Die tragischen Helden Chinas besitzen nicht die Größe eines Sisyphos, etwas zu tun, von dem sie wissen, dass es vergeblich ist. Sie scheinen eher im Morast zu stecken, aus dem sie sich mit einem Fuß befreien wollen, während der andere immer tiefer einsinkt.
Nachdem die Filmfestspiele Cannes im vergangenen Jahr zwar Filme ausgewählt hatten, dann aber abgesagt wurden, konnten sie in diesem Jahr unter zahlreichen Präventionsmaßnahmen und mithilfe neu entwickelter Spucktests wie angekündigt stattfinden. Es gab zwar keinen chinesischsprachigen Film im Wettbewerb, aber es liefen sechs Filme in den anderen Sektionen. Wen Shipeis Are You Lonesome Tonight? lief als Special Screening in der offiziellen Filmauswahl, Un Certain Regard zeigte Moneyboys von C.B.Yilin und Streetwise von Na Jiazuo, I'm So Sorry von Zhao Liang wurde in Le cinéma pour le climat gezeigt, Wei Shujuns Ripples of Life lief in der Quinzaine des réalisateurs und Wang Lins Venus sur la rive in ACID.Neben dem Dokumentarfilmer Zhao Liang, einem häufigen Gast auf Filmfestivals, und Wei Shujun, der das zweite Mal in Folge dabei war, stellten die anderen vier Regisseure ihre ersten Spielfilme in Cannes vor. Wang Lin ist die einzige Regisseurin unter ihnen. Die Filme spielen alle an abgelegenen Orten in einer nicht allzu fernen Vergangenheit: 1992 bei Venus sur la rive, 1997 bei Are You Lonsome Tonight? oder 2004 bei Streetwise. Das hat den Vorteil, dass die Erinnerungen noch relativ gegenwärtig sind. Der Gegensatz von Stadt und Land oder die starren sozialen Abgrenzungen, die junge Menschen heute oft als rückständig empfinden, die Beschränkung der Frauen auf Ehe und Familie, die Disharmonie von Mensch und Natur und der Kampf der arbeitenden Bevölkerung um die nackte Existenz werfen aber auch ein Licht auf unsere Gegenwart.
Das ist das Paradoxe in Zeiten von rapider Verstädterung und Kapitalismus, egal ob man bleibt oder geht, die Protagonisten dieser Filme sind vom Leben gebeutelt und geben die tragischen Helden Chinas ab. Oder wie es in Ripples of Life heißt: Es ist wie in einem Tschechow-Drama, man erwartet Liebe und Veränderung, aber nichts davon trifft ein. Ihr Drama ist, dass sie auf sich allein gestellt sind. Es gibt keinerlei soziale Unterstützung, einzig die Familie kann einen auffangen. Doch die nicht mehr funktionierenden Familienbande können die Verantwortung oft nicht tragen und so kämpft jeder für sich. Die tragischen Helden Chinas besitzen nicht die Größe eines Sisyphos, etwas zu tun, von dem sie wissen, dass es vergeblich ist. Sie scheinen eher im Morast zu stecken, aus dem sie sich mit einem Fuß befreien wollen, während der andere immer tiefer einsinkt. Dongzi in Streetwise bekommt die Chance, dem Leben auf der Straße zu entkommen und mit seiner Geliebten Jiu Er irgendwo ein neues Leben anzufangen. Doch als das Boot der beiden am Ufer anlegt, bekommt er Mitleid mit seinem spielsüchtigen, gewalttätigen, aber schwerkranken Vater und fährt alleine zurück. Fei in Moneyboys verkauft seinen Körper für Geld, das er für medizinische Behandlungen nach Hause schickt und wird trotzdem von der Familie wegen seiner Homosexualität abgelehnt.
