Hinter der Tür ein unscheinbarer Eingangsbereich, glatte marmorierte Wände und Böden, der Geruch von bestelltem Essen in der Luft, denn es ist Mittagszeit hier im Chengduer Poly Center und die Essenslieferant*innen gehen nicht bis in die Büros hoch, sondern stellen die Lieferungen in der Lobby ab. Normaler Betrieb im ganz gewöhnlichen Eingangsbereich dieses ganz gewöhnlichen chinesischen Büroturms, könnte man meinen – aber das hier ist nicht irgendeine Lobby, sondern die Pforte zum Mittelpunkt des chinesischen Techno-Universums.
Es gibt keine Schilder und auch keine anderen eindeutigen Hinweise – man muss wissen, wo man hin will. Links abbiegen, dann einen langen Gang entlang, an dessen Ende ein kleiner Fahrstuhl mich in die 21. Etage bringt. Einen unglaublichen Blick über die leicht smogverhangenen Häuserschluchten dieser Zehn-Millionen-Stadt hat man von hier – und schnell stellt sich das Gefühl ein, hier oben irgendwie woanders angekommen zu sein, gefühlt erstmal ziemlich weit weg von dem ganzen gesellschaftlichen Treiben da unten, den ganzen Zwängen und Nöten des post-pandemischen Alltags, die einem das Leben im Moment so schwer machen können. Wie treffend also, dass mein Ziel hier oben, der Techno-Klub am anderen Ende des Flurs .TAG heißt – .TAG, das steht für: To Another Galaxy.
Der von einer Frau geführte, queer-freundliche Klub wurde 2014 gegründet und war damals noch eins von vielen Unterhaltungsetablissements in dem als baoli zhongxin 保利中心 oder eben Poly Center bekannten gewerblichen Hochhaus, in dem das .TAG mittlerweile der letzte verbliebene Klub ist, den man nun längst schon über die Grenzen der Stadt hinaus kennt, unter anderem für die mehrtägigen Raves um das chinesische Neujahrsfest, die Jahr für Jahr Techno-Heads aus ganz China anziehen.
Auch außerhalb Chinas ist das .TAG mit seinen Residents kein unbekannter Klub mehr und hat sich unter tourenden internationalen DJs, zum Beispiel der Berliner Herrensauna-Crew, als beliebte Station in Asien etabliert – vor der Pandemie natürlich. Héctor Oaks veröffentlichte 2019 auf dem irischen Label Earwiggle sogar einen Acid-Banger mit dem Titel Just A Chengdu Dog.
Seit der Pandemie und geschlossenen Grenzen ist Schluss mit internationalen Bookings, aber der Klub-Betrieb im 21. Stock des Poly Center geht natürlich weiter und läuft mit lokalen DJs im Moment ziemlich gut, vielleicht sogar so gut wie nie zuvor. Zum einen sind da die .TAG-Residents erster Stunde wie Hao, die den Klub von Anfang an musikalisch mit getragen, ihn groß gemacht haben. Aber auch neue DJs konnten nach und nach Teil der .TAG-Familie werden, sodass der Klub mittlerweile ganze Monate mit lokalen DJs buchen kann, die problemlos lange Sets von Mitternacht bis in den Vormittag spielen können.
Was das .TAG so besonders macht, ist sicher das alles – der Klub selbst mit seinen beiden Floors und Blick über die Stadt, die DJs und alle anderen Macher*innen von der Tür bis an die Bar, die Community drum herum. Aber auch in anderen chinesischen Städten gibt es mittlerweile interessante Klubs, nicht nur in den besonders öffentlichkeitswirksamen Metropolen Beijing und Shanghai, sondern auch in international etwas weniger bekannten Städten wie Shenzhen oder Hangzhou.
Was die Techno-Kultur in Chengdu um das .TAG aber wirklich besonders macht und im Vergleich zu anderen Städten sozusagen eben in eine andere Techno-Galaxie befördert, das sind die Strukturen, die hier um diesen Klub und darüber hinaus entstanden sind: Techno-Infrastruktur, die Menschen um diese Musik zusammenbringt, neue Talente hervorbringt und die ganze Szene wachsen und reifen lässt.
