yì magazìn: Du hast einmal gesagt: Die „künstlerische Renaissance des Nordostens“ vollzieht sich hauptsächlich vor dem Hintergrund der Umbrüche in den 1990er Jahren. Wie siehst du den kulturellen Trend, dass Künstler die Region Dongbei zum Thema ihrer Arbeit machen (etwa die Schriftsteller aus dem Nordosten oder Videokünstler wie du und Wang Bing)?
Wang Tuo: Die räumliche und zeitliche Zerrissenheit Nordostchinas zeigt sich für mich in zweierlei Hinsicht. Zum einen bilden die 1990er Jahre einen wichtigen zeitlichen Orientierungspunkt im Narrativ über den Nordosten. Obwohl oder womöglich gerade weil die Menschen durch die Umbrüche in ihrem konkreten Leben äußerst schmerzhafte Veränderungen erlebten, gab es, vielleicht abgesehen von der Anfangsphase der Vierten-Mai-Bewegung, wohl nie zuvor in China eine Zeit mit so vielen Hoffnungen und Zukunftserwartungen wie in den 1990er Jahren und um die Jahrtausendwende.
Nun, da bereits zwei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts vergangen sind, überkommt die Menschen mit einem Mal die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Wahrscheinlich weil in diesem Moment alle Zukunftshoffnungen erloschen sind, wie bei einer Welle, die sich erschöpft zurückzieht. Nun suchen die Menschen in der Musik, den Filmen und der Literatur der 1990er Jahre nach ihren früheren Idealen, nur um gestrige Tage in einem Lied noch einmal aufleben zu lassen.
Der Nordosten ist in sich zerrissen, das Gefühl des Verlusts vermischt sich mit Veränderung, Verzweiflung mit Hoffnung. Zweitens sieht man an der Geschichte der Region Dongbei, dass es etwas einseitig wäre hier nur eine tragische Abwärtsbewegung zu erkennen. Interessant ist hierzu ein nur halb scherzhaft gemeintes Gedankenspiel: Der Nordosten sei in seiner Art eben gerade nicht rückständig, sondern der Entwicklung noch voraus; der sogenannte Niedergang der Industrialisierung sei darauf zurückzuführen, dass der Fortschritt hier schon früher einsetze; die scheinbare Rückschrittlichkeit bedeute in Wirklichkeit, sich mit einem Schritt zurück an die Spitze des Landes zu setzen; man mache den ersten Schritt und als nächstes werde das ganze Land dem Beispiel Dongbeis folgen. Diese amüsante Bemerkung bingt die zeitliche und räumliche Zerrissenheit Nordostchinas auf den Punkt.
Der Nordosten ist in sich zerrissen, Gefühle des Verlusts vermischen sich mit Veränderung, Verzweiflung mit Hoffnung.
Wie bist du darauf gekommen, den Nordosten ins Zentrum ihres künstlerischen Schaffens zu rücken? Welche Bedeutung und Besonderheiten schwingt für dich in dem Wort Dongbei mit?
Über den Nordosten als „Thema“ habe ich mir ebenso wenig Gedanken gemacht wie über den Umstand, dass das Wort im Titel der Northeast Tetralogy auftaucht. Dahinter verbirgt sich keine tiefere Absicht. Meine Eltern und Jugendfreunde sind immer in Changchun geblieben und ich habe sie all die Jahre vermisst, in denen ich nicht zu Hause war. Als ich jedoch hierher zurückkam, musste ich damit beginnen, meinen inneren Widerspruch zwischen Flucht und Heimkehr allmählich aufzulösen.
Früher als Heranwachsender schien ich irgendwie nicht in den Nordosten zu passen, meinen Eltern ging es genauso. Diese Unangepasstheit bezog sich vor allem auf das Sozialverhalten. Im Nordosten kommt es sehr auf das soziale Miteinander und die gesellschaftliche Einbindung an. So wie ich damals war, habe ich nur darüber nachgedacht, wie ich all dem entfliehen könnte. Das lag auch daran, dass Erwachsene und Freunde mich für wenig eloquent und geschickt hielten und mir im Nordosten keine großen Chancen gaben. Erst als ich in der Welt weit herumgekommen war, konnte ich mich allmählich mit meinem früheren Selbst versöhnen.
Nachdem ich wieder einige Zeit zu Hause wohnte, wurde mir bewusst, dass ich einfach ein Spätzünder war. Während ich langsam in meine Heimatsprache zurückfand, flackerten auch wieder die Schatten der Vergangenheit auf. Kreativität kann ein Weg der Erkenntnis sein. Die feinen Sedimente der Vergangenheit waren wie Schatten, die nach und nach ans Licht drängten. Die Ungerechtigkeit, die einem als Kind widerfuhr, die Gewalt, die du miterlebt hast und die Geschichte der sogenannten „Befreiung“ Changchuns, über die die ältere Generation schwieg wie ein Grab. All das ließ sich nicht verdrängen.
