Dongbei-Literatur  Wie ein Schluck Schnaps

Screenshot von Black Coal, Thin Ice (2014)
Black Coal, Thin Ice (2014) © Omnijoi Media Corporation Co., Ltd.
Der Gedanke an Chinas Nordosten ruft Bilder von kalten, trostlosen Wintern vor Augen, mit überwucherten Bahngleisen in leeren Fabrikhöfen, mit verlassenen Fabrikhallen, aus denen die Eulen fliegen. Szenen des Zerfalls, die auf die misslungene Reform der kollektivwirtschaftlichen Betriebe in den 1990er Jahren zurückgehen, verbunden mit der Abwanderung der lokalen Bevölkerung im Laufe der vergangenen Jahre. Chinas Nordosten steht, einer noch nicht gestürzte Leninstatue gleich, stumm für einen fehlgeschlagenen Abschnitt der Geschichte, unvereinbar mit der heutigen Zeit, durchdrungen von Ernst und Tragik.

Über diese von Zerfall und Kriminalität geprägten Jahre hinaus und ganz im Gegensatz zu jener Zeit der Frustration, die oft auch romantisiert worden ist, finden wir heute in den sozialen Medien ein ganz anderes Nordostchina: Eine lebendige Vielfalt an volkstümlichen Darbietungen bietet sich hier dar, die durch die offene, freimütigen Art der Nordostchinesen und ihren warmen, humorvollen Dialekt besticht. Etwa die traditionellen Zweierdarbietungen mit den bunten Tüchern, die wirbelnd in die Luft geworfen werden, oder die Internet-Stars mit ihren witzigen und schlagfertigen Sprüchen, und nicht zuletzt auch das nonstop Livestreaming der zahlreichen Influencer.

Dennoch bleibt der allgemeine Eindruck von Nordostchina weiterhin meist negativ geprägt. Die Stereotypen reichen von „bürokratisch“ über „unterentwickelt“ bis hin zu „ignorant“ oder gar „roh und ungehobelt“. Kein anderes Gebiet Chinas scheint so stark mit Klischees und Etikettierung oder sogar Dämonisierung behaftet zu sein wie der Nordosten.

Mit der schwierigen Zeit der 1990er Jahre und ihrer Bedeutung für den Nordosten Chinas haben sich drei Autoren dieser Region auseinandergesetzt, die alle in den 1980er Jahren geboren sind. Sie schildern sowohl die Erfahrungen ihrer im Laufe der Wirtschaftsreformen arbeitslos gewordenen Väter wie auch die Erlebnisse ihrer eigenen Generation und zeigen auf, wie unterschiedliche Menschen beider Altersgruppen sich ihrem Schicksal entgegenstellen und Widerstand zu leisten versuchen. Im Gegensatz zu dem als mild und weich bekannten Stil der empfindsam verfeinerten Literatur Südchinas herrscht im Nordosten ein raueres Klima. Die Geschichten wirken hart, harsch und kraftvoll, wie ein Schluck Schnaps in einer kalten Winternacht. „Ein Schluck, der in die Glieder fährt, und dann wird plötzlich alles ganz klar“, schreibt Shuang Xuetao in seinem Erzählband Flieger.

WINTERSCHWIMMEN – ANKLAGE AN DAS SCHICKSAL

Autor Ban Yu (班宇) bringt es auf den Punkt: „Die Literatur- und Kunstszene Nordostchinas hat nie an Kraft verloren. Denn der Nordosten macht Erfahrungen durch, die sich von allen anderen Regionen unterscheiden. Es sind zahlreiche kleine Wunden, die da aufgerissen wurden, und jede einzelne ist mit Schmerz verbunden. Doch gerade dieser Schmerz ist es, der uns wachhält und uns weiterhin über das, was wir erleben, reden lässt. Unsere Literatur hat nichts an Kraft verloren, weil sie ein waches Bewusstsein hat und in aller Deutlichkeit mitansieht, wie die Wunden verheilen und dann wiederum neue Leiden folgen. Die Menschen aus diesem Landesteil haben so vieles zu sagen, was sich zu sagen lohnt. Das Seufzen, das aus den literarischen Texten spricht, ist letztlich von gleicher Art wie die spritzigen Szenen auf TikTok.“


