Ich erfahre vom ab sofort verhängten Lockdown, als ich gerade in der Tierklinik bin. Ich hatte einem kürzlich geretteten Katzenkind nach einer OP Futter bringen wollen, doch stattdessen bekomme ich das Kätzchen in meinen Transportrucksack gepackt, vom Doc einen zehnminütigen Crashkurs im fachgemäßen Versorgen einer frischen OP-Wunde, und dann sitze ich auch schon wieder im Taxi nach Hause.
Die Klinik ist gezwungen zu schließen, deshalb müssen alle Tiere sofort abgeholt werden. Die halbe Stadt ist auf den Beinen, jeder beeilt sich noch rechtzeitig nach Hause zu kommen, stockender Verkehr auf der ganzen Strecke. Mein Taxifahrer baut einen Auffahrunfall, doch sowohl er als auch der andere Fahrer sind sich einig, dass eine kleine Beule im Blech gerade das geringste unserer Probleme ist.Als ich endlich bei meiner Wohnanlage ankomme, herrscht dort heilloses Chaos. Überall Menschentrauben, von denen die eine Hälfte versucht in die Anlage zu kommen und die andere Hälfte in die benachbarten Supermärkte drängt, um sie bis aufs letzte Regal leer zu hamstern. Dazwischen die Security, die verzweifelt versucht Ordnung in die Massen zu bringen und den Lärm überbrüllend darauf hinweist, dass ohne QR-Code niemand in die Anlage darf. Mein Code lässt sich nicht öffnen. Der Wachmann, den ich darauf ansprechen will, nimmt mich in dem Tumult gar nicht wahr, also schiebe ich mich unbemerkt durch die Schranke, haste zu meiner Wohnung und bin fest entschlossen, diesen ganzen Wahnsinn einfach auszusitzen. Den Rest des Abends verbringe ich damit, die neue Katze mit meinen beiden Katern vertraut zu machen und auf WeChat kuriose Bilder von den Hamsterkäufen zu verfolgen. Zum Beispiel Fotos, auf denen ein ganzer Kühlschrank voll Fladenbrot gepackt wird, oder wie sich in einen winzigen Verkaufsraum hunderte von Leuten zwängen.
Die nächsten Tage dann erst mal Verwirrung darüber, wer jetzt eigentlich was noch darf: Supermarktbesuch alle paar Tage erlaubt? Was ist mit Lieferdiensten? Kommen Postpakete noch an? Das Management unserer Anlage teilt mit, dass man sich irgendwo anstellen könne, um einen Zettel mit einer „Ausgeh-Genehmigung“ zu bekommen, mit dem man die Anlage kurz verlassen kann, um einzukaufen. Da ich weder Lust auf stundenlanges in der Schlange stehen noch auf Virus-Party in einem total überfüllten Supermarkt habe und die Lieferdienste noch funktionieren, ignoriere ich dieses Angebot und mache es mir stattdessen mit Laptop und Büchern auf meiner Couch bequem. Ein Fehler, wie sich etwa eine Woche später herausstellen sollte.
Eine meiner Nachbarinnen beginnt in dieser Zeit, einen erfolgreichen Gemüse-Schmuggel aufzubauen.
Nach ein paar Tagen dann die Info, dass Lieferdienste ab jetzt ganz gestrichen sind und auch keiner mehr die Anlage verlassen darf. Komplette Abriegelung, über Essen solle man sich keine Sorgen machen, die Stadt würde sich darum kümmern. Ab diesem Tag sitzen also alle zu Hause, essen ihre Vorräte auf und warten auf die von der Stadt versprochenen Pakete. Dies zieht sich jedoch hin und unsere WeChat-Gruppe beginnt mit bohrenden Fragen an die Gebäudemanagerin heiß zu laufen. Manchmal antwortet sie, um uns zu vertrösten. Öfter aber antwortet sie gar nicht.
