Die Autorin Chen Si'an konnte durch ihre Arbeit für barrierefreie Kunst in China Kontakte zu Menschen mit Behinderungen aufbauen und sie fragen, wie Inklusion erreicht werden kann. In einem Interview berichten ihr Peng Linqian, Tian Yunfan und Guo Wancheng, wie man zu echter Kommunikation und Gleichberechtigung gelangt.
Die drei Menschen mit Behinderung, die an diesem Interview teilnahmen, wurden in den 1990er Jahren geboren und leben derzeit in Peking, Suzhou und Chongqing.
Tian Yunfan: Ich war einmal an einer weihnachtlichen Performance im Eslite Bookstore in meiner Heimatsstadt beteiligt. Die Proben fanden im ersten Stock eines kleinen Cafés mit einer hohen, schmalen Treppe statt. Bei diesem Anblick wollte ich schon aufgegeben. Dann haben mich ein paar hilfsbereite Mitstreiter*innen in meinem Rollstuhl die Treppe hochgetragen. Unter den Teilnehmenden war ich die Einzige mit einer Behinderung und machte mir sogar Sorgen, ob das nicht das ursprüngliche Gemeinschaftsgefühl der Aufführung zerstören könnte. Doch durch den spontanen Applaus der anderen während meines Vorsprechens und meine Vorfreude auf die Veranstaltung habe ich schließlich bis zum letzten Tag durchgehalten. Dieses Erlebnis half mir, eine dünne Barriere in meinem Kopf zu überwinden.
Guo Wancheng: Da denke ich sofort an den Moment, als ich beschloss, nach Peking zu ziehen. Ein Gespräch mit meinem damaligen Klarinettenlehrer motivierte mich, mich an der Pekinger Schule für sehbeeinträchtige Menschen anzumelden und tatsächlich wurde ich ohne Probleme angenommen. Ich war damals erst sechzehn Jahre alt, aber im Nachhinein betrachtet hat die Entscheidung, nach Peking zu gehen, mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Charakterlich hat mich diese Entscheidung zu einem stärkeren und glücklicheren Menschen gemacht.
Peng Linqian: Als mir meine Identität als Gehörlose bewusst wurde und ich sie zu akzeptieren gelernt habe, merkte ich, dass ich mich für die Rechte behinderter Menschen einsetzen will. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich bewusst dafür zu entscheiden, an der Kunst und einem offeneren kulturellen Leben teilzunehmen. Menschen mit Behinderung mögen körperliche und geistige Handicaps haben, aber das heißt nicht, dass sie nicht den Wunsch oder das Bedürfnis nach Teilhabe haben. Ich möchte, dass die Leute verstehen: Es sind zwei verschiedene Dinge „etwas selbst nicht zu wollen“ oder „andere darüber entscheiden zu lassen, dass man etwas nicht will.“
In den vergangenen Jahren habt ihr euch aktiv für die künstlerische Barrierefreiheit für behinderte Menschen eingesetzt. Wie seid ihr dazu gekommen, euch für die Barrierefreiheit in der Kunst zu engagieren?
Guo Wancheng: Es ging 2015 los, als ich zum ersten Mal als Drehbuchautor das Skript für ein kurzes Video geschrieben und bei den Dreharbeiten mitgewirkt habe. Der Film mag zwar aus heutiger Sicht etwas gewollt erscheinen, aber dass Sehbehinderte, Hörbehinderte und Nichtbehinderte diesen Film zusammen realisierten, hat mir endgültig klar gemacht, dass man Kunst nicht als die Kunst von Behinderten oder Nichtbehinderten klassifizieren kann. Kunst lässt sich generell nicht nach gesellschaftlichen Gruppen kategorisieren, denn die Kunst gehört allen.
Tian Yunfan: Mir wurden auf einem Kunstfestival die Augen geöffnet. Mit dem zweiten Luminous Festival habe ich ein inklusives und barrierefreies internationales Kunstfestival kennengelernt. Dort waren nicht nur Kunstwerke von Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen ausgestellt, es wurden auch entsprechende barrierefreie Versionen für Seh- und Hörbehinderte angeboten. Aus einem Gefühl des Bedauerns heraus bin ich aktiv geworden und habe versucht, für ein bestimmtes Bühnenstück eine Audiodeskription zu erstellen.
Peng Linqian: Tatsächlich bin ich von klein auf in einer Atmosphäre aufgewachsen, in der mir immer wieder implizit zu verstehen gegeben wurde: „Ich denke nicht, dass du das kannst“. Mit vier oder fünf Jahren hatte ich angefangen, Klavier zu spielen. Im Alter von sieben verlor ich mein Gehör. Damit fand meine musikalische Ausbildung ein Ende. Schließlich waren meine Hörnerven so stark geschädigt, dass ich Intonationen selbst mit einem Hörgerät nicht mehr sicher unterscheiden konnte.