Solch ein kreativer Prozess und seine Ziele mögen sehr ambitioniert erscheinen, aber in Wirklichkeit ging es mir nur darum, einige meiner persönlichen Schattenseiten und Blockaden zu verstehen. Wenn man hier als Mensch lebt, muss man sich den eigenen blinden Flecken stellen. Da bleibt keine Zeit, sich um irgendwelche Besonderheiten des Nordostens Gedanken zu machen. Ich habe schon früher über die Beziehung zwischen Reisenden und ansässiger Bevölkerung gesprochen. Es ist so, dass der Reisende in seiner typischen Perspektive eines Außenstehenden etwas immer als besonders erkennt, also als charakteristisch. Diese Besonderheiten bilden für die indigene Bevölkerung jedoch das „Fundament ihrer Existenz“, das für sie keineswegs erstaunlich, sondern ganz selbstverständlich ist. Etwas, woran man keinen Gedanken verschwendet. Wenn über etwas nicht gesprochen wird, dann, weil es sich erübrigt darüber zu reden; wird etwas zum Thema, beruht das stets auf einer inneren Übereinkunft. Diese Art von Übereinkunft (als Betrachtung der Andersartigkeit aus einer inneren Perspektive) ist allgegenwärtig und unvermeidlich. Letztlich grenzt man sich dadurch ab. Beispielsweise habe ich behauptet, dass das, was man gemeinhin als typisch nordostchinesisch versteht, auf so einer immer wieder sich selbst verstärkenden Übereinkunft beruht.
Solche Übereinkünfte gibt es natürlich nicht nur in Nordostchina, und den Hang zur Selbstdarstellung findet man nicht nur bei Menschen dieser Region. Doch hat es mit einer Übereinkunft über das Selbstdarstellerische Folgendes auf sich: Wenn die Menschen erwarten, dass man an einem bestimmten Ort Humor hat, muss man ganz instinktiv eine Show abziehen. Denken die Leute, dass ein Menschenschlag in einer bestimmten Region geizig ist, wird man dort ganz automatisch zum Pfennigfuchser. Meine Kunst ist häufig ein Prozess, bei dem ich vom Wechsel zwischen zwei Perspektiven zu einer Verschmelzung gelange. Es macht den Eindruck von Zerrissenheit, aber es kristallisiert sich dabei heraus, was mir wichtig ist. Im wirklich Unwichtigen hingegen bestätigt sich vielleicht die Vorstellung des anderen, ob nun absichtlich oder nicht.
Zhang Koukou (geboren 1983 in einem südlichen Vorort der Stadt Hanzhong, Provinz Shaanxi, wird 1996 Zeuge, wie seine Mutter von einem Nachbarn mit einem Holzprügel erschlagen wird. 2018 ersticht er den Täter mit einem Messer, um seine Mutter zu rächen und wird deswegen zum Tode verurteilt) und Guo Qinguang (1896-1919, gebürtig aus Wenchang in Hainan, Student der Peking-Universität und einer der berühmten „Märtyrer der Vierten-Mai-Bewegung“) stehen beide in keiner Beziehung zu Nordostchina. Warum haben Sie die Figuren in die „Northeast Tetralogy“ aufgenommen und weshalb haben Sie die Extremtat der „Rache“ als Thema gewählt, um über den Nordosten zu erzählen?
Das Subjekt eines Rachenarrativs ist immer ein Individuum. Wenn ich als künstlerischen Ausgangspunkt für die Northeast Tetralogy die Rache wähle, möchte ich tatsächlich andeuten, dass sich hinter der Gefühlstat der Rache ein größeres Thema verbirgt. Der eigentliche Gegenstand der Northeast Tetralogy ist zumindest für mich nicht der Nordosten. Ich möchte durch den Blick auf die neuere Geschichte zu einer Betrachtung unserer momentanen Situation kommen und so eine Lösung für mein persönliches Dilemma finden. Das Thema hinter der Rachegeschichte bildet gleichzeitig die wesentliche Verbindung zwischen Zhang Koukou und Guo Qinguang. Was diese beiden Todesfälle, zwischen denen hundert Jahren liegen, verbindet, sind die zwei komplementären Ideen hinter diesen beiden Charakteren, nämlich zum einen Zhang Koukous Rache für seine Mutter und zum anderen Guo Qinguangs Bild von China als einer gedemütigten und verletzten Mutter im Jahr 1919. Das ist der sogenannte irrationale Zusammenhang, der mir im Verlauf des langen Schaffensprozesses allmählich bewusst wurde.
