Interview mit Jungkuratorin Chi Yining  The Intimate Revolt

Kuratorin Chi Yining
Kuratorin Chi Yining © yì magazìn

Die Pekinger Jungkuratorin Chi Yining, Jahrgang 2001, hat mit ihrer Ausstellung „The Intimate Revolt” den Grey Cube des Goethe-Instituts in einen spielerischen Erfahrungsraum voller Konflikte und Kompromisse verwandelt, in dem Grenzen eine zentrale Rolle spielen. Wir haben uns mit ihr getroffen und über physische, symbolische, soziale, kulturelle und andere Trennlinien gesprochen, die sich durch ihre Ausstellung und ihren Alltag in China ziehen.

yì magazìn: Deine Ausstellung heißt „The Intimate Revolt” und bezieht sich auf ein historisches Ereignis am Ende des Kalten Kriegs. Was hat es damit auf sich und wie bist du auf die Idee gekommen?

Chi Yining: „The Intimate Revolt” bezieht sich tatsächlich auf ein historisches Ereignis, das sogenannte paneuropäische Picknick, das am 19. August 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze stattgefunden hat. Die Grenze sollte an dem Tag symbolisch für drei Stunden geöffnet werden, 600 Menschen aus der DDR hatten über Flugblätter frühzeitig davon mitbekommen und sind dann durch diese kurzzeitige Öffnung im Eisernen Vorgang in den Westen geflüchtet.

Das war nach Beginn des Kalten Kriegs die erste Grenzöffnung in den Westen, diese drei Stunden waren wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der am anderen Ende der Welt einen Sturm auslöst. Im November fiel die Berliner Mauer, wodurch das Ende der Sowjetunion eingeläutet und die Karten internationaler Politik neu gemischt wurden. Die Stelle an der österreichisch-ungarischen Grenze, die durch das paneuropäische Picknick geöffnet wurde, steht symbolisch für den Fall des Eisernen Vorhangs.

Ich habe zum ersten Mal durch einen Dokumentarfilm über den Fall der Berliner Mauer davon mitbekommen. In dem Film wird das paneuropäische Picknick genau beschrieben und zwei Details fand ich besonders interessant:

Zum einen wird da erzählt, dass Gorbatschow im Jahr 1984, also als er noch nicht Generalsekretär war, in einem Bericht an den Kreml schon die Öffnung Osteuropas und territoriale Verluste der Sowjetunion im Jahr 1990 vorausgesagt hatte. Außerdem hat das sowjetische Außenministerium 1988 mal ein Papier mit drei Szenarien zur deutschen Wiedervereinigung erstellt. Das erste Szenario war keine Wiedervereinigung, Westdeutschland und Ostdeutschland existieren beide nebeneinander weiter. Das zweite Szenario war: Ostdeutschland wird von Westdeutschland einverleibt und ist dann Teil der NATO. Das dritte Szenario war: Westdeutschland verlässt die NATO, Ostdeutschland verlässt den Warschauer Pakt – beide Länder werden zu einem politisch neutralen, wiedervereinigten Deutschland. Und wie wir jetzt wissen, ist das zum Teil auch eingetreten.

Also wenn man das aus dieser Perspektive betrachtet, dann hatte das paneuropäische Picknick auch gewissermaßen etwas Ankündigendes. Das Fundament des Vertrauens in den Staat war rissig, die Fassade bröckelte, Zweifel machten sich im Volk breit und schließlich stürzten die Mauern ein – buchstäblich. Das paneuropäische Picknick hatte etwas Absurdes, etwas Subversives und eben dieses Ankündigende.

Der chinesische Titel meiner Ausstellung heißt so viel wie „Picknick-Pläne” und es geht um den symbolischen Charakter dieses historischen Ereignisses – es war ein Versuch, Widerstand zu leisten gegen den Druck von oben und einen Möglichkeitsraum zu schaffen, und das dann aber ganz ruhig zum Ausdruck zu bringen. Aber natürlich kann man diese historischen Bezüge auch vernachlässigen und meine Ausstellung einfach als nettes Picknick verstehen – wie in der Natur irgendwo, einfach zusammen abhängen.
Jungkuratorin Chi Yining Jungkuratorin Chi Yining | © yì magazìn Verschiedene Grenzen und Trennlinien ziehen sich durch deine Ausstellung – ganz konkret im Ausstellungsraum, aber auch symbolisch. Wie hast du die Künstler*innen und Werke für die Ausstellung zusammengestellt?

„Wände” und „Grenzen” sind in der Tat wichtige Konzepte für diese Ausstellung, das kann man noch erweitern zu Regeln, Ordnung, es geht um Antagonismen, um Entfremdung und Zerreißungen.

Um diesen Punkt deutlich zu machen, habe ich eine physische Grenze gezogen: Ein großer Metallzaun hat den Grey Cube des Goethe-Instituts in zwei Bereiche geteilt, man kann das als Gefängnismauer sehen, als Berliner Mauer oder sonst was. Ich wurde so quasi zur Herrin über den Raum und konnte die Besucher*innen kontrolliert durch die Ausstellung führen.

