Chinesischer Film 2021  Die tragischen Helden Chinas

Venus sur la rive
Venus sur la rive © Tiantong Film Co., Ltd 2021

Die tragischen Helden Chinas besitzen nicht die Größe eines Sisyphos, etwas zu tun, von dem sie wissen, dass es vergeblich ist. Sie scheinen eher im Morast zu stecken, aus dem sie sich mit einem Fuß befreien wollen, während der andere immer tiefer einsinkt.

Nachdem die Filmfestspiele Cannes im vergangenen Jahr zwar Filme ausgewählt hatten, dann aber abgesagt wurden, konnten sie in diesem Jahr unter zahlreichen Präventionsmaßnahmen und mithilfe neu entwickelter Spucktests wie angekündigt stattfinden. Es gab zwar keinen chinesischsprachigen Film im Wettbewerb, aber es liefen sechs Filme in den anderen Sektionen. Wen Shipeis Are You Lonesome Tonight? lief als Special Screening in der offiziellen Filmauswahl, Un Certain Regard zeigte Moneyboys von C.B.Yilin und Streetwise von Na Jiazuo, I'm So Sorry von Zhao Liang wurde in Le cinéma pour le climat gezeigt, Wei Shujuns Ripples of Life lief in der Quinzaine des réalisateurs und Wang Lins Venus sur la rive in ACID.

Neben dem Dokumentarfilmer Zhao Liang, einem häufigen Gast auf Filmfestivals, und Wei Shujun, der das zweite Mal in Folge dabei war, stellten die anderen vier Regisseure ihre ersten Spielfilme in Cannes vor. Wang Lin ist die einzige Regisseurin unter ihnen. Die Filme spielen alle an abgelegenen Orten in einer nicht allzu fernen Vergangenheit: 1992 bei Venus sur la rive, 1997 bei Are You Lonsome Tonight? oder 2004 bei Streetwise. Das hat den Vorteil, dass die Erinnerungen noch relativ gegenwärtig sind. Der Gegensatz von Stadt und Land oder die starren sozialen Abgrenzungen, die junge Menschen heute oft als rückständig empfinden, die Beschränkung der Frauen auf Ehe und Familie, die Disharmonie von Mensch und Natur und der Kampf der arbeitenden Bevölkerung um die nackte Existenz werfen aber auch ein Licht auf unsere Gegenwart.
  Stadt oder Land? Gehen oder bleiben? Selbstverwirklichung oder sich um die Familie kümmern? Armut akzeptieren oder ihr den Kampf ansagen? Die ersten beiden Geschichten von Ripples of Life stellen sich genau diesen Fragen. Da ist zunächst die Kellnerin eines kleinen Restaurants, die sich neben ihrer Arbeit um ihr Baby und die Eltern kümmert. Ein aus der Stadt gekommenes Filmteam zerstört ihre heile kleine Welt, bringt Glanz und Glamour der Außenwelt mit und weckt in ihr den Wunsch nach einem anderen Leben. In der zweiten Geschichte geht es um eine bekannte Schauspielerin aus eben jenem Filmteam, die ursprünglich von hier kommt. In ihrer freien Zeit trifft sie alte Freunde und denkt voller Nostalgie an ihre Kindheit zurück. Doch was sie zu sehen bekommt, ist der Traum von der Touristenattraktion, den die Stadtoberschicht imaginiert, oder aber die Unzufriedenheit und die Zänkereien der Hiergebliebenen. Wer von draußen kommt, will rein und dazugehören und wer hier ist, möchte nichts als weg. Die Fortgegangenen idealisieren das Kleinstadtleben und die Hiergebliebenen beneiden die anderen. Eine Kellnerin möchte gern Schauspielerin sein und die Schauspielerin sehnt sich nach einem normalen Leben. Die zwei Frauen und ihre Lebensentwürfe stehen sich diametral gegenüber.

  Um die Frage Stadt oder Land geht es auch in Moneyboys. Fei hat jahrelang in der Stadt als Stricher gearbeitet und ist nun in seine Heimat zurückgekehrt. Er beobachtet, wie die Touristen schon auf dem Boot ausgenommen werden und jeder im Dorf als Touristenführer arbeiten will, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Die Orte in Streetwise und Are You Lonesome Tonight? sind von jungen Menschen verlassen, geblieben sind nur die Alten. Zurückbleiben, das heißt ein Tag ist wie der andere, nichts passiert, pure Monotonie. Aber weggehen? Ins Unbekannte vorstoßen? Die Welt da draußen empfängt einen nicht immer mit offenen Armen, wie Fei und Long aus Moneyboys in der bunt glitzernden Stadt erfahren müssen, oder auch die Schauspielerin aus Ripples of Life, die zwar innerlich einsam, aber immerhin ein anderes Leben führt.
 
