Stadt und Land  „Vernunft ist wichtiger als Obsession“

Alter Mann in Sheqi
Sheqi © yì magazìn

Als man noch reisen konnte, haben wir den Schriftsteller Hei Tao (黑桃) in seiner Heimat im zur Stadt Nanyang gehörenden Kreis Sheqi besucht – dort, wo die drei Provinzen Henan, Hubei und Shaanxi aufeinandertreffen. Der Autor sprach mit uns über die Geschichte Nanyangs, seine Kindheit und das ländliche Sheqi.

Nanyang ist meine Heimat. Der Mensch ist seinem Herkunftsort tief verbunden, da geht es mir nicht anders. Nanyang liegt in einem Becken, das an drei Seiten von Bergen umschlossen wird, und das im alten China schlichtweg als die „Schüssel“ bezeichnet wurde. Man blickt hier auf eine lange Geschichte zurück. Seine glorreichsten Zeiten erlebte Nanyang vor zweitausend Jahren während der Han-Dynastie, als es, so wie heute Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen, zu den ökonomischen Zugpferden zählte.

Insbesondere in der östlichen Han-Dynastie rangierte Nanyang in seiner wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung direkt hinter der damaligen Hauptstadt Luoyang. Nanyang bildet den südwestlichen Zipfel der chinesischen Zentralebene und liegt auf der durch zwei Flüsse gebildeten Qinling-Huaihe-Linie, die das nördliche vom südlichen China trennt. Geografisch gesehen gehört Nanyang also weder zum Norden noch zum Süden. Das Klima ist eher nördlich, doch hydrologisch zählt das Gebiet schon zum Yangtse-Becken. Während die Sommer sehr heiß sind, ist es jeden Winter einen guten Monat bitterkalt. Bei uns spricht man das typische zentralchinesische Mandarin, unter das sich aber auch viele südliche Dialektwörter mischen. Beispielsweise sagen wie zu einem Löffel tiaogeng (调羹) anstatt shaozi (勺子). Eher untypisch essen wir beim Drachenbootfest keine Zongzi und dafür beim Laternenfest nur Jiaozi. Und in den Sojabohnen-Pudding kommt bei uns grundsätzlich Zucker.
 
Das heutige Nanyang ist für die Provinz Henan das, was Henan für China und China für die Welt ist: ein riesiges Territorium mit einer großen Bevölkerung und einer langen Geschichte. Auch wenn es jetzt seine besten Zeiten hinter sich hat und nicht ganz unumstritten ist.

Leben und Schreiben

Vor meinem zwanzigsten Lebensjahr bin ich nie weit über meinen Heimatort hinausgekommen. Das weiteste waren die beiden Kreisstädte Sheqi und Fangcheng, die lediglich zehn oder zwanzig Kilometer entfernt lagen. Ich hatte zunächst einfach nicht die Gelegenheit, weit zu reisen. In dieser Hinsicht hatte mir mein Vater etwas voraus: Auch wenn er durch seine bäuerliche Herkunft schon in jungen Jahren ein hartes Los hatte, war sein Bewegungsradius in seiner Jugend doch etwas größer als meiner. Wiederholt wurde mein Vater mit dem Produktionsteam in Pingdingshan und andernorts eingesetzt, um Kohlen mit einem Handkarren zu transportieren. Ich hingegen fuhr im Alter von 20 Jahren zur Hochschulaufnahmeprüfung ins 250 Kilometer entfernte Zhengzhou. Das war meine erste große Reise. Im Herbst desselben Jahres wurde ich zur Universität zugelassen und nun verschlug es mich mit einem Mal nach Xining, Provinz Qinghai, das mehr als tausend Kilometer weit weg war. Später habe ich noch in anderen Städten gelebt und gearbeitet und habe noch mehr Orte bereist. In dieser Hinsicht habe ich meinen Vater später dann doch noch übertroffen.

  Die Geschichten, die ich als Taxifahrer in Shanghai erlebte, habe ich zu einer Sammlung dokumentarischer Erzählungen verarbeitet, von denen mehr als 30.000 Zeichen in der Anthologie Reading Library (读库) veröffentlicht wurden. Und dann wieder bildeten meine Arbeitserfahrungen als Aushilfskraft bei der Regierung den Background, so tauchen sie in einem von mir verfassten Krimi wieder auf. Heute ist mein Leben nicht mehr Teil meiner Texte, und doch besteht zwischen Leben und Schriftstellerei keine klare Trennung. Es ist absolut nicht so, dass ich tagsüber meinen Geschäften nachgehe und nachts schreibe. Seit ein, zwei Jahren arbeite ich auch in dem von uns eröffneten Laden an meinen Texten. Ist im Shop wenig los, widme ich mich dem Schreiben, aber sobald ein Kunde kommt, bin ich zur Stelle. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Schriftstellerei etwas Heiliges ist. Für mich ist sie einfach eine Möglichkeit, mich auszudrücken und die Welt zu beschreiben. Wer das Schreiben übermäßig verklärt und dann scheitert, läuft Gefahr, seine Illusionen zu verlieren, um es mal überspitzt auszudrücken.