Wenn man den inneren Bereich der Ausstellung betreten wollte, dann musste man erstmal diese enge Passage mit Kakteen durchqueren („Prickles (One Meter Line)” von Yao Qingmei, 2017), dann musste man durch diese undurchsichtige und massive Sicherheitsschleuse mit schwarzen Straußenfedern („Spray (Security Door)” von Yao Qingmei, 2022). Wenn man sich da nicht drauf einlassen wollte, dann konnte man die Ausstellung nicht weiter schauen. Das Drehkreuz am anderen Ende ging auch nur in eine Richtung, deswegen kam man von der anderen Seite nicht rein. Die Besucher*innen konnten sich also entscheiden, aber gleichzeitig hatten sie eigentlich auch keine Wahl.

Was die Wahl der Kunstwerke angeht, ich fange immer ganz intuitiv an – es gab eine Auswahl verschiedener Kunstwerke zu Themen wie Identität oder Macht und zusammen betrachtet haben sich dann bestimmte Verbindungen offenbart, dann habe ich diese Werke mit den gemeinsamen Bezugspunkten ausgewählt und dadurch ist dann diese kuratorische Linie um das Konzept „Grenzen” ganz natürlich entstanden. Drei Werke möchte ich kurz näher beschreiben:

Zum einen ist da die Video-Arbeit „The Centre of the World” (2011) von Liu Xinyi, eine Weltkarte auf einem Popo. Die Karte bewegt sich ein bisschen und jedes Land hat theoretisch die Chance, an der Mittellinie zu liegen, die von allen begehrt wird und alles und jeden anzieht. Territoriale Grenzen waren historisch immer die Domäne der politischen Strategen und Schlachtherren, wenn es zu Konflikten kommt, wie geht man damit um?

Die Video-Arbeit „Complex Formation” (2019) von Xu Guanyu versucht Antworten zu finden. Der Dialog zwischen Künstler und Mutter hat aber nicht nur Bezüge zu den Spannungen zwischen internationalen Großmächten, sondern es geht auch um Konflikte in der Kunst, um den Einfluss von Kultur, den American Dream, Vorstellungen von einem guten und sicheren Leben, unsere Zukunft. Im Gespräch der beiden werden auch Spannungsfelder in Bereichen wie sexuelle Orientierung, Klasse und Ideologie deutlich.

In der Video-Arbeit „Safe Word” (2020) von Yang Di wird der Einfluss von Macht zu etwas ganz Konkretem. In einem Science-Fiction-Setting versucht hier jemand aus der Mittelschicht sein Visum für den Mars zu verlängern und ist dabei dem Machtmissbrauch eines Beamten ausgesetzt. Der Beamte dringt immer weiter in den sensiblen persönlichen Bereich ein und es ist nicht klar, wann die Grenze des Zumutbaren überschritten ist. Wir Zuschauenden beobachten quasi vom „Rand” aus und warten darauf, dass ein kritischer Punkt erreicht wird.

Diese territorialen, ethnischen, sexuellen, soziokulturellen, ökonomischen und körperlichen Grenzen bilden ein Netz, das irgendwie die gesamte Ausstellung durchspannt.

Jungkuratorin Chi Yining Jungkuratorin Chi Yining | © yì magazìn Es scheint, als hättest du als junge Kuratorin mit der Ausstellung auch selbst Grenzen durchbrochen, nämlich die Grenzen patriarchaler Strukturen in der Kunstwelt. Wie gehst du mit diesen Strukturen um?

Gute Frage, die aber nicht so leicht zu beantworten ist, denn ich möchte natürlich niemandem zu nahe treten, nicht den Männern, nicht der älteren Generation. Diese Sorge, in bestimmte Fettnäpfchen zu treten, hat natürlich genau mit ebendieser strukturellen Ungleichheit und daraus resultierenden Risiken zu tun.

Generell kann man schon sagen, dass gesellschaftliche Diskurse eher von Männern bestimmt werden. Diese Strukturen werden ständig reproduziert und sind auch einfach schon internalisiert. Wenn ich als junge Frau mich heute mitteilen möchte, dann habe ich vorher immer Momente der Selbstprüfung und Selbstzensur: Verstehe ich genug von Politik und Geschichte? Kann ich mich überhaupt zu irgendwas äußern? Ist meine Ansicht nicht zu einseitig und subjektiv? Werden mich andere aus ihrer Perspektive betrachtet wohl angreifen für meine Standpunkte? Man wird so ein bisschen selbst das Objekt philosophischer Betrachtung und man fügt dann gerne so abschwächende Sätze hinzu wie „ich habe das Gefühl” oder „nach meiner persönlichen Meinung”, womit man dann natürlich auch irgendwo die eigene Argumentation untergräbt.

Wenn man sich die Kunstwelt in China anschaut, dann ist es schon so, dass es auf jeden Fall wesentlich mehr Kunststudentinnen und Künstlerinnen gibt als Männer, was auch damit zu tun hat, dass Frauen der Zugang zur Kunstwelt vergleichsweise leicht gemacht wird. Aber wenn man sich dann die Ebenen etwas weiter oben in der Hierarchie anschaut, also Dozierende an Unis, berühmte Kurator*innen oder Künstler*innen ganz oben, dann nimmt der Frauenanteil ganz offensichtlich ab.

