Markt heute, das anhaltende Tauziehen zwischen Film als Ware und Film als Kunst. Wenn Lu Chuan von einer 7. Generation spricht, dann von Filmemacherinnen, die etwas vom Warencharakter des Films verstehen und gute Geschichten erzählen, dabei den Markt im Auge behalten, um den kommerziellen Erfolg eines Films zu maximieren.

Ihnen gegenüber stehen die jungen Regisseure, die Filme um der Kunst willen machen, denen es um individuellen Ausdruck und unabhängiges Denken geht. Die aus reinem Idealismus gemachten Non-Mainstream-Filme wollen sich kommerziellen Interessen nicht unterwerfen.

2014 zeigte die Berlinale im Wettbewerb No Man's Land von Ning Hao, der der ersten Gruppe zuzuordnen ist. The Calming von Song Fang (Forum 2020) und Life After Life von Zhang Hanyi (Forum 2016) – beide Filme wurden von Jia Zhangke produziert, sowie Ma Li mit ihrem unabhängig produzierten Film Inmates (Forum 2017) gehören zur zweiten Gruppe. 
Sabrina Zhao Sabrina Zhao | © Sabrina Zhao Betrachtet man die chinesischsprachigen Filme der diesjährigen Berlinale-Auswahl, dann gehört Cheang Soi, dessen Film Limbo im Berlinale Special lief, zur ersten Gruppe, alle anderen aber zur zweiten. Neben Han Shuai, die für Summer Blur den Großen Preis der Jury für den besten Film im Wettbewerb der Generation K+ bekam, wurden Filme von Zhu Shengze (A River Runs, Turns, Erases, Replaces), Sabrina Zhao (The Good Woman of Sichuan), Livia Huang (More Happiness) und Wang Yuyan (One Thousend and One Attempts to Be an Ocean) gezeigt. Einen Silbernen Bären in der Sektion Berlinale Shorts bekam Zhang Dalei für Day Is Done, der ein eher lockeres Verhältnis zum Kommerz pflegt.
 
Livia Huang Livia Huang | © Laura Bregman Interessanterweise ist Cheang Soi, der viel von der kommerziellen Seite des Filmgeschäfts versteht, der einzige in der Reihe ohne klassische Filmausbildung, der direkt aus der Filmpraxis kommt. In den 1990er Jahren arbeitete er bereits mit 19 am Set, später wurde er Assistent von Ringo Lam und Wilson Yip. Mit ihnen erlebte er das Ende vom goldenen Zeitalter des Hongkong-Films. Cheang Soi entwickelte in dieser Zeit ein Gespür für Filmkapital und Bedürfnisse des Marktes. Han Shuai hingegen steht auf der anderen Seite des Spektrums: Selten trifft man Akademikerinnen, die zur Regie wechseln. Sie hat gerade ihre Promotion an der Pekinger Theaterakademie abgeschlossen, und obwohl Summer Blur ihr erster Langfilm ist, sieht man, dass sie sich sowohl mit Filmtheorie als auch Zuschauererwartungen auskennt.
Screenshot vom Film Summer Blur, ein Junge und ein Mädchen auf einer Treppe Summer Blur | © FactoryGateFilms Die anderen Regisseure mit Tendenz zum individuellen filmischen Ausdruck haben im Ausland Film studiert oder sind noch dabei. Zhu Shengze war zunächst in Columbia, Missouri, bevor sie an die Kunstakademie Chicago zum Bereich Film und Neue Medien wechselte. Zhang Dalei studierte Regie an der St. Petersburg State University of Film and Television. Sabrina Zhao studierte Film und Neue Medien, Literatur und Kreatives Schreiben an der New York University in Abu Dhabi. Zur Zeit macht sie ihren Master in Filmproduktion an der York University in Toronto. Die chinesischstämmige Amerikanerin Livia Huang, die in diesem Jahr einen Kurzfilm in Hakka zeigte, ist in Baltimore geboren, lebt in New York und studierte an der Columbia University und am Brooklyn College. Wang Yuyan schließlich hat an der Ecole nationale supérieure des beaux-arts de Paris und Le Fresnoy - Studio national des arts contemporains studiert.
 
Zhang Dalei Zhang Dalei | © RENCai Sie gehen ins Ausland, kehren aber dann oft zu ihren Wurzeln zurück, wo sie Inspiration suchen oder aus Erinnerungen schöpfen. Ihre Filme zeigen alle eine starke Verbindung zu Kindheit, Erinnerung und Heimat. So ging Zhu Shengze nach Wuhan zurück, um alte Erinnerungen an den Ort wachzurufen, bevor diese im rasanten Stadtumbau ganz verloren gehen. Sabrina Zhao, die Regisseurin von The Good Woman of Sichuan kommt selbst aus Sichuan und ein paar Aufnahmen aus dem Zug oder dem Frisiersalon wirken wie Dokumente aus früherer Zeit. Wuhan, wo auch Summer Blur entstand, ist zwar nicht die Heimatstadt von Han Shuai, aber sie ist hier teilweise aufgewachsen und lässt diese Erfahrungen in den Film einfließen. Die chinesisch-amerikanische Filmemacherin Livia Huang unterhält sich mit ihrer Mutter in deren Muttersprache Hakka und der Dialog wird von Erinnerungsbildern an ihre frühere Partnerin durchbrochen. Noch stärker und ungeschönt sind die Kindheitserinnerungen, in die Zhang Dalei abtaucht. Er bringt die Familie aus seinem halb-autobiografischen Film The Summer Is Gone (2016) abermals in das Haus seines Großvaters, wo er seine Kindheit verbrachte.