Das Schreiben und das Leben verlaufen wie zwei parallele Linien zueinander, stehen dabei aber keineswegs in einem Widerspruch.

Derzeit schreibe ich an einem langen historischen Wuxia-Roman über den Dichter Li Bai. Dabei muss ich einerseits tief in das Thema eintauchen und andererseits zum Text eine gewisse Distanz bewahren und die Sache von außen betrachten. Ich denke, beim Schreiben ist Vernunft wichtiger als Obsession. Das Schreiben und das Leben verlaufen wie zwei parallele Linien zueinander, stehen dabei aber keineswegs in einem Widerspruch. Wenn ich nicht schreiben kann, werde ich depressiv. Aber das Leben darf auch nicht zu kurz kommen, schließlich hat es so viel Schönes zu bieten.

 
  • Sheqi am See © yì magazìn
    Sheqi am See
  • Sheqi am See © yì magazìn
    Sheqi am See

Meine großartige Kindheit

Shanghai ist wie ein großer Schmelztiegel der chinesischen Gesellschaft, hier versammeln sich die größten Talente. In einer Großstadt geht es lockerer zu und man kann sich besser aus allem raushalten. Der schnelle Arbeitsrhythmus mag für andere angenehm sein, aber ich bevorzuge eher ein gemächliches Tempo. Ich mag die eher unprätentiösen Orte, ein Feld, an dessen Rand sich ein Bach schlängelt und dergleichen. Es gibt ein Gedicht von Lord Byron, das meine Einstellung auf den Punkt bringt:
 
There is a pleasure in the pathless woods, 
There is a rapture on the lonely shore, …

Nanyang ist so ein gewöhnlicher Ort mit ganz normalen Menschen.

Der Mittelpunkt der Welt ist immer da, wo man gerade lebt.

Meine gesamte Kindheit und Jugend habe ich auf dem Dorf oder in der Kleinstadt verbracht. Meine Kinderjahre natürlich in Liwan, dem Dorf, in dem ich zur Welt kam. Dort trugen die meisten Bewohner den Nachnamen Li. Es gab so etwas wie eine kollektive Blutsverwandtschaft, die auf einen General zurückgeführt wurde, der während der Chenghua-Zeit (1465–1487) in der Ming-Dynastie von Shandong in meine Heimat zog.
 
Im Dorf und in der Umgebung gab es viele spannende Orte. Mit meinen Freunden spielte ich am Fluss, im Wald oder auf den Feldern. Wir bastelten unser eigenes Spielzeug und fanden Essbares in der Natur. Im Frühling kosteten wir das zart sprießende Gras, rohe Akazienblüten und Ulmennüsse, im Sommer Maulbeeren, pelzige Pfirsiche, und Portulak und im Herbst wilde Melonen und die Beeren des Schwarzen Nachtschattens, von mir „Alltagsbohne“ genannt. Wir sammelten Abfallprodukte wie Plastikfolien, Glasflaschen oder Kupfer- und Eisenstücke, um sie gegen in der Auswahl begrenztes Knabberzeug einzutauschen. Es waren Zeiten des materiellen Mangels, und doch waren wir richtig glücklich. Ich könnte drei Tage und Nächte lang nur in Kindheitserinnerungen schwelgen. Tatsächlich habe ich schon lange vor, einen halbautobiografischen Roman über meine Kinderjahre zu schreiben: Meine großartige Kindheit. Allerdings bin nicht aus einer Kindheitsnostalgie heraus nach Nanyang zurückgekehrt – schließlich hat sich hier alles ziemlich verändert – es hatte sich einfach die Gelegenheit ergeben. Viele Menschen träumen von der Poesie des Lebens und fernen Orten und geben sich ungern mit den realen Gegebenheiten zufrieden, die sie unmittelbar vorfinden. Ich aber denke: Der Mittelpunkt der Welt ist immer da, wo man gerade lebt.
Ländliches Nanyang Ländliches Nanyang | © Zhang Zongxi

Hei Tao (黑桃), geboren in den 80er Jahren, arbeitete als Redakteur, Ladenbesitzer, Taxifahrer und Aushilfskraft bei der Lokalregierung. Seine Texte wurden unter anderem in den Literaturzeitschriften Reading Library (读库), Prose Poems (散文诗) und Hundred Gardens (百花园) veröffentlicht.

Interview geführt und wiedergegeben von Li Li.

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