Eine meiner Nachbarinnen beginnt in dieser Zeit, einen erfolgreichen Gemüse-Schmuggel aufzubauen. Nachts um 2 bekommt sie heimlich Kisten mit Obst und Gemüse durch den Zaun der Feuerwehrzufahrt gereicht, die sie auf ihrer Terrasse stapelt. Ein Foto der Kisten ist das Zeichen, dass man im Schutz der Dunkelheit zu ihr schleichen kann, um einzukaufen. Aus der regen Kommunikation in ihrer WeChat-Gruppe schließe ich, dass das Geschäft gut läuft und sie nach dem Lockdown vermutlich reich sein wird. Ich selbst habe noch zu essen und folge deshalb immer noch meiner Ich-sitze-den-ganzen-Blödsinn-aus-Taktik. An Silvester entdecke ich kurz nach Mitternacht auf meiner eigenen Terrasse ein rotes Körbchen. Die Nachbarin hat mir ein halbes Kilo Schmuggel-Erdbeeren als Geschenk hingestellt. Nach so vielen Tagen Obst-Abstinenz schmecken sie einfach himmlisch.
Corona-Teststation in der Wohnanlage | © Kerstin Han Die Lebensmittelpakete sind immer noch nicht da, dafür tägliche, für alle verpflichtende Corona-Tests. Da unsere Anlage mehrere tausend Einwohnerinnen hat, bedeutet das stundenlanges Anstehen in der Kälte. Schnell werden Stimmen laut, die eine bessere Organisation mit festgelegten Testzeiten für die einzelnen Gebäude fordern, um die Wartezeit zu verkürzen. Das Management reagiert dieses Mal tatsächlich und ab sofort wird immer nur ein Gebäude zur Teststation gebeten. Das Problem ist aber, dass sich die Zeiten täglich ändern, so dass man gezwungen ist ständig WeChat im Auge zu behalten, um die Info nicht zu verpassen. Mal ist mein Gebäude am Nachmittag dran, mal werde ich in aller Frühe von einem Megaphon geweckt, das in mein Schlafzimmerfenster brüllt. Gerüchteweise höre ich, dass Nachbarn in anderen Gebäuden damit schon um 5 Uhr morgens aus den Federn geholt worden waren.
Als ich eines Tages wieder einmal in der Schlange stehe und schon fast an der Reihe bin, bemerke ich eine alte Frau. Sie sieht gar nicht gut aus, schlurft leicht schwankend an der Reihe der Wartenden vorbei, direkt zur Teststation. Sie sei erkältet, meint sie, und ob man den Test denn auch machen könne, wenn man krank sei? Die Männer und Frauen in den weißen Schutzanzügen halten verblüfft inne und sehen sich an. Ja, das sei eine gute Frage, meint einer schließlich, also das wisse er auch nicht so genau. Über seine Schulter rufend gibt er die Frage weiter an einen Kollegen, der sich aber auch nicht sicher ist. Ich beobachte die Szene und frage mich, ob das ihr Ernst ist oder ich im falschen Film bin. Denn ich war immer der Meinung, dass der Sinn der ganzen Testerei darin besteht, eventuell erkrankte Personen zu finden. Und alte Damen, die bereits Symptome zeigen, stünden nach meiner Logik deshalb ganz oben auf der Liste der zu Testenden. Kurz überlege ich, ob ich etwas sagen soll, lasse es dann aber, denn ich bin zu neugierig, ob man die alte Dame tatsächlich wieder ungetestet nach Hause schickt. Man tut es. Mir bleibt unter meiner Maske der Mund offenstehen. Allerdings versteht die alte Dame nicht, dass sie wieder gehen soll und bleibt einfach mitten in der Teststation stehen. Auch auf gutes Zureden der Mitarbeiter ist sie nicht zum Weggehen zu animieren. Also testet man sie schließlich doch – nur um sie wieder loszuwerden.