Das Techno-Dreieck
Ein wichtiger Teil dieser Techno-Infrastruktur ist zum Beispiel die oberste Etage des Soho-Gebäudes nur ein paar Minuten Fußweg vom .TAG entfernt. An einem schmalen Gang im Freien mit Blick auf den Innenhof des Gebäudes reihen sich hier auf wenigen Metern die Hakka Bar, die DJ- und Musikschule Bianli, direkt daneben der Plattenladen Yitong und daran angeschlossen das Chengdu Community Radio aneinander.Orte wie die Hakka Bar, im Moment im Umbau befindlich, und Yitong schaffen wichtigen Raum für Begegnung und Austausch. Man kann hier Gleichgesinnte treffen, sich über Musik austauschen, Kontakte knüpfen, Freundschaften schließen und Zugang bekommen zur Szene: Yitong etwa bietet mit seinen Open-Deck-Nights unter der Woche neuen DJs auch ohne das in China so wichtige soziale Kapital, ohne Verbindungen in die Szene eine Chance, sich an den Decks auszuprobieren, sich zu beweisen und über erste kleinere Bookings, etwa in der Hakka Bar oder im Chengdu Community Radio nebenan, es dann vielleicht auf größere Floors in Chengdu zu schaffen.
Was sich aber nicht geändert hat, ist das Schild neben dem Floor, auf dem in großen Leuchtbuchstaben selbstironisch wenming wuting 文明舞厅 steht, das heißt so viel wie: Hier darf nur zivilisiert, nur anständig gefeiert werden. Und gefeiert wird dort wie eh und je, der Klub gibt lokalen Promoter*innen und Crews die Chance, sich in einem überschaubaren Raum mit kleineren Events auszuprobieren, bevor man sich an größere Klubs wagt.
Eine, die in diesen Strukturen groß geworden und hier zu Hause ist, vielleicht sogar exemplarisch für das steht, was diese Strukturen möglich machen, ist Luca.
Zum ersten Mal gesehen und gehört habe ich Luca Anfang 2019 auf einer der Neujahrs-Partys im .TAG – mir fiel damals sofort Lucas guter Musikgeschmack und ihr Händchen für eine EBM-lastige, aber insgesamt diverse Musikauswahl auf. „Die legt noch nicht so lange auf und ist schon so gut”, meinte damals Ellen zu mir, die Klub-Betreiberin und eine der großen Macher*innen und Masterminds hinter der Techno-Infrastruktur in Chengdu. Das ist drei Jahre her, Luca legt mittlerweile regelmäßig in großen Klubs in ganz China auf und hat ihre ersten selbst produzierten Tracks veröffentlicht.
Von Ya’an in eine andere Galaxie
Luca kommt ursprünglich aus Ya’an in Sichuan. Ihre Liebe zur Musik entdeckt sie früh zu Hause, denn beide Eltern hatten beruflich mit Musik zu tun. „Mein Vater hat damals quasi zur Avantgarde gehört”, schreibt Luca mir auf WeChat und lacht: „Er hat Lederklamotten getragen, Breakdance ausprobiert, sogar eine eigene Diskothek aufgemacht, zu Hause hatten wir deswegen immer viele CDs, viel davon war europäische und amerikanische Musik, aber auch chinesische Volksmusik, die er gerne mochte.” Lucas Mutter ist Kindergärtnerin und spielt Klavier. „Selbst wenn sie zu Hause sich um den Haushalt gekümmert hat, dann hat sie dabei immer die CDs gehört”, schreibt Luca weiter. „Man kann also sagen, dass ich schon als Kind immer irgendwie mit Musik zu tun hatte.”In Lucas Heimatstadt Ya’an leben 1,4 Millionen Menschen. Das klingt erstmal nach ziemlich viel, aber in China, wo es über 100 Millionenstädte gibt, ist das nicht so außergewöhnlich. „In der Stadt ist schon ein bisschen was los, aber insgesamt ist es doch relativ isoliert dort. Ich bin aber jemand, der gern Neues entdeckt und früh angefangen hat, die Welt jenseits der Stadtgrenzen zu erkunden, auch über Musik eben. Ich hab damals regelmäßig die Zeitschrift Hit Music gekauft, hab mir die Bands aufgeschrieben, die mich interessieren, und dann im Internet danach gesucht. Was ich jetzt als DJ mache, ist eigentlich nicht so viel anders als das, was ich als Kind gemacht habe, ich suche Musik und teile das dann mit anderen.”