Eine Sache macht mich bis heute wütend: Mit etwa sieben Jahren besuchte ich die beste Schule in unserer Stadt. Eines Tages sollte es ein buntes Varietéprogramm geben und meine Lehrerin forderte alle auf, daran teilzunehmen, nur mich ließ man allein im Klassenzimmer zurück. Es hieß, weil ich ja nichts höre, könnte ich an solchen Aktivitäten nicht teilnehmen. Die Lehrerin „meinte es gut“ und entschied einfach, dass so etwas nichts für mich sei. Sobald man einen Behindertenstatus hat, können einem die Gesellschaft und das persönliche Umfeld Dinge anscheinend willkürlich vorenthalten. Das Recht auf Teilhabe, das Recht auf Autonomie oder das Recht, sich zu vergnügen, wird einem einfach so abgesprochen.
Tatsächlich bin ich von klein auf in einer Atmosphäre aufgewachsen, in der mir immer wieder implizit zu verstehen gegeben wurde: „Ich denke nicht, dass du das kannst“
Tian Yunfan: Die größte Herausforderung liegt in der Überwindung der unsichtbaren Hindernisse, also der Barrieren, die sich nicht auf konkrete Einrichtungen beziehen, sondern auf ein eingeschränktes Bewusstsein der Menschen. Menschen mit Behinderung werden oft schon vor dem eigentlichen Beginn von Kulturevents unbewusst ausgeschlossen – die Möglichkeit ihrer Teilhabe wird noch nicht einmal in Betracht gezogen. Das wichtigste Bedürfnis besteht darin, „gesehen“ zu werden: Nur wenn wir zunehmend auch wahrgenommen werden, werden wir allmählich in die Überlegungen unserer Umgebung bewusst miteinbezogen. Nur so kommen wir in Zukunft zu einer inklusiven Welt, auf deren Grundlage sich schließlich ein bunteres Leben und geistige Zufriedenheit entwickeln kann.
Peng Linqian: Im Austausch mit verschiedenen Behindertengruppen kommen meiner Erfahrung nach immer noch Unterschiede zwischen verschiedenen Arten der Behinderung, verschiedenen Altersstufen und ein unterschiedliches Bewusstsein für die eigenen Rechte zum Tragen. Unter den behinderten Menschen in China gibt es regelrecht Klassen und ein soziale Gefälle. Bei den meisten behinderten Menschen ist das Bewusstsein für die eigene Identität und die eigene Selbstwirksamkeit nicht stark ausgeprägt. Die meisten Menschen mit Behinderung, denen ich begegne, haben vor allem den Wunsch, als „normale Menschen“ zu leben. Um das zu erlangen, was Nichtbehinderte als ganz normal empfinden, also respektiert zu werden, einen Beruf zu haben, der die eigene Existenz sichert, nicht um Leib und Leben fürchten zu müssen, das Leben genießen zu können und nicht isoliert zu sein, müssen sich Menschen mit Behinderung doppelt anstrengen.
Künstler*innen der China Disabled People's Performing Art Troupe führen den tausendhändigen Bodhisattva im Palais des Nations in Genf, Schweiz, am 31. August 2017 auf. | © picture alliance / Photoshot Die jüngere Generation von Menschen mit Behinderung hat sich gegenüber früheren Generationen stark verändert. Immer mehr von ihnen möchten sich in der Öffentlichkeit künstlerisch positionieren, am kulturellen und künstlerischen Schaffen teilnehmen und sich für die Förderung einer barrierefreien Kultur einsetzen. Wie beobachtet und erlebt ihr das? Und wie ist es um die Äußerungen und die Akzeptanz behinderter Menschen der mittleren und älteren Generation bestellt, werden sie eher ignoriert und übersehen?
Tian Yunfan: Immer mehr junge Menschen mit Behinderung drücken sich als Kultur- und Kunstschaffende aus und fordern gleichzeitig Barrierefreiheit ein. Dabei treten sie immer selbstbewusster auf, erkennen ihren Wert als eine besondere Bevölkerungsgruppe und werden auch innerlich immer freier und offener. Nach meiner Beobachtung tut sich die Gruppe behinderter Menschen der mittleren und älteren Generation schwerer damit, ihre Bedürfnisse auszudrücken. In diesem Phänomen liegt jedoch eine gewisse „Kurzsichtigkeit“. Denn während die Jugend eine gegenwärtige Lebenskraft und die Hoffnung auf die Zukunft repräsentiert, zeigen doch gerade die Älteren, in welche schwierige Situation jede*r von uns einmal geraten könnte.
Peng Linqian: Die junge Generation hat heute den Vorteil, dass sie sich in einer Epoche rasanter technologischer Entwicklung befindet. Zu meiner Studienzeit gab es weder Plattformen für Audiodeskription oder Gebärdensprache noch künstlerische Kursplattformen, ganz zu schweigen von den Portalen für Mikrovideos wie Bilibili, TikTok oder Kuaishou. Das Aufkommen solcher Formate macht es leichter, sich auszudrücken, und ermöglicht es zudem Jüngeren, an bekannten Kulturevents teilzunehmen oder sich durch den Einsatz von Technologie künstlerisch zu betätigen.