In seinem Erzählband Winterschwimmen (冬泳) schreibt Ban Yu mehrheitlich in der Ich-Perspektive aus der Sicht eines Kindes. Dabei zeigt er auf, wie die Elterngeneration nach den wirtschaftlichen Umwälzungen der 1990er Jahre nichts anderes tun konnte, als mitanzusehen, wie alles, was sie zu tun versuchten, Schritt für Schritt zum Scheitern verurteilt war, bis sie schließlich ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wurden. Auf die fatale Zersetzung der Arbeiterklasse, die hier beschrieben wird, reagieren die einen niedergeschlagen oder gar verbittert, andere wiederum geraten auf eine schiefe Bahn, und auch allerlei Betrügereien untereinander sind an der Tagesordnung. Ban Yu, dessen Stil von Literaturkritiker Li Tuo (李陀) als realistisch bezeichnet wird, konstruiert eine übermächtige und erbarmungslose Außenwelt, die den Protagonisten keinen Ausweg offen lässt. Darauf beruht letztlich auch das Anklagende in seinen Texten.

Zusätzlich zur Schilderung mitleidloser Sachzwänge der Außenwelt und vielschichtigen inneren Stimmungswelten bespielt der Autor auch formal mehrere Ebenen gleichzeitig. So etwa in den wechselweise parallel geführten Erzählebenen der beiden Generationen. Anders als die Eltern, die mit Panik und Verzweiflung auf Schicksalsschläge reagieren, wirken die in den 1980er Jahren geborenen Protagonisten – die Altersgenossen des Autors – weitaus rationaler und gefasster. Dennoch ist es auch ihnen nicht möglich, sich aus ihrer angestammten Zugehörigkeit zur Unterschicht und den damit verbundenen Minderwertigkeitsgefühlen herauszuwinden. Zwanghaft lastet das schwere Schicksal der Eltern auf ihren Schultern und lässt sich nicht abstreifen.

In Ban Yus Erzählung Wege in der Luft (空中道路) wird in einem ersten Erzählstrang aus der Perspektive eines Kindes berichtet, wie die Ich-Figur im Sommer 1998 gemeinsam mit dem Vater Erinnerungen an eine Geschichte auffrischt, die sich zwischen Vater Ban und dessen Arbeitskollegen, der Onkel Li genannt wird, ereignet hat. Die Ereignisse werden im Dialog und fast nur nebenbei erwähnt, immer auch verbunden mit Erinnerungen aus der kindlichen Sicht des Ich-Erzählers. Der zweite Erzählstrang nimmt die Perspektive eines auktorialen Erzählers ein, der Erlebnisse schildert, die sich in der Jugendzeit der beiden Männer – Ban und Li – ereignet haben. Obschon diese Ereignisse noch länger in die Vergangenheit zurückreichen, wirkt die Erzählung aufgrund ihrer äußerst detaillierten Schilderungen fast noch wirklichkeitsgetreuer. Die Präsenz eines allwissenden Erzählers verweist auf ein erwachsenes und reifes „Ich“, das sich rückblickend in die Vergangenheit hineinversetzt, um dort die fehlenden Einzelheiten zu ergänzen und zu ordnen. Das Hin- und Herspringen zwischen den beiden Erzählsträngen vermittelt den Eindruck, dass hier eine fiktive Ich-Figur die Erlebnisse der Eltern aus der Außenperspektive des Kindes betrachtet, während das Ich des Autors gleichzeitig das Leben seines Vaters und des Onkels rekonstruiert.

Der Elterngeneration bleibt nach den wirtschaftlichen Reformen nichts anderes übrig, als mitanzusehen, wie alles, was sie zu tun versuchen, Schritt für Schritt zum Scheitern verurteilt ist, bis sie schließlich ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wird.

Ban Yus Texte enthalten oft anschauliche Szenen und Landschaftsbeschreibungen, die eine Verbindung zwischen der gegenständlichen Realität und der komplexen emotionalen Innenwelt der Protagonisten ermöglichen, was ihnen eine stark abstrahierende Färbung verleiht. Diese Szenen wirken gerade so, als würde der Protagonist angesichts der Turbulenzen des Schicksals mitten in seiner Haltlosigkeit einen Augenblick lang in Staunen verweilen, oder als würde er in ein temporales und emotionales Vakuum stürzen. Diese Stellen wirken nicht wie das Ende einer Geschichte, sondern vielmehr wie ein Unterbruch, ähnlich einem Filmstill von einer Szene, die aus unendlicher Entfernung fokussiert wird.
Screenshot von Black Coal, Thin Ice (2014) Black Coal, Thin Ice (2014) | © Omnijoi Media Corporation Co., Ltd. Ban Yus Erzählung Wege in der Luft endet allerdings etwas anders, nämlich in einer Umkehr der zeitlichen Abfolge. Hier wird am Schluss ein Ereignis geschildert, das die Arbeitskollegen Ban und Li einst am selben Tag, jedoch auf ganz unterschiedliche Weise erlebten. Es geht zurück auf eine Zeit, in der Ban den Stromschlag am Bein noch nicht erlitten hatte, Li noch nicht zu Tode gefallen war, die beiden sich noch nicht einmal kennengelernt hatten, also lange bevor Li seine Idee der Luftverkehrswege erzählt hatte. Dieser Schlussteil mit seinen eleganten und sehr konkreten Schilderungen aus auktorialer Perspektive legt nahe, dass hier der Erzähler hier mit einem reifen erwachsenen Ich identisch ist, dessen komplexe Emotionen sich im Rückblick auf das Schicksal der beiden Männer seiner Elterngeneration in einem einzigen Augenblick zu kristallisieren scheinen: „Zu jener Zeit waren sie sich noch nicht bewusst, wie unendlich lang diese Nacht war. Mit leeren Händen, in plötzlicher Entspannung, wandelten sie wie durch einen Traum, wandelten am Himmel entlang, ohne überhaupt noch das Gewicht ihres Schattens tragen zu müssen.“