Nach gut einer Woche im Lockdown, ein Tag vor Silvester, die frohe Botschaft: Das Essenspaket ist da! Allerdings nur für Gebäude 1 (von insgesamt 25). Und auch nur für Leute, die sich zu Anfang den Zettel mit der Ausgeh-Genehmigung haben ausstellen lassen. Ich bin im Gebäude 11 und habe auch keinen solchen Zettel, also gehe ich leer aus. Da ruft mich ein Bekannter aus Gebäude 1 an: Er habe noch genug zu essen, braucht das Paket also nicht und ich könne mich mit seiner Ausgeh-Genehmigung als er ausgeben, um mir eins zu erschleichen – gesagt, getan. Ich stelle mich am Gebäude 1 in die Schlange der Wartenden, zeige den Zettel und nenne einen falschen Namen. Tatsächlich, es klappt und ich bekomme eine große Tüte mit Lebensmitteln in die Hand gedrückt. Ich solle jetzt das Foto schicken, meint die Dame an der Ausgabe. Foto? Was für ein Foto? Na, das Foto an den Gebäudemanager, erklärt sie mir genervt. Ich verstehe: Offenbar sollen alle ein „Beweisbild“ machen, damit hinterher niemand sagen kann, man hätte das Paket nicht bekommen. Leider ist der Manager von Gebäude 1 aber nicht in meinen WeChat-Kontakten und die Dame wartet beharrlich darauf, dass ich ihm das Foto schicke. Fliege ich jetzt doch noch auf? Bloß nichts anmerken lassen. Ich mache ein Bild und schicke es an meinen Bekannten, halte der Dame für den Bruchteil einer Sekunde den Bildschirm hin und hoffe, dass sie den falschen Empfänger nicht bemerkt. Tut sie nicht.
Eine Dame bietet zum Beispiel an, für einen Kopf Chinakohl eine Stunde lang kostenlos per Video-Chat zu singen.
Ich bin auch sehr froh darum, denn es dauert tatsächlich noch mehrere Tage, bis auch die anderen Gebäude ihre Pakete bekommen. Für Gebäude 11 kommt eines Abends um 23 Uhr die Nachricht von der Managerin, dass man nun an der Reihe sei – aber nur die Stockwerke 1–17. Stockwerke 18–33 haben das Nachsehen und sind entsprechend schlecht gelaunt. Am nächsten Morgen äußern auch mehrere Nachbarn der ersten siebzehn Stockwerke ihren Unmut, denn da die Nachricht erst um 23 Uhr kam, haben manche Familien schon geschlafen und die Ausgabe nun verpasst. Man hilft sich gegenseitig und organisiert per WeChat teils kuriose Tauschgeschäfte: Eine Dame bietet zum Beispiel an, für einen Kopf Chinakohl eine Stunde lang kostenlos per Video-Chat zu singen.
Dank Tauschhandel und den nachts nach wie vor tätigen Gemüse-Schmugglern sind irgendwann alle halbwegs versorgt. Dann kommt die Info, dass wir jetzt gar nicht mehr aus der Wohnung dürfen – außer zum Corona-Test und zum Abholen von Lebensmitteln. Mittlerweile hat das Management einen Kleintransporter organisiert, der alle paar Tage vorbeikommt und bei dem man zum Selbstkostenpreis eine Tüte mit zehn Sorten Gemüse kaufen kann. Ein zweiter Kleintransporter bringt Dinge wie Klopapier, Öl und Reis. Wenn der Wagen da ist, kommt eine Info und man darf kurz nach draußen, um etwas zu kaufen. Danach sofort wieder zurück in die Wohnung, was von patrouillierenden Mitarbeitern überwacht wird. Den ganzen Tag läuft außerdem ein Megaphon, das uns 24/7 daran „erinnert“ brav drinnen zu bleiben. Als es eines Abends an die Tür klopft, kriege ich den Schreck meines Lebens, denn vor mir stehen fünf Polizeibeamte. Zu meiner großen Erleichterung sind sie jedoch nicht gekommen, um mich mitzunehmen. Stattdessen geben sie mir ein dreiseitiges Dokument, auf dem die ab jetzt geltenden Corona-Regeln nochmal schön aufgelistet sind. Sie erkundigen sich noch sehr freundlich, ob es mir gut gehe und sagen, dass ich mich bei Problemen jederzeit an die Hausverwaltung wenden könne. Als sie wieder weg sind, schaue ich mir das Dokument genauer an. Es weist mich vor allem darauf hin, dass ich bei Nicht-Einhalten der Regeln zehn Tage in den Knast muss und außerdem eine Strafe von 500 Yuan zahle.
