Fotografie aus China  Die Flamme am Zweig

ein Mädchen hält einen Jung
Holding © Pixy Liao

Die Münchner Alexander Tutsek-Stiftung präsentiert ihre Bestände aktueller Fotografie aus China erstmals in einem umfassenden Katalog. Beim Durchblättern wandert das Auge durch ein urbanes, privates, teils poetisches China, das sich so fragmentarisch wie widersprüchlich zeigt.

Jiang Zhi (geb. 1971) fotografiert zarte Schnittblumen in Vasen oder lebendige Äste an Bäumen. Seine Arrangements nehmen Elemente der klassisch chinesischen Vogel-und-Blumenmalerei auf, erinnern aber auch an niederländische Blumenstillleben – hätte man im 18. Jahrhundert etwas von Minimalismus gehalten, anstatt auf barocke Üppigkeit zu setzen. Allerdings trügt der ruhige Schein des ästhetischen Genusses in Jiang Zhis Fotografien, denn eine durchscheinende blaue Flamme züngelt an der rosafarbenen Tulpe, am knospenden Zweig, schon bald wird die Flamme sie verzehrt haben. Die Serie Love Letters (2014) sei ein Geschenk an alle, die lieben, sagt der Künstler, und zugleich fängt er damit etwas ein, was allen Fotografien zu eigen ist: Es sind Momentaufnahmen, die einmal auf den Auslöser gedrückt bereits Vergangenheit sind.

Die Münchner Alexander Tutsek-Stiftung sammelt zeitgenössische Fotografie aus China und präsentiert die Sammlung erstmals in einem umfassenden Katalog. About Us. Young Photography in China ist der Titel des Katalogs und gleichzeitig kuratorisches Programm. Insgesamt werden 38 Künstler*innen alphabetisch sortiert mit einzelnen Werken oder Werkzyklen vorgestellt. Diesem enzyklopädischen Aufbau sind vier kontextualisierende Essays vorangestellt, die wesentliche Aspekte der Sammlung hervorheben und in die aktuellen Entwicklungen der Fotografie in China einbetten.
  Beim Durchblättern des großzügig ausgestatteten Katalogs werden für die interessierten Betrachter*innen fast beiläufig Themenbereiche deutlich, zu denen sich die zahlreichen Arbeiten gruppieren lassen. Zum Beispiel die Fotografien, die sich mit der rapiden Urbanisierung und dem damit einhergehenden sozialen Gefälle zwischen Stadt und Land sowie den Brüchen innerhalb der Metropolen beschäftigen. So dokumentiert etwa Adou (geb. 1973) in seinen melancholischen schwarz-weißen Bildern in der Serie Samandala (2006) das Leben der Yi-Minorität in Sichuan und zeigt sowohl die Einfachheit des Landlebens als auch die gravierende Armut in der Region. Wang Bing (geb. 1967) gibt mit einer ebenfalls schwarz-weißen Fotoserie dem Leben in einer abgelegenen beziehungsweise abgehängten Stadt in den Bergen von Yunnan ein Gesicht, in dem er einen Vater mit seinen beiden jugendlichen Söhnen porträtiert.

Die schillernde Großstadt in ihrer konträren Realität als Hintergrund für das moderne, schnelle Leben wird in der gefeierten Serie Girls der Fotografin Luo Yang (geb. 1984) in Szene gesetzt. Luo Yang zeigt ihre Freund*innen bei alltäglichen Verrichtungen und setzt den jungen emanzipierten Frauen des städtischen China ein international beachtetes Denkmal.

