Staat und Gesellschaft  Internet-Literatur in China

Starting point for a hiking trail in a forest.
Starting Point © Eilis Garvey via unsplash.com

Das chinesische Internet-Informationszentrum CNNIC veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht, der unter anderem Auskunft darüber gibt, was Chines*innen so alles im Internet treiben. An den Statistiken kann man deutlich bestimmte Trends im Zeitverlauf ablesen, zum Beispiel die anfängliche Beliebtheit von Blogs und später ihr Verschwinden. Erstaunlich ist jedenfalls, dass viele Chines*innen ins Internet gehen, um Literatur zu lesen – das geht Jahr für Jahr deutlich aus den Statistiken hervor.

Der Bericht aus dem Jahr 2021 zeigt, dass 45,6 Prozent der Internetnutzenden in China Webseiten mit Internet-Literatur besuchen, also weit über 400 Millionen Menschen. 2021 war das Lesen von Online-Literatur auf der Rangliste der gängigsten Aktivitäten im Internet auf Platz 12 – gängiger noch als zum Beispiel Online-Reisebuchung oder Online-Bildungsangebote. Mir ist kein anderes Land der Welt bekannt, in dem das Lesen von Literatur im Internet so beliebt ist – oder solche Statistiken überhaupt dazu geführt werden. Warum scheint China das gelobte Land der Online-Literatur zu sein?

Webseiten, die offiziell als Plattformen für Online-Literatur eingestuft sind, sind hauptsächlich auf die Produktion und den Konsum von populärer Romanliteratur spezialisiert, zum Beispiel Liebesgeschichten, Geschichten über chinesische Wushu-Kampfkunst, historische Romane, Science-Fiction, Fan-Fiction, Erotik-Literatur usw.

2003 entdeckte eine Webseite mit dem Namen Qidian – Starting Point – das Marktpotenzial und entwickelte ein extrem erfolgreiches Geschäftsmodell, sodass Starting Point nur ein Jahr später im Alexa-Ranking der 100 meistbesuchten Webseiten der Welt auftauchte. Heute ist die Webseite Starting Point zwar längst nicht mehr so weit oben im internationalen Ranking, aber wird täglich immer noch millionenfach besucht. Außerdem gibt es auch andere Webseiten in China, die das Geschäftsmodell kopiert und den Markt für Online-Literatur vergrößert haben.

Das Geschäftsmodell von Starting Point ist schnell erklärt: Die Webseite besteht im Kern aus Diskussionsforen, die literarischen Genres zugeordnet sind. Die Besucher*innen der Webseite können Selbstgeschriebenes in den entsprechenden Foren veröffentlichen, am besten in Form von serienmäßigen Geschichten, wobei nach und nach neue Kapitel online erscheinen. Die Lesenden können die Geschichten kommentieren, Likes hinterlassen und sie bewerten. Sobald eine Geschichte von genug Leuten regelmäßig gelesen wird, handelt Starting Point einen Vertrag mit der Autorin aus. Sobald beide Parteien unterschrieben haben, landet der Web-Roman hinter einer Paywall. Ein Screenshot der Startseite von Starting Point Die Startseite von Starting Point heute | via qidian.com Die Fans haben vielleicht die ersten paar Dutzend Kapitel der Geschichte schon gelesen und müssen nun ein bezahltes Abonnement abschließen, um die nächsten Kapitel lesen zu können. Die Kosten für ein solches Abo pro Web-Roman sind sehr gering, aber mit potenziell Millionen Abonnierenden können dennoch erhebliche Umsätze erzielt werden. Starting Point bezahlt dem Autor 70 Prozent der Umsätze aus und kassiert den Rest selbst ein.

Wenn sich Autor*innen etabliert haben, können längere Verträge angeboten werden, die über die Laufzeit eines Online-Romans hinausgehen. Starting Point agiert für die erfolgreichsten Autor*innen auch als Agent und unterstützt sie bei Veröffentlichungen in Buchform oder beim Verkauf ihres geistigen Eigentums, etwa an Videospiel-Entwickler oder TV-Produzenten.

Der Erfolg von Starting Point hängt mit der cleveren Adaption von vielgenutzen Diskussionsforen zusammen. Vor 2003 wurden solche Foren schon von anderen genutzt, um literarisches Schreiben und Austausch über Literatur im Internet zu ermöglichen, aber niemand konnte ein nachhaltiges Geschäftsmodell finden.