GENIESYMPTOME – VERRÜCKT IM WIDERSTAND, VERSÖHNT IM WAHNSINN

Wie schon im Titel anklingt, werden Wahnsinn und Aberglaube in diesem Buch zu einem unabdingbaren Mittel, einem beschwerlichen Schicksal standhalten zu können. Die allgemein verbreitete fatalistische Haltung, vermengt mit Aberglauben und religiöser Frömmigkeit, kommt bei allen drei Autoren zur Sprache. Es ist, als wäre dies der letzte Strohhalm, an den sich ein Ertrinkender in den Strudeln des Schicksals noch klammern könnte, und gleichzeitig steht es auch für das hilflose Seufzen jener, die nur voller Mitleid vom Ufer aus zusehen können. In den Texten des Autors Zheng Zhi (郑执) gehen Wahnsinn und Aberglaube ineinander über, gleichsam wie ein Waffe, die sich der harschen Realität frontal entgegenstellt.

In Zheng Zhis Erzählung Kannibalen von Monte Carlo (蒙地卡罗食人记) beabsichtigt der Ich-Erzähler – ein Student der Geisteswissenschaften, der vom Vater gezwungen wird, ein Studienjahr zu wiederholen – zusammen mit seiner Freundin von zuhause auszubrechen. Als er wie verabredet im Hotel Monte Carlo auf seine Freundin wartet, begegnet er überraschend einem alten Onkel, den er lange nicht mehr gesehen hat. In dem Gespräch zwischen den beiden, die ihre je eigenen Herzensangelegenheiten mit sich herumtragen, breitet sich eine kleine Familiengeschichte aus. Zeitlich erstreckt sich die ganze Erzählung nur über einen Vormittag, geht am Ende aber unvermittelt in eine Art Traumwelt über. Dennoch werden die Ereignisse umfassend und schlüssig geschildert.

Aus der Sicht des Ich-Erzählers nehmen alle Erwachsenen mehr oder weniger beschämende Rollen ein. So etwa die geistig verwirrte Frau, der er täglich auf dem Schulweg begegnet ist und die schließlich ermordet wird, oder die Mutter, die ihn und den Vater im Stich lässt. Aber auch der Vater, der – obschon von einem angeheirateten Onkel als eine hochbegabte und aufrichtige Persönlichkeit geschildert – nach seiner Entlassung in Depressionen verfällt und sich in der Rolle eines gefallenen Helden sieht. Einen Gegenpart dazu bildet der alte Onkel des Ich-Erzählers, ein vagabundierender Wanderarbeiter, der sich mit seiner Lebenserfahrung großtut, um zu vertuschen, dass aus ihm nichts geworden ist. Der Ich-Erzähler selbst, der aufgrund der prekären finanziellen Lage der Familie seine Jugend aufopfern musste, trägt tiefe Schamgefühle mit sich, die sich zu einer Hassliebe gegenüber seinem Vater entwickeln. Als im Laufe der Erzählung die erwartete Freundin noch immer nicht auftaucht, wird ihm schließlich bewusst, dass seine Hoffnungen vergebens waren. Gleichzeitig kommt immer deutlicher zum Ausdruck, wie scheinheilig und habgierig sein alter Onkel ist. Zum Schluss versucht der rebellische doch ignorante Ich-Erzähler mit einer – wie es der Autor ausdrückt – „selbstgewählten Entfremdung“ einen konfliktträchtigen Widerstand zu leisten, obschon er in seiner Unerfahrenheit dazu gar nicht in der Lage ist.