Funky Town in Chengdu | © yì magazìn Als Studentin stößt Luca irgendwann auf Weibo, dem chinesischen Twitter-Pendant zufällig auf das .TAG und wird neugierig. „Ich bin dann an irgendeinem Wochenende alleine nach Chengdu ins .TAG gefahren, war da ziemlich schüchtern und saß den ganzen Abend alleine an der Bar neben dem Floor. Ich hab die DJs und die Menschen dort genau beobachtet und war total gefesselt von den Emotionen und der Energie in dem Raum. In dem Moment hab ich dann entschieden, dass ich auch Musik auflegen möchte.”
Luca sucht daraufhin nach einem Mentor und freundet sich mit dem Chengduer DJ Xiaolong an, der ihr bei ihren ersten Schritten behilflich ist, drei Monate später dann schon der erste Gig im .TAG: „Ich hab viel geübt und hatte auch einfach Glück, es gab diese Open-Deck-Night im .TAG und was ich da musikalisch gemacht habe, ist gut bei den Leuten angekommen. Danach hatte ich dann nach und nach die Möglichkeit, öfter im .TAG aufzulegen. Deswegen kann man wirklich sagen, dass das .TAG für mich quasi wie eine Mutter ist, die mich genährt und großgezogen hat wie ihr Neugeborenes.”
Luca | © Luca Das war im August 2016. Über die Open-Deck-Night und erste Gigs im .TAG fasst Luca langsam Fuß in der Szene. 2017 spielt sie zum ersten Mal auf einer der Neujahrs-Partys im .TAG und findet nach und nach ihren Weg in andere Chengduer Klubs, zum Beispiel Funky Town. Rückblickend sagt sie dazu: „Chengdu hat über die Jahre so eine diverse Musik-Landschaft gehabt, mit Klubs wie Funky Town, CUE, Axis, Guanxi oder der Hakka Bar und dem Yitong. Das ist ein insgesamt ziemlich tolerantes, offenes, vorwärtsgerichtetes Umfeld, in dem ich langsam wachsen konnte, auch musikalisch unterschiedliche Sachen ausprobieren konnte. Man kommt auch ständig mit neuer Musik und neuen Sachen in Berührung und durch diese Impulse findet man dann so langsam erst richtig zu sich selbst und zu dem, was man selbst machen will.”
Relativ schnell fängt Luca an sich für das Produzieren zu interessieren und macht 2017 mit einem Online-Kurs den Einstieg. „Für nur einen Yuan hab ich online 100 Unterrichtsstunden gekauft, aber die waren gar nicht schlecht!”, schreibt mir Luca und lacht. „Ich hab dann mit diesen Video-Tutorials Ableton Live gelernt. Ich hab das richtig ernstgenommen und mir auch viele Notizen gemacht und auch erste Sachen produziert, aber ich hab es einfach nicht so richtig hinbekommen, die ganzen musikalischen Ideen in meinem Kopf mit den Möglichkeiten der Software umzuwandeln in richtige Tracks.”
Luca nimmt daraufhin Unterricht bei Mao Mao alias Heling in der DJ- und Musikschule Bianli. „Ich hab mir dann Hilfe bei Mao Mao von Bianli geholt und damit dann erst richtige Fortschritte gemacht.” Der ehemalige Rock-Gitarrist ist mittlerweile Techno-Produzent und DJ und neben seinen modularen Synthesizern als Szene-Größe unter anderem bekannt für seine langen Closing-Sets am letzten Tag der alljährlichen Neujahrs-Raves im .TAG, die er gerne mal mit so kitschig-passenden Tracks wie We Are The Champions von Queen abschließt.