In diesen Vorstellungen und Erinnerungen geht es nicht um die kollektiven Erinnerungen einer Nation wie bei früheren Regiegenerationen, sondern um sehr persönliche Rückblicke auf den Raum der Kindheit. Darin kommt eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Ruhe angesichts großer gesellschaftlicher Umwälzungen zum Ausdruck. Der Vergleich von Gestern und Heute ist der Kontrast von langsamem Leben und schnellem Rhythmus, von einem Leben, das weniger materialistisch ausgerichtet war und dem Überfluss an materiellen Gütern, von warmen zwischenmenschlichen Beziehungen und virtuellen sozialen Kontakten. Wenn diese Regisseurinnen auf ihre Kindheit blicken, dann nicht, um wie frühere Generationen Unterdrückung und den Wandel der Zeiten zu zeigen, sondern eine alternative Lebensform, wie eine Utopie in slow motion. Sie haben einen anderen Blick auf ihre Kindheit: Nachdem sie ins Ausland gegangen sind, ist ihnen diese Zeit zugleich vertraut und fremd und das Verlangen danach unerwartet.

In diesen Vorstellungen und Erinnerungen geht es nicht um die kollektiven Erinnerungen einer Nation wie bei früheren Regiegenerationen, sondern um sehr persönliche Rückblicke auf den Raum der Kindheit.

Diese jungen Kreativen verstehen so einiges von der manipulativen Macht des Kapitals und suchen eigene Wege, damit umzugehen. Zhu Shengze und Sabrina Zhao, die beide eher experimentelle filmische Formen ausprobieren, haben ihre Filme selbst finanziert, denn je niedriger der Druck von Geldgebern ist, desto größer ist die künstlerische Freiheit. So können sie sich selbst treu bleiben. Das ermöglicht ihnen, von der eigentlichen Erzählung zu abstrahieren. Zhu Shengze stellt dabei die räumliche Ästhetik in den Vordergrund, wohingegen Sabrina Zhao sich frei zwischen Traum und Film im Film bewegt. Ihre Experimente entsprechen vielleicht nicht dem Geschmack der Masse. Zwar erzählen beide Geschichten von ganz gewöhnlichen Menschen, aber die Zuschauer bleiben höchstwahrscheinlich auf ein Festivalpublikum beschränkt.
 
Ein schönes Beispiel für das Tauziehen zwischen Kunst und Kapital ist der Kurzfilm Day Is Done von Zhang Dalei. Der Film folgt dem Wunsch des Regisseurs noch einmal an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, aber es wird ganz deutlich, woher das Geld für den Film kommt: In diesem Fall vom FIRST International Filmfestival und dem Autobauer Lexus. Lexus muss gar nicht in den Credits genannt werden. Eine Einstellung zeigt den kleinen Lei und seine Eltern im Auto, die Scheiben blitzblank geputzt. So bildet das Autofenster den perfekten Rahmen für die Filmfiguren, Modernität und Materialismus gewinnen die Oberhand über die im Kurzfilm erzählte Zeit und Einfachheit. Sieht man nur Anfang und Ende, denkt man, es handele sich um eine Autowerbung. Der gesamte Kurzfilm spiegelt brutal den Kompromiss von Kreativität und Realität,  die schwierige Position gerade junger Regisseurinnen gegenüber den Spielregeln des Kapitals.
Screenshot vom Film Day Is Done mit einem Jungen Day Is Done | © RENCai Hier zeigt sich die gemeinsame Herausforderung für diese Regiegeneration. Sie alle müssen ihren Platz zwischen Kunst und Markt finden, ohne sich zu verbiegen, einen Platz, der ihnen Vielfalt, Freiheit, Individualität und Unabhängigkeit ermöglicht und sie gegenüber den Verlockungen des Geldes einen kühlen Kopf bewahren lässt. Dann können sie mutiger mit filmischen Mitteln experimentieren. Mehr als die Generationen vor ihnen haben sie die Möglichkeit, die Welt kennenzulernen, ihre Beobachtetungen sind nicht nur auf das Hier und Jetzt beschränkt, darum kennen sie auch die Filmgeschichte und Filmschulen viel besser. Sie brauchen weder die alten Hierarchien noch große Diskurse und halten instinktiv Abstand gegenüber einem einheitlichen Stil und Heroismus. Auch im Umgang mit Sexualität sind sie selbstbewusster und sensibler als die früheren Generationen.

Paradoxerweise ist ihre Homogenität ihre Nicht-Homogenität. Sie mögen ähnliche Konzepte und Ideen haben, aber es ist schwierig, sie als eine Generation zu begreifen. Von den Filmthemen, über die Teams, mit denen sie arbeiten, bis zu Geldmitteln, die sie erhalten, geht jeder seinen eigenen Weg. Das schwer nachvollziehbare Label 7. Generation passt exakt zur Fragmentarisierung unserer heutigen Zeit. Genau darin liegen die Energie und die unendlichen Möglichkeiten, die wir bei den chinesischsprachigen Filmen auf der diesjährigen Berlinale gesehen haben.
 

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