Das hängt eben damit zusammen, dass Männer historisch die wissenschaftlichen und diskursiven Strukturen dominieren. Wie man die Machtverhältnisse in der Kunstwelt verändern und durch eigenes Handeln herausfordern kann, das ist bei uns allen Thema, die gegen diese hegemonialen Strukturen vorgehen wollen.

Es ist jedenfalls erfreulich, dass in den letzten Jahren immer mehr tolle Kuratorinnen und Künstlerinnen in Erscheinung treten, deswegen war es zum Beispiel auch relativ entspannt möglich (fast wie von selbst), bei meiner Ausstellung ein Gleichgewicht der Geschlechter zu erreichen.

Wie lässt man sich nicht einfach ein Label aufdrücken, sondern gibt dem Label neue Bedeutung? Das sind die Fragen, die wir von der Generation Z uns stellen müssen.

Es geht bei der Ausstellung nicht primär um Gender-Perspektiven, aber im Ausstellungsraum konnten die Besucher*innen an einer Stelle Kommentare hinterlassen und irgendjemand hat geschrieben: „Frauen-Power, über uns nur der Himmel” – das hat mich ziemlich berührt und war eine schöne Überraschung.

Wir werden ja gerne als Generation Z beschrieben, das ist natürlich ein schönes Label, mit dem man irgendwelche Unterscheidungen machen und Aufmerksamkeit erzeugen kann. Aber ich bin der Meinung, dass mit diesem Label viel verbunden wird, was nichts so richtig mit der Realität zu tun hat. Zum Beispiel wurde in letzter Zeit viel diskutiert, dass jetzt die Generation Z ja schon einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung ausmache und so weiter, aber das sind eigentlich nur Diskussionen, die von den „Erwachsenen” geführt werden, die einen Machtverlust spüren und irgendeine Projektionsfläche brauchen. Wie wird man nicht einfach vom System absorbiert, sondern verändert das System? Wie lässt man sich nicht einfach ein Label aufdrücken, sondern gibt dem Label neue Bedeutung? Das sind die Fragen, die wir von der Generation Z uns stellen müssen.

Nochmal zurück zum paneuropäischen Picknick – fallen dir irgendwelche „Picknicke” in China ein?

Da fallen mir ein paar einfache Beispiele ein. Peking musste dieses Jahr wegen der Pandemie alle Kinos für zwei Monate schließen und man durfte auch nicht in Restaurants, Cafés oder Bars sich aufhalten und essen oder trinken, aber dabei gibt es so viele Orte, wo man sich treffen und was unternehmen kann und die sozialen Bedürfnisse der Menschen sind auch schwer zu kontrollieren, deswegen sind an vielen Orten kurzfristig interessante und zum Teil wirklich rührende neue soziale Räume entstanden:

In der Nähe vom Fluss habe ich letztens zum Beispiel ein „Brücken-Kino” gesehen, die Brückenpfeiler sind perfekte Projektionsfläche, da wurden Filme drauf projiziert, die Leute saßen im Schatten unter der Brücke. Und es gab auch ein Freiluftkino, das war total spontan alles, Leute kamen zufällig dran vorbei und haben dann angehalten, Senioren auf Rollstühlen, spielende Kinder, einfach Spazierende, die dazukamen, geschaut haben und dann wieder gegangen sind. Das war alles ziemlich fluide und hatte Kraft, wie fließendes Wasser, das langsam zu einer Welle anschwillt und dann bricht. Als dann das gesellschaftliche Potenzial und diese Interventionen im öffentlichen Raum so richtig spürbar waren, wurde immer schnell auf die Stopp-Taste gedrückt – aber dann ging es immer sofort woanders irgendwie weiter.

Es gibt viele solcher Beispiele, am Glockenturm hat eine Bar am Eingang Getränke verkauft, die Leute saßen auf der Straße und haben getrunken, getanzt, gesungen und Gitarre gespielt, im Liangmahe haben die Leute gepaddelt, am Ufer haben sich Leute gesonnt, ein paar Furchtlose sind von der Brücke ins Wasser gesprungen, natürlich wurde auch Frisbee gespielt, geskatet, gesungen, alle möglichen Verhaltensweisen und Ausdrucksformen konnte man hier beobachten.

Als die Leute das Gefühl hatten, nicht mehr so reserviert, anständig und regeltreu sein zu müssen, hat es plötzlich neue Beziehungen zum öffentlichen Raum mit neuen Formen der Interaktion dort gegeben. Das war sozusagen ein riesengroßes „Picknick” – ein kollektives Überschreiten der geläufigen gesellschaftlichen Grenzen.
Jungkuratorin Chi Yining Jungkuratorin Chi Yining | © yì magazìn
Chi Yining (池艺宁) wurde 2001 in Peking geboren und studiert Kunstgeschichte und Kunstmanagement an der Pekinger Central Academy of Fine Arts.
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Instagram: @this1s_chi
Die Fragen stellte Roman Kierst.

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