Ihren ersten Track Genetic Storm veröffentlicht Luca schließlich 2021 auf einer Compilation des chinesischen Labels Crater Records. Das Stück mit Kick Drum immer auf erstem und drittem Beat und sparsamem Einsatz anderer perkussiver Elemente beginnt und endet mit Sturm- und Wind-Geräuschen und offenbart Lucas musikalischen Einflüsse wie Dark Wave, Ambient und Electro, die natürlich auch in ihren DJ-Sets zu hören sind. Musik auflegen und Musik machen sind für Luca zwei Seiten einer Medaille: „Es geht darum, die verborgenen Seiten der eigenen Persönlichkeit auszudrücken, nur die Art und Weise unterscheidet sich. Wenn ich den Ausdruck finde, damit eine emotionale Brücke schlagen kann zu anderen, eine Verbindung schaffe, dann bin ich zufrieden. Ich hoffe, dass der Druck nicht zu groß wird in Zukunft, dass es nicht zu herausfordernd wird, denn Musik auflegen und Musik machen gibt mir Energie und ich will versuchen, diese gewonnene Energie auch im Klub weiterzugeben.”
Ihr zweiter Track Yun (dt. „Wolken”) ist in Zusammenarbeit mit einem Chengduer Restaurant entstanden. Wie passend für eine DJ und Produzentin aus Chengdu, denn diese Stadt ist vor allem für ihre besondere kulinarische Kultur und Vielfalt bekannt. Das 7-minütige Ambient-Stück mit ruhiger Klavier-Melodie sticht besonders durch die durchgehenden Field-Recordings hervor. „Das sind Aufnahmen von einem Gemüsemarkt und Bauernhof in Yunnan”, erklärt mir Luca dazu. Dieser Bezug zur Natur spielt für sie eine große Rolle, in ihrer Freizeit ist sie viel draußen und geht in letzter Zeit immer häufiger klettern, erzählt sie. „Genau wie die Musik gibt mir der Bezug zur Natur unglaublich viel Energie und ist etwas, ohne das ich einfach nicht leben kann.”
Pflanze im Flur neben .TAG | © yì magazìn Hier in Chengdu scheint alles ineinander zu greifen, die diverse Klub-Landschaft mit ihren kleinen und großen Veranstaltungsorten, Plattenladen, Musikschule, selbstorganisiertes Internet-Radio und und und. All das ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit von vielen Beteiligten, die auch unter widrigen Umständen trotz allen Herausforderungen und einigen Rückschlägen weitergemacht haben.
Aber das Konstrukt Techno bleibt in China fragil, auch hier in Chengdu, was gerade in diesen Tagen wieder besonders deutlich wird: Durch die chinesische Zero-Covid-Strategie können schon kleinste Infektionsherde in einer Stadt dazu führen, dass alle Bars und Klubs sofort schließen müssen, was im Moment unter anderem auch in Chengdu der Fall ist. Ein post-pandemischer Dauerzustand, der langfristige Planung unmöglich macht und durch den immer mehr Klubs und andere Kulturorte existenziell bedroht sind, zuletzt unter anderem auch der Klub CUE in Chengdu, der eine Crowdfunding-Rettungsaktion starten musste und offenbar kurz vor der Schließung steht.
Deswegen ist es umso erfreulicher, dass diese so besondere, schützenswerte Techno-Infrastruktur hier und das, was daraus hervorgeht, nun international richtig anzukommen scheint und auch in Berlin Beachtung findet – vom Mittelpunkt des chinesischen Techno-Universums zum Mittelpunkt des internationalen Techno-Universums sozusagen: .TAG-Resident Cora spielt am 30. Juli als erste DJ aus Chengdu im Berghain, Berlin.
Juli 2022