Der unbedarfte aggressive Widerstand des jungen Mannes tendiert in seiner hasserfüllten Abneigung gegenüber sich und seinem ganzen Umfeld letztlich sogar zum Vatermord. Dennoch lernt er im Laufe der Erzählung, seinen Vater und seine Familie allmählich zu verstehen und zu akzeptieren. Damit vollzieht er einen Wandel, der ihn aus seiner kindlichen Naivität heraus und hin zu einem reiferen Bewusstsein führt. Das Ende der Geschichte ist von einer kraftvollen Symbolik erfüllt, die gleichzeitig Zerstörendes und Aufbauendes enthält. 
 

Bei Zheng Zhi sind es fragmentarische Puzzleteile aus der Sicht des Sohnes, die allmählich ein Bild des Vaters vor Augen führen. Dabei sind Respekt und Bewunderung auch von Mitleid durchzogen, und die Beziehung zwischen Sohn und Vater ist sowohl von Entfremdung wie auch von Akzeptanz geprägt. Anders als bei Ban Yu, der die Elterngeneration vor allem dahingehend untersucht, wie sich deren Lebensgeschichte auf die jüngere Generation auswirkt, sind in Zheng Zhis Erzählungen die Erlebnisse der Eltern etwas, das den Charakter ihrer Kinder sowohl zersetzt als auch erneuert. Während die Absurdität in Zheng Zhis Kannibalen von Monte Carlo vor allem auf der Handlungsebene zum Ausdruck kommt, zeigt sich das Absurde in seiner Erzählung Geniesymptome eher in der Bearbeitung der Figuren. Hier kommen fast keine Schilderungen des Innenlebens vor, vielmehr entwickelt sich die Geschichte mittels absurder und komischer Szenen.

So etwa, als der Ich-Erzähler zu Beginn seiner Braut von einem hoch talentierten Familienmitglied erzählt, dem angeheirateten Onkel namens Wang Zhantuan, der ursprünglich gerne sang, Gedichte schrieb und dem Alkohol zusprach, darüber hinaus auch die besondere Begabung hatte, gleichzeitig lesen und Schach spielen zu können. Doch aufgrund der historischen Ereignisse, die er durchmachen muss, wird er am Ende geisteskrank und endet als ein Nichtsnutz der Familie, der nur noch stumpfsinnig vor sich hin lebt. Erst am Schluss verrät der Ich-Erzähler seiner Frau, dass auch er an einer Geisteskrankheit leide, denn aufgrund seines Stotterns habe er sich einst mehrere Jahre lang geweigert zu sprechen.

Während Wang Zhantuans „Wahn“ sich als ein Brandmal der historischen Ereignisse verstehen lässt, stellt der „Wahn“ des Ich-Erzählers vielmehr eine selbstgewählte Reaktion des Protagonisten dar. Die beiden Figuren kontrastieren einander, was letztlich auch eine gegenseitige Akzeptanz impliziert und auf eine Übertragung zwischen den Generationen verweist. Während sich der Ich-Erzähler Wangs Leben vor Augen führt, wird es ihm dank dessen erhellenden Hinweisen überhaupt erst möglich, sich mit seinem Schicksal und mit sich selbst zu versöhnen. Dies ermöglicht ihm, die schwere Last seines Lebens abzulegen und mit leichterem Gepäck neu voranzugehen.

FLIEGER – RATIONALE DEKONSTRUKTION UND GERUHSAME ERLÖSUNG

Zusätzlich zur Ausbreitung von Konflikten oder Übertragungen zwischen den Generationen und zur Untersuchung schicksalhafter Lebensläufe bedienen sich alle drei Autoren bei der Schilderung gewalttätiger Ereignisse mehr oder weniger stark des erzähltechnischen Mittels der Suspense, wie es für den Kriminalroman typisch ist. Shuang Xuetao (双雪涛) verwendet in seiner Erzählung Halle des Lichts (光明堂) fragmentarische Betrachtungen aus der Ich-Perspektive eines Kindes und schildert anhand eines Traumes dieses Kindes die untergründigen historischen Verwicklungen verschiedener Schicksale. Dabei geraten zwei Menschen mit grundverschiedenen Lebenshaltungen gewaltsam aneinander: die eine Person wendet sich zum Guten und wählt den Weg der Sühne, die andere bleibt weiterhin auf dem Weg der Gewalt, wie ihn die historischen Ereignisse vorgezeichnet haben, ohne sich eines Besseren zu besinnen.