Inhaltlich schließt Pixy Liao (geb. 1979) mit ihrer Experimental Relationship Series (2014) an die Darstellung des Persönlichen an. Die Künstlerin zeigt ihre Beziehung zu ihrem fünf Jahre jüngeren japanischen Freund als sozial-politisches Fotoessay über das festgefahrene und nur langsam aufbrechende Geschlechterverhältnis in heteronormativen Zweierbeziehungen.
  Eine weitere Werkgruppe beschäftigt sich mit chinesischer Geschichte und verwendet unter anderem gefundene historische Fotos zur künstlerischen Weiterverarbeitung. Rachel Liu setzt bei ihrer eigenen Familiengeschichte an und verwandelt alte Fotos mit malerischen Eingriffen zu Kontemplationen über den Wahrheitsgehalt der Fotografie als historisches Dokument. Cai Dongdong (geb. 1978) kreiert auf der Basis von anonymen alten Fotos neue Kompositionen und öffnet die Fotografie in eine installative Richtung.

Marine Cabos-Brullé argumentiert in diesem Zusammenhang in ihrem einleitenden Essay einen „material turn” in der zeitgenössischen Fotografie in China. Viele Fotograf*innen berufen sich im digitalen Zeitalter zurück auf analoge Fototechniken. Auch Karen Smith, die mit einem historischen Überblick zur Entwicklung der Fotografie in China im Katalog vertreten ist, vertritt diese These.

Die Repräsentation des Realen bleibt im Katalog der größere Teil der gezeigten Arbeiten, die Fotograf*innen arbeiten im weitesten Sinne an und mit der Realität, um diese in ihrer künstlerischen Sprache zu artikulieren. Es gibt aber auch ein einige Fotograf*innen, die sich dem Gestellten, dem Fiktiven und dem Phantastischen zuwenden.

Gao Mingxi (geb. 1992) etwa nimmt in seiner eindrucksvollen Serie Cain and Abel (2016) das biblische Thema des Brudermordes aus dem Alten Testament auf. Gaos monochrome Bildkompositionen stehen in Bezug zu surrealistischen Fotocollagen á la Hannah Höch oder lassen an Renè Magrittes illusorisch-doppelbödige Gemälde denken. Durch Sujet und Inhalt verortet Gao sich und seine Kunst transkulturell und zeigt, dass er seine Inspirationen aus einem globalen visuellen Fundus zieht.

Cao Fei (geb. 1978) gilt als eine der einflussreichsten Künstler*innen aus China, die internationales Renommee genießt. Ihre filmisch anspruchsvollen und fast kinematografischen Videoarbeiten haben immer wieder eine nicht allzu ferne Zukunft zum Thema. So auch Nova (2019), aus dem Videostills im Katalog vertreten sind. Nova erzählt die Geschichte eines misslungenen Menschenexperiments, in dem ein Vater die neueste Technologie zur Nutzung und Optimierung des Menschen an seinem eigenen Sohn testet.

„Eine Fotografie ist nur ein Fragment, dessen Vertäuung mit der Realität sich im Laufe der Zeit löst“, schreibt Susan Sontag über die Qualitäten der Fotografie als Medium. Das Fragmentarische benennt auch Karen Smith in ihrem Essay im Katalog, in dem sie die digitale Bilderflut, der wir alle ausgesetzt sind, einen „tsunami of fragments” nennt. Und nicht nur das Foto an sich zeigt nur ein Fragment der Realität oder der Fiktion, einen Ausschnitt aus dem künstlerischen Schaffen, auch eine Sammlung der Fotografie (aus China) kann per se lediglich ein Fragment dessen sein, was aktuell in China fotografiert, dargestellt und ausgestellt wird. Der Katalog About Us. Young Photography in China der Sammlung der Alexander Tutsek-Stiftung gibt einen spannenden und breitgefächerten Einblick in das Geschehen der Fotoszene in China und lohnt nicht nur einen Blick, sondern ein interessierteres Stöbern in den Bildern.

About Us – Young Photography in China, Eva-Maria Fahrner-Tutsek, Petra Giloy-Hirtz. Hirmer Verlag, 2021. ISBN: 978-3-7774-3656-2. 39,90€
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Hirmer Verlag
Alexander Tutsek-Stiftung
 

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