Erst so hat sich aus der Northeast Tetralogy eine Dringlichkeit des historischen Bewusstseins entwickelt. In dem Video Tungus (通古斯) gibt es eine Szene, in der sich eine Gruppe weiß gekleideter Studenten während der Proteste in einem Teehaus ausruht. Das Bild zoomt allmählich heran, bis die jungen Leute ihren Blick schließlich langsam in die Kamera richten. Es ist, als würde die Mauer der Zeit in diesem Moment lautlos in sich zusammenbrechen. Durch diesen Blick von der anderen Seite der Zeit wird ein ganzes Jahrhundert überbrückt, sie blicken in die Gegenwart, für die Zhang Koukou und das Publikum stehen.
Ich hatte zuvor eine Aufnahme gesehen, auf der eine Gruppe von Studenten während der Bewegung des 4. Mai an der Peking-Universität in einem Klassenzimmer der juristischen Fakultät festgehalten wurde. Man konnte sich beim Betrachten des Fotos vorstellen, dass es das unerwartete Eindringen des Fotografen war, das die erschöpften Studenten unbewusst dazu veranlasst hatte, den Kopf zu heben und so verwirrt wie hoffnungsvoll in die Kamera zu blicken. Diese Studenten scheinen uns zu fragen, ob der Traum, für den sie sich geopfert haben, hundert Jahre später Wirklichkeit geworden ist. Ich habe einmal gesagt, dass die Northeast Tetralogy uns implizit den Hinweis gibt, die Bewegung des 4. Mai mit neuen Augen zu betrachten. Von einer ausgedehnteren Zeitskala und aus dem Blickwinkel der Zukunft gesehen stecken wir in diesem Moment vielleicht selbst noch mitten in dieser Bewegung und müssen noch länger abwarten.
Plakat zu “Wang Tuo, Empty-handed into History” | Mit freundlicher Genehmigung des UCCA Center for Contemporary Art Was den Fall von Zhang Koukou angeht, so denke ich, dass dieser den Widerspruch zwischen dem von den Chinesen gemeinhin verinnerlichten traditionellen chinesischen Moralsystem und dem vom Westen übernommenen Justizsystem widerspiegelt. Dieses Gefühl der Zerrissenheit erinnert einen stark an die derzeitige Situation Nordostchinas beziehungsweise stellt es eine Verdichtung der aktuellen Realität dar.
Der Schamanismus zieht sich als roter Faden durch die Northeast Tetralogy, wie kamst du darauf und was meinst du mit „Pan-Schamanisierung“?
Der Schamanismus ist für mich ein Werkzeug, um die Zeit zu betrachten. Der eigentliche Gegenstand meiner künstlerischen Praxis ist die Geschichte. Wenn ich auf bestimmte Momente der Geschichte zurückblicke, nehme ich die Gestalt eines Zauberers an. Ich fliege in den Himmel und kann unter mir Zeit und Raum in ihrer Ausdehnung sehen.
Der Schamanismus ist ein Medium, durch das wir in einem einzigen Moment Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit betrachten. Da ich selbst Mandschure bin, entwickelte ich, als ich nach meiner Rückkehr in den Nordosten wieder künstlerisch zu arbeiten begann, ein großes Interesse für die mandschurischen Schamanen. Nachdem ich über mehrere Monate Kontakt mit einigen jungen, von Geistern auserwählten mandschurischen Schamanen hatte, wurde mir allmählich klar, dass das Übernatürliche infolge der Vereinnahmung des immateriellen Kulturerbes durch die Regierung in der Mainstream-Ideologie nicht ausreichend beschrieben wird. So haben Gesang und Tanz in der schamanischen Tradition zwar immer mehr an Bedeutung gewonnen, aber die Kraft des Schamanismus hat sich immer mehr abgeschwächt.
Auch sind heute die Werte dieser großen Ära der Reform- und Öffnungspolitik, die sich in der Weltsicht der jungen Leute widerspiegeln, ganz anders als früher. In ihren Dörfern gelten diese Leute als auserwählte Schamanen, aber keiner von ihnen will mehr auf dem Land bleiben. In der Stadt erhalten sie dann als Wanderarbeiter einen neuen Status. Sie werden häufig von der Regierung und großen Unternehmen eingeladen, um bei Zeremonien ihren Segen zu spenden, so dienen Schamanen heute im offiziellen Kontext gewissermaßen einer Identitätspolitik. Durch diese Instrumentalisierung für profane Feiern und Zeremonien wird ihrer religiösen Kraft endgültig der Boden entzogen.