Das ist das Paradoxe in Zeiten von rapider Verstädterung und Kapitalismus, egal ob man bleibt oder geht, die Protagonisten dieser Filme sind vom Leben gebeutelt und geben die tragischen Helden Chinas ab. Oder wie es in Ripples of Life heißt: Es ist wie in einem Tschechow-Drama, man erwartet Liebe und Veränderung, aber nichts davon trifft ein. Ihr Drama ist, dass sie auf sich allein gestellt sind. Es gibt keinerlei soziale Unterstützung, einzig die Familie kann einen auffangen. Doch die nicht mehr funktionierenden Familienbande können die Verantwortung oft nicht tragen und so kämpft jeder für sich. Die tragischen Helden Chinas besitzen nicht die Größe eines Sisyphos, etwas zu tun, von dem sie wissen, dass es vergeblich ist. Sie scheinen eher im Morast zu stecken, aus dem sie sich mit einem Fuß befreien wollen, während der andere immer tiefer einsinkt. Dongzi in Streetwise bekommt die Chance, dem Leben auf der Straße zu entkommen und mit seiner Geliebten Jiu Er irgendwo ein neues Leben anzufangen. Doch als das Boot der beiden am Ufer anlegt, bekommt er Mitleid mit seinem spielsüchtigen, gewalttätigen, aber schwerkranken Vater und fährt alleine zurück. Fei in Moneyboys verkauft seinen Körper für Geld, das er für medizinische Behandlungen nach Hause schickt und wird trotzdem von der Familie wegen seiner Homosexualität abgelehnt.
 
Noch härter trifft es die jungen Frauen, die Ehefrauen und Mütter ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen fahren lassen müssen. Die Kellnerin in Ripples of Life muss gehässige Bemerkungen ihres Mannes erdulden, als sie das Kind abstillen will, und ihre Schwiegermutter mokiert sich über ihre manikürten Nägel. Die junge Mutter ist unglücklich und deprimiert, sucht aber den Fehler bei sich, dabei kann sie nicht einen Schritt machen, ohne dass sie jemand zurückhält. Als das Filmteam wieder einmal in ihrem Restaurant "das authentische Leben spüren" möchte, holt sie mit einem Köcher einen lebenden Fisch aus dem Aquarium. Der ist wie sie, versucht mit ganzer Kraft zu entkommen, aber wird auf dem Brett k.o. geschlagen und rasch entschuppt. Selbst wenn diese Frauen der Ehe entkommen können, so doch nicht den ehelichen Fesseln. Jiu Er in Streetwise wird von ihrem brutalen Ex schikaniert, dem Kopf einer Schuldeneintreiberbande. Liang in Are You Lonsome Tonight? weiß nach dem Verlust von Mann und Sohn nichts mit sich anzufangen, und die Schwester aus Moneyboys bleibt mit den Alten im Dorf zurück.

  Venus sur la rive nimmt eine ganz und gar weibliche Perspektive ein. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Umwälzungen der 1990er Jahre mit dem Übergang von der Kollektiv- zur Privatwirtschaft und der Öffnung des Landes zeigt der Film sechs Frauen aus drei Generationen, zeigt wie ein Mädchen zur Frau wird, aus verheirateten Menschen geschiedene werden oder gesunde Frauen plötzlich erkranken. Es ist die Perspektive von Qiqi, einem Mädchen mit kurzen Haaren, das voller Neugier und Naivität alles um sich herum beobachtet. Wer muss da nicht gleich an Edward Yangs kleinen Protagonisten aus Yi Yi denken? Qiqis Mutter hat am Anfang dickes langes Haar. Lange Porträteinstellungen zu Beginn erinnern an Yasujiro Ozu: Die lachende Ying Ying, die Tante als resoluter Fabrikkader, die jüngere Tante und ihr amerikanischer Traum, dabei ist sie nur eine frustrierte Hausfrau. Die pubertierende Cousine macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen, die von der damaligen konservativen Gesellschaft nicht gern gesehen sind, und die schweigsame Großmutter kann ihre Gefühle allein durch Kochen ausdrücken. In einer Familie, in der Männer abwesend sind, gehen die sechs Frauen gemeinsam einer ungewissen Zukunft entgegen.
 
Die diesjährigen chinesischsprachigen Cannes-Beiträge waren auch formell experimentierfreudig und zeigten die kreative Energie dieser neuen Regiegeneration. Ripples of Life hat vor dem Dreh das gesamte Drehbuch verworfen, um die drei Geschichten noch freier zu entwickeln, vom Traum der Kellnerin als Schauspielerin vor der Kamera zu stehen, über die vergebliche Sehnsucht der Schauspielerin nach dem einfachen, authentischen Landleben, hin zum dritten Teil, einem unversöhnlichen Disput zwischen Regisseur und Drehbuchautor. Das ist nicht nur originell, sexuell frei, organisch und theatralisch, sondern durch die Film-im-Film-Struktur wird der Film zur selbstironischen Metaerzählung.
 
