Experten-Interview  Was ist „China-Kompetenz“?

Panda in Chengdu
Panda in Chengdu Wu Ying via unsplash.com

China-Kompetenz ist im Moment in aller Munde. Immer mehr Thinktanks, Stiftungen und andere Organisationen in Deutschland wollen uns mit ihren Projekten dabei helfen, kompetenter zu werden im Umgang mit China. Aber was ist das überhaupt, „China-Kompetenz“? Und warum wird gerade jetzt so viel darüber geredet? Ein Gespräch mit Prof. Andreas Guder von der Freien Universität Berlin.

yì magazìn: Herr Prof. Guder, China-Kompetenz scheint aktuell in aller Munde zu sein. Was ist das eigentlich?

Ich denke, es handelt sich um einen Versuch, einen Begriff für die Bewältigung des Fremdheitsgefühls zu finden, das wir Europäer im Kontakt mit China und seinen Menschen empfinden, gepaart mit der zunehmenden Einsicht, dass wir lernen müssen, das im 20. Jahrhundert vorherrschende europäisch-amerikanische Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Rest der Welt zu überwinden.

Ich verstehe unter „China-Kompetenz“ zum einen ein gewisses Grundwissen zu chinesischer Geschichte, insbesondere auch zu den Wechselwirkungen zwischen europäischer und chinesischer Geistesgeschichte in den letzten 200 Jahren, weitergehend ein Bewusstsein für die kontinentale Größe und entsprechend enorme Diversität Chinas, vor allem aber auch für die Gedanken und Wertesysteme, die Menschen mit chinesischer Herkunft prägen und die uns bis zu einem gewissen Grade auch herausfordern müssen. Dazu gehören natürlich auch Kenntnisse über die Funktionsweise eines Ein-Parteien-Staats.

Eine weitere Rolle spielt in meinen Augen die Formalisierung von Kommunikation: Wenn ich beobachte, wie deutsche und chinesische Partner miteinander kommunizieren, stelle ich oft fest, dass es ein Kommunikationsgefälle gibt, oder dass ganz unterschiedliche Inhalte kommuniziert werden, oder dass auf deutscher Seite eine geringe Sensibilität für den Unterschied zwischen formeller und informeller Kommunikation in China besteht. Kommunikation mit China bedeutet häufig, nicht nur zu kommunizieren, sondern auch darauf zu achten, was nicht oder über andere Kanäle kommuniziert wird.

Kompetenz und Respekt zeigt man, indem man sich vorab Wissen über den Gesprächspartner aneignet, aber auch, indem man Grundlagen der Sprache kennt, die nicht übersetzbar sind: Daher gehört für mich zur „China-Kompetenz“ auch, dass man die Aussprache chinesischer Namen zumindest soweit beherrscht, dass man zwischen Herrn Chang, Herrn Jiang und Herrn Zhang unterscheiden kann, und weiß, dass die Stadt Zhenjiang nicht die Stadt Shenyang ist. Zu wissen, dass in der chinesischen Sprache kein Tempus und kein Plural existiert, kann ebenfalls helfen, Missverständnisse zu vermeiden.

China-Kompetenzbildung in Deutschland war doch um die Zeit der Olympischen Spiele 2008 schon mal en vogue  was hat sich seitdem getan?

In den letzten zehn Jahren ist die Kommunikation mit China eher schwieriger geworden. China hat – nach eigenem Empfinden – seit den 1990er Jahren alles versucht, um sich der westlichen Welt anzunähern, und die Olympischen Spiele (wieder ein ur-europäisches Konzept!) waren in gewisser Weise ein Höhepunkt dieser „Globalisierung“ Chinas. Der „Westen“ hat jedoch auch nach 2008 nicht aufgehört, über China vor allem kritisch zu berichten, und dabei die gesellschaftlichen und infrastrukturellen Fortschritte Chinas weitgehend ignoriert, was in den letzten zehn Jahren zu einem gewissen enttäuschten Rollback in China geführt hat.

Zu dieser Kompetenz gehört vor allem Neugier, Fragen nach den Lebensumständen, Hoffnungen, Prägungen und Werten von Menschen

Der Glaube, dass sich ein Koloss wie China ohne Widerstände in eine letztlich europäisch-amerikanisch geprägte Weltordnung einfügen würde, ist heute wohl endgültig Vergangenheit. Dass man erst jetzt (und nicht vor 30 Jahren) versucht, eine „China-Kompetenz“ zu thematisieren, zeigt letztlich, wie wenig unser Bildungssystem und unser Weltbild bisher bereit war und ist, sich auf außereuropäischen Welten inhaltlich einzulassen.

Dennoch würde ich lieber von einer anzustrebenden „transkontinentalen Kompetenz“ mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen sprechen, da afrikanische, arabische, indische oder vietnamesische Lebenswelten genauso wenig Teil unseres Bildungskonzepts sind, obwohl diese Kulturen ebenfalls längst in Europa angekommen sind. Zu dieser Kompetenz gehört vor allem Neugier, Fragen nach den Lebensumständen, Hoffnungen, Prägungen und Werten von Menschen, für die wiederum unser Europa eine fremde und schwer verständliche Welt ist.

Läuft man mit solchen Narrativen über XYZ-Kompetenz nicht Gefahr, Regionen der Welt und die Menschen dort zu exotisieren und fremder zu machen, als sie es eigentlich sind? Zumal in Bereichen der internationalen Zusammenarbeit wie etwa Diplomatie oder Management ohnehin Englisch gängige Sprache ist und es transkulturelle Konventionen gibt ...