Erschlichenes Gemüse | © Kerstin Han Wer mir in dieser Zeit besonders leid tut, sind die Hundehalter. Die dürfen jetzt nämlich auch nicht mehr Gassi gehen. Ich bin heilfroh, dass Katzen auch drinnen aufs Klo gehen können und ich von dieser Problematik deshalb verschont bleibe. Zwei Tage lang bleiben die Hundefreunde brav zu Hause und versuchen, ihre Balkone zur Vierbeiner-Toilette umzufunktionieren. Ab dem dritten Tag beginnen auf WeChat Diskussionen, zu welcher Nachtzeit und in welchen Ecken unserer Anlage keine Kontrolleure da sind. Es werden „Pinkel-Geheimtreffen“ ausgemacht: „Bin gerade am Gebäude 2. Keiner da. Alle schnell runterkommen!“
Aus der Außenwelt dringen währenddessen immer gruseligere Nachrichten zu uns durch: Wenn nur ein einziger Covid-Fall auftrete, werde das gesamte Gebäude mit Bussen in Quarantäne-Lager außerhalb der Stadt gebracht. Dort gebe es angeblich nicht mal eine Heizung. Fotos und Videos aus den Lagern, die im Netz kursieren, sehen gelinde gesagt ungemütlich aus. Was mir jedoch viel größere Bauchschmerzen bereitet, ist die Frage, was mit meinen Tieren passiert, falls ich hier weg muss. Futter und Wasser kann ich auf Vorrat hinstellen – aber wer versorgt mein frisch operiertes Kätzchen? Bislang war ich relativ entspannt, da ich wusste, dass ich mich gut geschützt hatte und eine Ansteckung deshalb sehr unwahrscheinlich war. Nun muss aber jeder darauf vertrauen, dass auch alle anderen Nachbarn sich gut schützen! Die kollektive Angst vor der Massen-Quarantäne führt dazu, dass nun nicht mehr nur das Megaphon, sondern auch die Nachbarn sich gegenseitig dazu aufrufen, nicht vor die Tür zu gehen. Die Stimmung wird zunehmend düsterer; man erzählt sich, in benachbarten Anlagen hätte es inzwischen schon mehrere Leute gegeben, die sich aus Verzweiflung aus dem Fenster gestürzt hätten. Bei jedem neuen Corona-Test bangen bis zum Abend, bis das Ergebnis feststeht. Unsere Anlage hat Glück – keine positiven Tests.
Vereinzelt sind inzwischen wieder Lieferdienste erlaubt, die Wasser, Snacks und ähnliches an der Pforte abgeben dürfen. Bevor der Wachmann einem die Tüten aushändigt, sprüht er sie mit Desinfektionsmittel ein. Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass so ein Mittel nur wirkt, wenn es mindestens 30 Sekunden Zeit zum Einwirken bekommt. Da die Leute in der langen Schlange hinter mir, die alle schon vor Ungeduld platzen, das aber sicher nicht hören wollen, lasse ich es lieber bleiben.
Gestern hat unsere Anlage den vierzehnten Corona-Test ohne positiven Fall bestanden. Wir tragen nun offiziell das Prädikat „virusfrei“ und dürfen seit heute alle zwei Tage einmal für zwei Stunden die Anlage verlassen. Man muss sich wieder einen „Ausgeh-Zettel“ dafür ausstellen lassen. In den WeChat-Gruppen sieht man überall das Feuerwerks-Emoticon. Auch ich freue mich, da das bedeutet, dass uns wohl erst mal niemand evakuieren will und ich mein Kätzchen weiter versorgen kann. Ob ich mir den Zettel hole und mich in die sicher wieder gleich hoffnungslos überfüllten Supermärkte stürze, weiß ich noch nicht. Vielleicht erst, wenn mir der Kaffee ausgeht. Bis dahin mache ich lieber einen Spaziergang in der Sonne innerhalb der Anlage. Solange ich Bücher und Kaffee habe, kann mir der Corona-Wahnsinn draußen gerne noch eine Weile gestohlen bleiben.
Januar 2022