Ich bin neugierig, welche neuen Wege sich diese Kräfte suchen. Gleichzeitig waren in Nordchina in der Stadt und auf dem Land immer mehr Geisterbeschwörungen zu beobachten. Auch auf den Videoportalen TikTok und Kuaishou waren solche Séancen eine Zeit lang sehr populär, bevor diesen Aktivitäten von offizieller Seite Einhalt geboten wurde. Geisterbeschwörungen wie die mandschurische Samdambi-Zeremonie sind schamanistische Volksrituale, welche die Regierung für unzulässig befindet, die jedoch vor dem Hintergrund des Zerfalls von industriellen Strukturen in Nordchina zur Jahrtausendwende allmählich wiederauflebten.
Diese Geisterbeschwörungen haben oft einen persönlichen, objektiven Anlass, wie eine schwere Krankheit oder sich im Leben ereignende Veränderungen. Doch sieht man diese persönlichen Tragödien in einem größeren Zusammenhang, erkennt man die Parallelität von individuellen Schicksalsschlägen und epochalen Umbrüchen. In Distorting Words (扭曲词场) zitiere ich einen Satz aus dem altchinesischen Geschichtswerk Zuozhuan: „Fällt der Mensch aus der Normalität, kommen die Dämonen“. Dieses Phänomen stellt sich heute folgendermaßen dar: Der Wandel der Zeit hat den Menschen entfremdet, so sind diese Kräfte wiedererwacht und allgegenwärtig geworden. Das ist mein Ausgangspunkt für die Idee der Pan-Schamanisierung.
Wang Tuo, Tungus, 2021, einkanaliges 4K Video in Farbe und Ton, 66 Minuten | Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der White Space Gallery Später habe ich während meiner Recherchereisen diesbezüglich auch eigene Erfahrungen gemacht. In einer Trance hatte ich das Gefühl, jenseits von Zeit und Raum zu stehen. Als ich zum Beispiel 2019 in Harbin eine Feldforschung betrieb, hatte ich mehrere Tage hintereinander Albträume, in denen viele bis dato verdrängte Kindheitserinnerungen in mir aufstiegen. Ich dachte also darüber nach, was dieses Hochkommen von Unbewusstem ausgelöst hatte. Später wurde mir klar, dass wir alle immer wieder ähnliche Situationen wie diese durchleben. Das heißt, ein bestimmter Teil unseres Bewusstseins fällt in einem gewissen Moment aus der Zeit und dem Raum, in dem wir uns gerade befinden, um sich der Gefühle früherer Zeiten und Räume bewusst zu werden, beziehungsweise lässt ein Moment der Trance andere Gedanken in uns zu.
Menschen erleben im Alltag im Kontakt mit verschiedenen Medien oft ähnliche Rückkopplungen. Pan-Schamanisierung ist keine neuartige Erfahrung, wir erleben nur eine Konzentration und Neubenennung solcher Empfindungen. Das liegt daran, dass der Mensch selbst zu einem Medium geworden ist. In Tungus gibt es dazu ein recht anschauliches Beispiel: Am Ende des Films machen die Bewohner der südkoreanischen Insel Jejudo eine Zeremonie. Für viele wirkt es vielleicht so, als würde es sich bei diesem Ritual um eine echte koreanische Schamanenzeremonie handelt. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Die Personen in dem Film führen vielmehr eine traditionelle Perkussion von Bauernmusik namens Samulnori, das Spiel der vier Dinge auf. Diese wiederum ist eine Weiterentwicklung der von der täglichen landwirtschaftlichen Arbeit der Bauern inspirierten rhythmischen Trommelmusik. Dabei spielt der Film auf verborgene Hintergründe an. Vor dem Jahr 2000 konnte die südkoreanische Bevölkerung nämlich noch nicht öffentlich über den sogenannten Jeju-Aufstand sprechen, der sich am 3. April 1948 ereignet hatte und bei dem Regierungskräfte ein Massaker an Teilen der Inselbevölkerung angerichtet hatten (Anmerkung der Übersetzerin). Auch schamanistische Volksrituale durften nicht durchgeführt werden. Daher verwenden die Menschen im Film die Perkussionsmusik Samulnori als Ersatz für das Geisterbeschwörungsritual der Schamanen. Die Zeremonie selbst ist nicht so wichtig, das eigentliche Medium ist der Mensch.
Wang Tuo, geboren 1984 in Changchun, lebt und arbeitet derzeit in Peking. Er erwarb jeweils einen Master of Fine Arts in Malerei an der Tsinghua University in Beijing 2012 und 2014 an der School of Visual Arts der Boston University. Zu seinen wichtigsten Einzelausstellungen zählen: Standing at the Crossroads (WHITE SPACE, Beijing, 2020); Wang Tuo: Smoke and Fire (Present Company, New York, 2019); Monkey Grammarians (Salt Projects, Beijing, 2017) und A Little Violence of Organized Forgetting (Taikang Space, Beijing, 2016).
Die Fragen stellte Li Li.
März 2022