Bei Shuang Xuetao stammen die meisten Ich-Erzähler aus Familien, die während der Wirtschaftsreformen der 1990er Jahre arbeitslos geworden sind. In Die Wippe (跷跷板), der ersten Erzählung seines Buches, spielt sich die Geschichte zwischen zwei Familien ab, die auf zwei Seiten einer Spielplatzwippe wohnen. An der unteren Seite sind die Eltern des Ich-Erzählers, die zwar ihre Stelle verloren haben, die schwierigen Umstände jedoch gelassen hinnehmen und ein ruhiges Leben führen. An der oberen Seite der Wippe ist die Familie einer jungen Frau, mit dem der Ich-Erzähler eine Beziehung angefangen hat, und deren Eltern ursprünglich in der Betriebsleitung eines Staatsunternehmens tätig waren. Während sich der Ich-Erzähler um den im Sterben liegenden Vater der jungen Frau kümmert, erfährt er von einem Mordfall, der sich bei der Schließung des Staatsbetriebes aufgrund von Streitigkeiten um die Gewinnbeteiligung ereignete. Da der einstige Fabrikdirektor bereits nicht mehr klar bei Bewusstsein ist, sind die konkreten Umstände des Mordfalls nicht mehr genau nachzuvollziehen und manche Angaben wirken widersprüchlich. Doch das hinterlassene Beweismaterial ist stichhaltig und zeigt unmissverständlich, dass die stürmischen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Für den Ich-Erzähler geht es nun nicht darum, den Fall in allen Einzelheiten zurückzuverfolgen. Vielmehr will er ein Versprechen erfüllen, das er dem Vater seiner Freundin kurz vor dessen Tod gegeben hat: sich mit den Relikten dieses vergangenen Abschnitts der Geschichte eingehend auseinanderzusetzen.

Shenyang bei Nacht Shenyang bei Nacht | © hey emmby via unsplash.com In Shuang Xuetaos Erzählung Der Norden entschwindet (北方化为乌有) beschäftigen sich ein Romanautor namens Liu Yong und eine Autorin namens Mili‘er, die einander nie getroffen haben, mit ein und derselben Geschichte. Es handelt sich um einen bedeutenden Kriminalfall, der sich vor über zehn Jahren während der Reform der Staatsbetriebe ereignet hat, verbunden mit Korruption, außerehelichen Beziehungen, einem absonderlichen Mordfall, heimlichen Rendezvous, Denunziation und Enthüllungen. In den Texten beider Autoren, aber auch in ihren Erinnerungen, verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion. Beides geht ineinander über, und dies führt auch dazu, dass die Inhalte stark voneinander abweichen. Die junge Frau entscheidet sich letztlich für den Hass, wenn auch unklar bleibt, ob auf der fiktiven oder der realen Ebene. Beide jedoch sind sich unsicher, wie ihre Interpretationen von den einstigen Beteiligten, die inzwischen bereits verstorben sind, beurteilt worden wären. So wird die Geschichte letztlich zu einem unentwirrbaren Klüngel. Je mehr sie sich zu erinnern versuchen, desto weiter entfernen sie sich von den Tatsachen, und je mehr sie sich bemühen, darüber zu schreiben, umso stärker sehen sie ihre Konstrukte gleichzeitig der Zersetzung ausgeliefert.

Bei Shuang Xuetao scheinen die unterschiedlichen Erfahrungen beider Generationen, wie auch deren Beziehungen untereinander, nur im Bezug zwischen dem Schreiber und seinen Figuren zu bestehen. Selten werden starke Emotionen geschildert. So auch beim Ich-Erzähler in Die Wippe, der sich zwar auf der benachteiligten Seite der Wippe befindet und der Freundin gegenüber unabweisliche Selbstzweifeln hegt, jedoch imstande ist, gelassen damit umzugehen, ohne seiner eigenen Vergangenheit oder derjenigen seiner Eltern ausgeliefert zu sein. Vielleicht verbergen sich bei Shuang Xuetao die inneren Stimmungen gegenüber den historischen Ereignissen in der Elterngeneration vielmehr in seinen reichen und feinfühligen Beobachtungen, gleichsam in den Ritzen der vielschichtigen und schwer auf einen Nenner zu bringenden Geschehnisse.

Wie soll man sich verhalten, angesichts der Wunden der Geschichte? Soll man ihnen ins Angesicht blicken, oder soll man sich bemühen, sie zu vergessen? Die Texte der drei Autoren aus Nordostchina bieten diesbezüglich keine richtungsweisenden Strategien an. Vielmehr wirken sie wie ein Schluck Schnaps, der beim Anblick dieser Wunden Trost spendet und beim Vergessen Kraft gibt. „Lass uns einfach trinken, die Glieder entspannen, und dann wird plötzlich alles ganz klar.“

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