Noch härter trifft es die jungen Frauen, die Ehefrauen und Mütter ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen fahren lassen müssen. Die Kellnerin in Ripples of Life muss gehässige Bemerkungen ihres Mannes erdulden, als sie das Kind abstillen will, und ihre Schwiegermutter mokiert sich über ihre manikürten Nägel. Die junge Mutter ist unglücklich und deprimiert, sucht aber den Fehler bei sich, dabei kann sie nicht einen Schritt machen, ohne dass sie jemand zurückhält. Als das Filmteam wieder einmal in ihrem Restaurant "das authentische Leben spüren" möchte, holt sie mit einem Köcher einen lebenden Fisch aus dem Aquarium. Der ist wie sie, versucht mit ganzer Kraft zu entkommen, aber wird auf dem Brett k.o. geschlagen und rasch entschuppt. Selbst wenn diese Frauen der Ehe entkommen können, so doch nicht den ehelichen Fesseln. Jiu Er in Streetwise wird von ihrem brutalen Ex schikaniert, dem Kopf einer Schuldeneintreiberbande. Liang in Are You Lonsome Tonight? weiß nach dem Verlust von Mann und Sohn nichts mit sich anzufangen, und die Schwester aus Moneyboys bleibt mit den Alten im Dorf zurück.
Die diesjährigen chinesischsprachigen Cannes-Beiträge waren auch formell experimentierfreudig und zeigten die kreative Energie dieser neuen Regiegeneration. Ripples of Life hat vor dem Dreh das gesamte Drehbuch verworfen, um die drei Geschichten noch freier zu entwickeln, vom Traum der Kellnerin als Schauspielerin vor der Kamera zu stehen, über die vergebliche Sehnsucht der Schauspielerin nach dem einfachen, authentischen Landleben, hin zum dritten Teil, einem unversöhnlichen Disput zwischen Regisseur und Drehbuchautor. Das ist nicht nur originell, sexuell frei, organisch und theatralisch, sondern durch die Film-im-Film-Struktur wird der Film zur selbstironischen Metaerzählung.
Mit subtiler Komik wird die Scheinheiligkeit in den menschlichen Beziehungen aufs Korn genommen. Etwa wenn die Schauspielerin sich heimlich mit ihrem Jugendfreund treffen möchte, aber mit einem Drachen-und-Löwentanz herzlich begrüßt und schließlich in einer Sänfte davongetragen wird. Die Filmcrew wiederum umgarnt Investoren, schmeichelt sich bei der Schauspielerin ein, aber mit der Kellnerin, die für sie unwichtig ist, flirten sie lediglich ein bisschen. Als der Regisseur sich schließlich mit einem bekannten Kritiker über Kunst unterhält und möchte, dass der ihm beim Drehbuch hilft, kommt es wegen Meinungsverschiedenheiten dazu, dass der anscheinend so weltgewandte Kritiker ihn wüst beschimpft.
Die diesjährigen chinesischsprachigen Cannes-Beiträge waren auch formell experimentierfreudig und zeigten die kreative Energie dieser neuen Regiegeneration.
Niemand dieser Menschen lebt für sich allein, ihr Leben wurde unwiderruflich von der Politik beeinflusst. Aus dem Off erklingen ferne Prosagedichte. Zwischen den Aufnahmen aus verschiedenen Erdteilen sieht man Masken tragende No-Theater-Darsteller, die über Ruinen laufen, die hin- und herwandern, halb Mensch, halb Geist, traurig und fröhlich, Yin und Yang, ohne Ort, an dem sie bleiben können. Letztendlich schuf der globale unmäßige Konsum die Abhängigkeit des Menschen von der Kernenergie und den Bedarf an immer mehr Energie. Der chinesische Filmtitel ließe sich mit Kein Ort nirgends übersetzen, wohingegen der englische Titel I'm So Sorry wie eine Entschuldigung an die Erde klingt. Und in der Tat sollte es uns leidtun.
Als das Filmteam in Ripples of Life einen Drehort sucht, sieht es inmitten vergessener Ruinen einen leeren Fensterrahmen und der Regisseur fragt: Hat der nicht das klassische Filmformat 4:3? Und als er die neuen Häuser gegenüber sieht: Ist das nicht, als ob man im Film die Geschichten von anderen sieht? Die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes waren nach mehr als einem Jahr der die Welt beherrschenden Coronapandemie ebenfalls wie ein Fenster inmitten von Ruinen.
September 2021