Unterschiedliche Situationen bedingen unterschiedliche Bedürfnisse. Menschen mittleren und höheren Alters, die ihre Hörfähigkeit schon in ihrer Kindheit eingebüßt haben, sind eine Fundgrube für die Gebärdensprache. Sie beherrschen viele lokale Gebärden, die von jungen Gehörlosen erst einmal wertgeschätzt und auch allgemein Beachtung finden müssen. Nur so kann sich die gelebte Kultur der Gebärdensprache auch weiterverbreiten.
Guo Wancheng: Unterschiede zwischen behinderten Menschen in den verschiedenen Altersgruppen zeigen sich beispielsweise darin, dass junge Leute sehr viel couragierter darin sind, neue berufliche Möglichkeiten zu erkunden. Ich denke, dass Menschen mit Behinderung in der Diskussion über ihre öffentliche Selbstdarstellung und die Barrierefreiheit von Generation zu Generation immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. Man sieht das an zwei Beispielen: Nur weil Li Jinsheng (2013) die Hochschulaufnahmeprüfung als erster Anwärter in Blindenschrift abgelegt hatte, nahmen immer mehr sehbehinderte Menschen an den Zugangsprüfungen zur Hochschule teil. Und nur infolge der zunehmenden Popularität des Screenreaders von Yongde können sehbehinderte Menschen heute elektronische Geräte problemlos nutzen.
Das Foto zeigt Fan Ziteng, ein Mitglied des Seilspring-Teams der städtischen Schule für blinde Kinder in Nanchang, in der ostchinesischen Provinz Jiangxi, bei einer Trainingseinheit. Das aus zwölf sehbehinderten Kindern bestehende Rope-Skipping-Team hat bei mehreren nationalen Wettbewerben Preise gewonnen. Wie ihr Trainer Xu Li sagt, können die Kinder vom Seilspringen sehr profitieren und lernen, Schwierigkeiten zu überwinden. Aufnahmedatum: 12. Oktober 2020 | © picture alliance / Xinhua News Agency | Zhou Mi Mittlerweile haben immer mehr Organisationen und Institutionen in China erkannt, wie wichtig es ist, den barrierefreien Zugang zur Kunst zu fördern. Trotzdem gibt es hinsichtlich der tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung sicherlich noch viel Entwicklungspotenzial. Was sind eurer Meinung nach die Probleme bei der Förderung der Barrierefreiheit in der Kultur und den Künsten, die noch nicht wirklich erkannt wurden und die in Zukunft verbessert werden müssen?
Guo Wancheng: Der drängendste Grund ist die nach wie vor unzureichende Partizipation von Menschen mit Behinderung. Oft verlassen sich Personen nur auf ihre eigene Einschätzung, wenn sie bestimmte Produkte oder Angebote für Menschen mit Behinderung entwickeln. Allerdings handelt es sich dabei letztlich immer um Vorstellungen, die vom realen Leben abweichen. Man löst das Problem also am effektivsten, indem man von den realen Bedürfnissen ausgeht. Wie das geht, beschreibt ein Satz aus der Behindertenrechtskonvention meiner Meinung nach sehr treffend: „Nichts über uns ohne uns.“ Im Kern geht es um einen wirklich ehrlichen und ernsthaften Dialog zwischen Menschen.
Peng Linqian: Ich erinnere mich an eine Diskussion, in der mein Gegenüber einen sehr interessanten Satz sagte. Er meinte, dass der Einsatz von Sprache-zu-Text-Anwendungen den Dialog zwischen Hörenden und Nicht-Hörenden erleichtern und deshalb auch von allen Hörgeschädigten genutzt werden solle. Dem möchte ich widersprechen. Erstens sollten kulturelle und künstlerische Aktivitäten oder Produkte niemals nur deswegen verwendet werden, um die Kommunikation zwischen Gesunden und Behinderten zu erleichtern. Das ist eine Arroganz der gesunden Welt. Barrierefreiheit sollte bidirektional funktionieren. Sie sollte nicht nur Menschen mit Behinderungen bei der Wahrnehmung der Welt unterstützen, sondern auch nichtbehinderten Menschen einen Zugang zu mehr Vielfalt ermöglichen. Nur wenn die Mehrheit, welche die sogenannte Welt der Gesunden ausmacht, ihre „naturgegebene Perspektive der Unversehrtheit“ aufgibt, entsteht wirkliche Gleichberechtigung.
Tian Yunfan (田芸凡), geboren 1994, hat eine Körperbehinderung ersten Grades und nutzt Text und Sprache, um die Freiheit künstlerischer Erfahrungen auszuloten.
Peng Linqian (彭霖倩), Direktorin des Zhilong-Zentrums für Soziale Arbeit der Liangjiang New Area, Chongqing, ist gehörlos und zweisprachig (Chinesisch und Gebärdensprache). Ende 2020 leitete sie die Gesamtplanung des Lumen Barrier‑Free Children’s Art Festival als erstes chinesisches gemeinnütziges Kunstfestival mit dem Thema Barrierefreiheit für Kinder.
November 2021