Teil des Geschäftsmodells von Starting Point sind auch diverse Ranglisten und Statistiken auf der Webseite, die einen gewissen Wettkampf zwischen den Autor*innen annregen und den Lesenden ein Gefühl von Verantwortung geben sollen, weil ihr Nutzungsverhalten direkt den Erfolg und Status ihrer Lieblingsromane beeinflusst.

In gewisser Weise sind Webseiten wie Starting Point Graswurzel-Gemeinschaften, wo aus Lesenden Schreibende und aus Schreibenden Stars werden können – und all das auf mehr oder weniger demokratischem Weg und ohne den Einfluss von Kritikern oder anderen Vertretern des Establishments. Solche Gemeinschaften kann man natürlich auch im Internet außerhalb Chinas finden, insbesondere für diverse Genres im Bereich Fan-Fiction, aber außerhalb Chinas lässt sich sowas kaum monetarisieren. Vergleichbare Plattformen für Online-Literatur im Ausland, die finanziell erfolgreich sind, findet man nur selten, mit allerdings einer berühmten Ausnahme: Fifty Shades of Grey von E.L. James, entstanden im Internet aus Fan-Fiction um die Roman-Reihe Twilight. Auch hier war die Web-Version zwar extrem beliebt, aber immer kostenlos zugänglich (bis der Roman in Buchform erschien und die Web-Version nicht mehr verfügbar war).

Webseiten wie Starting Point haben mit ihrer Online-Literatur ein riesiges Verlagswesen geschaffen, das die klassischen Mechanismen der Kontrolle umgehen kann

Dieser erstaunliche Erfolg von Online-Literatur hat auch weitreichende Folgen für das gesamte chinesische Verlagswesen. Laut chinesischem Verlagsrecht dürfen keine gedruckten Bücher erscheinen, wenn sie keine offizielle ISBN-Nummer – auf Chinesisch shuhao – besitzen. Darin unterscheidet sich China von vielen westlichen Ländern, wo Bücher zwar in aller Regel eine ISBN-Nummer haben, eine Veröffentlichung ohne Nummer aber nicht illegal ist.

Webseiten wie Starting Point haben mittlerweile Hunderttausende Web-Romane veröffentlicht und Millionen Lesenden gegen Bezahlung zugänglich gemacht. Diese Romane sollte man eigentlich als „Bücher“ einstufen, auch wenn sie nicht in Druckform erscheinen. Allerdings sind sie alle ohne shuhao, ohne ISBN-Nummer. Anders ausgedrückt: Webseiten wie Starting Point haben mit ihrer Online-Literatur ein riesiges Verlagswesen geschaffen, das die klassischen Mechanismen der Kontrolle umgehen kann und die Behörden dazu zwingt, andere Systeme der Regulierung einzuführen.

In der chinesischen Kulturpolitik spricht man vom Wandel von „Kultur machen“ (办文化) hin zu „Kultur managen“ (管文化). Der Staat kontrolliert nicht länger den gesamten Produktionsprozess wie in der sozialistischen Planwirtschaft, sondern lässt innerhalb eines definierten Rahmens die Hand des Marktes walten. Der Staat interveniert nur dann, wenn der definierte Rahmen nicht eingehalten wird.

Im vergangenen Jahr hat es vermehrt solche „korrigierenden Eingriffe“ gegeben, hauptsächlich um kommerzielle Inhalte im Internet in Einklang zu bringen mit den relativ konservativen Normen und Werten der Kommunistischen Partei Chinas.

Natürlich gibt es auch viele literarische Webseiten, die sich nicht in den Statistiken eingangs erfassen lassen. Es existieren unzählige Foren, Webzines und WeChat-Gruppen für nicht-kommerzielles kreatives Schreiben in allen möglichen Genres, darunter auch viele klassische Genres, die seit Beginn der Online-Literatur eine gewisse Renaissance erleben. Der offizielle chinesische Schriftstellerverband versucht die in seinen Augen „seriöse“ Online-Literatur zu fördern, indem sie für Wettbewerbe zugelassen wird. Außerdem werden regelmäßig Listen mit „exemplarischer“ Online-Literatur veröffentlicht, die den ästhetischen und politischen Maßstäben des Schriftstellerverbands gerecht wird und vereinbar ist mit der Parteilinie, die Xi Jinping in seiner langen Rede über Literatur 2014 gesetzt hat.

China war immer und wird sicherlich auch weiterhin ein Land bleiben, in dem Literatur verschiedene gesellschaftliche Funktionen erfüllt und einen hohen Stellenwert hat – egal ob gedruckt oder im Internet.

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