Mit subtiler Komik wird die Scheinheiligkeit in den menschlichen Beziehungen aufs Korn genommen. Etwa wenn die Schauspielerin sich heimlich mit ihrem Jugendfreund treffen möchte, aber mit einem Drachen-und-Löwentanz herzlich begrüßt und schließlich in einer Sänfte davongetragen wird. Die Filmcrew wiederum umgarnt Investoren, schmeichelt sich bei der Schauspielerin ein, aber mit der Kellnerin, die für sie unwichtig ist, flirten sie lediglich ein bisschen. Als der Regisseur sich schließlich mit einem bekannten Kritiker über Kunst unterhält und möchte, dass der ihm beim Drehbuch hilft, kommt es wegen Meinungsverschiedenheiten dazu, dass der anscheinend so weltgewandte Kritiker ihn wüst beschimpft.

Die diesjährigen chinesischsprachigen Cannes-Beiträge waren auch formell experimentierfreudig und zeigten die kreative Energie dieser neuen Regiegeneration.

Die Experimentierfreudigkeit von Venus sur la rive besteht in einer Kameraführung, die der reinen Bebilderung der Geschichte enthoben wurde und nun einen befreiten Sinn für das wirkliche Leben entwickelt. Da sieht man von der Höhe des Kassenschalters im Krankenhaus aus Qiqis Mutter nach rechts abgehen, als ob die Kamera vergessen hätte, wer hier die Hauptrolle spielt, nur um dann von der Krankenschwester am Schalter in die Büros zu schwenken, wo hinter einer halbgeschlossenen Tür eine Krankenschwester mit Wolle rumspielt. Kamerasprache und Erzählung passen perfekt, wenn mit einem Match-Cut, einer Technik der Filmmontage, bei der in eine Bewegung hinein geschnitten und diese in einem anderen Bildmotiv fortgesetzt wird, die beiden heimlichen Treffen von Qiqis Cousine und der Tante gezeigt werden. Ihre jeweiligen Partner sind bereits die Treppe hinaufgegangen und blicken sich nach den Frauen um. Die Opposition von oben und unten, früher und später korrespondiert hier mit dem Tauziehen von Männern und Frauen um die Macht. Eine im chinesischen Film eher seltene Magie zeigt sich gegen Ende des Films: Eine Gruppe prächtig gekleideter Frauen am Flussufer betrachtet Qiqi, die in einem Blumenboot liegt, und begrüßt sie fröhlich. Die Kamera folgt Qiqis von der Sonne geblendetem Blick stromabwärts. Qiqi geht ans Ufer und man sieht, wie ihre Mutter am Fenster ihr zulächelt. Das Traumbild zeigt sie wohlgenährt und gar nicht von Krankheit gezeichnet. Die Venus aus der griechischen Mythologie ist die Göttin der Liebe, Fruchtbarkeit und Schönheit. Die Frauen in Venus sur la rive sind verschiedene Verkörperungen dieser Frau, sind das sich wild entwickelnde Leben am Flussufer.

  Der Dokumentarfilm I'm So Sorry von Zhao Liang vereint zum ersten Mal so viele verschiedene Schauplätze in einem Film. Er legt seinen Fokus auf die globale Lage nach den Atomkatastophen, um über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kernenergie zu reflektieren. In ruhigen Kameraeinstellungen fängt er Fukushima, das kasachische Versuchsgelände für Atomwaffen und Chernobyl ein. Er filmt die Proteste gegen ein unterirdisches Endlager für Atommüll an der Westküste Finnlands, die wöchentlich stattfindenden Antiatomkraft-Demos auf den Straßen von Tokio, aber auch körperlich und geistig behinderte Waisenkinder in den Katastrophengebieten, Arbeiter, die in den Anlagen beschäftigt waren und alte Menschen, die wieder in ihre Häuser im Katasrophengebiet zurückgekehrt sind.
 
Niemand dieser Menschen lebt für sich allein, ihr Leben wurde unwiderruflich von der Politik beeinflusst. Aus dem Off erklingen ferne Prosagedichte. Zwischen den Aufnahmen aus  verschiedenen Erdteilen sieht man Masken tragende No-Theater-Darsteller, die über Ruinen laufen, die hin- und herwandern, halb Mensch, halb Geist, traurig und fröhlich, Yin und Yang, ohne Ort, an dem sie bleiben können. Letztendlich schuf der globale unmäßige Konsum die Abhängigkeit des Menschen von der Kernenergie und den Bedarf an immer mehr Energie. Der chinesische Filmtitel ließe sich mit Kein Ort nirgends übersetzen, wohingegen der englische Titel I'm So Sorry wie eine Entschuldigung an die Erde klingt. Und in der Tat sollte es uns leidtun.

Als das Filmteam in Ripples of Life einen Drehort sucht, sieht es inmitten vergessener Ruinen einen leeren Fensterrahmen und der Regisseur fragt: Hat der nicht das klassische Filmformat 4:3? Und als er die neuen Häuser gegenüber sieht: Ist das nicht, als ob man im Film die Geschichten von anderen sieht? Die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes waren nach mehr als einem Jahr der die Welt beherrschenden Coronapandemie ebenfalls wie ein Fenster inmitten von Ruinen.
 

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