Es ist ja einerseits erfreulich, dass wir zunehmend auf eine einzige globale Sprache ausweichen können, um weltweit miteinander zu kommunizieren. Ich gebe jedoch immer wieder zu bedenken, dass die ausschließliche Verwendung des Englischen immer auch einen kolonialen Unterton hat, und es für Chinesinnen und Chinesen eine ungleich höhere Leistung darstellt, sich auf diese Sprache einzulassen, als für uns Deutsche, für die Englisch eine vergleichsweise nah verwandte Sprache ist.

Wenn wir einmal versuchen, uns China als ein Konglomerat aus über 30 Provinzen zu vergegenwärtigen, die sich im 20. Jahrhundert auf das Hochchinesische als gemeinsame Kommunikationssprache geeinigt haben, beginnen wir vielleicht, das Problem aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

Aber wie gesagt glaube ich, dass wir in Europa gesellschaftlich eine grundsätzliche Erhöhung transkontinentaler Kompetenz benötigen

Wer glaubt, dass eine Region der Größe Europas, die aber erst seit weniger als 200 Jahren mit Europa in direktem Kontakt steht (und dies über die meiste Zeit in defensiver Position), heute nahtlos in ein sogenanntes „internationales“ System eingebunden wäre, ist bestenfalls naiv. Wem es gelingt, sich mit großem Zeitaufwand auf die chinesische Sprache und die chinesische Welt einzulassen, hat gelernt, die Welt aus neuen Perspektiven zu sehen, und lernt damit vor allem auch etwas über die Relativität der eigenen Identität. Und dies halte ich nach wie vor für eine Schlüsselkompetenz sich als „international“ bezeichnender Manager.

Aber wie gesagt glaube ich, dass wir in Europa gesellschaftlich eine grundsätzliche Erhöhung transkontinentaler Kompetenz benötigen: Wir müssen verstehen, was es für Menschen bedeutet, wenn ihre Firmen und Institutionen anderen Rechtssystemen unterliegen, wenn dort in den entscheidenden Gremien ein Parteisekretär im Interesse der Nation denken muss, oder welche Rolle persönliche Beziehungen in Ländern spielen, in denen keine Gewaltenteilung und somit keine Rechtssicherheit für den Bürger besteht. Und dies gilt nach wie vor für die Mehrheit der Länder dieser Welt.

Projekte zur China-Kompetenzbildung scheinen im Moment eher im Bereich der Eliten- und Begabtenförderung angesiedelt zu sein. Brauchen wir eine so speziell ausgebildete „China-Elite“ und sollten das nicht eigentlich auch die Absolvent*innen chinawissenschaftlicher Studiengänge sein? Wo sind die ganzen Leute?

Leider müssen wir feststellen, dass es nur wenigen Absolventen der Chinawissenschaften gelingt, tatsächlich in diesen Kreisen dauerhaft Fuß zu fassen. „China-Kompetenz“ gilt bei uns immer noch als interessante Zusatzqualifikation, aber nicht als Berufsbild. Das hängt auch mit der immer noch weit verbreiteten (und im Grunde kolonialen) Vorstellung zusammen, eine qualifizierte Person müsse auf der ganzen Welt gleichermaßen einsetzbar sein.

Neben einem entsprechenden Studium halte ich aber auch einen möglichst langen Aufenthalt in China für unabdingbar, um entsprechende Kompetenzen vor Ort entwickeln zu können. Wir brauchen einerseits Chinawissenschaftler, die sprachlich professionell mit China interagieren können, und die diejenigen Texte lesen und interpretieren können, die China nicht auf Englisch veröffentlicht, und wir brauchen eine noch näher zu definierende „China-Kompetenz“ bei allen anderen, die professionell mit China interagieren. Und für beide Gruppen sollten wir tatsächlich gegenüber China mehr auf bilaterale, inhaltlich gefüllte Austauschprojekte dringen und diese auch unsererseits entsprechend ausfinanzieren.

Müsste es aber nicht auch groß angelegte Projekte geben, um gesamtgesellschaftlich China-Kompetenz zu fördern?

Selbstverständlich. Immerhin ist Chinesisch heute an über 100 Schulen im Bundesgebiet Wahlpflichtfach. Noch wichtiger scheint mir allerdings, dass China und andere außereuropäische Kulturräume in unseren gesellschaftswissenschaftlichen Schulfächern wie Geographie, Geschichte und Politik standardmäßig mitgedacht werden – wovon wir noch weit entfernt sind.

Gerade im Politikunterricht ist China doch genau das Land, an dem sich hervorragend über unsere Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Nation, politischer Partizipation oder Individualität diskutieren lässt. Aber dazu muss man erst einmal die Fähigkeit und Möglichkeiten erhalten, sich (idealerweise auch vor Ort) auf das China hinter den politischen Abziehbildern einzulassen – die Grundlage jeglicher „China-Kompetenz“.

So wie wir nach dem Zweiten Weltkrieg lernen mussten, die Perspektiven unserer europäischen Nachbarn zu verstehen, so müssen wir jetzt im 21. Jahrhundert daran gehen, Perspektiven in Asien und Afrika zu begreifen – auch, um unseren Planeten gemeinsam zu bewahren.
Andreas Guder ist Professor für Didaktik des Chinesischen sowie Sprache und Literatur Chinas am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität Berlin und Vorsitzender des Fachverband Chinesisch e.V. Auf Twitter findet man ihn und seine Erläuterungen zu den häufigsten chinesischen Schriftzeichen unter @guder_andreas.
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Ostasiatisches Seminar der Freien Universität Berlin
Fachverband Chinesisch e.V.
Die Fragen stellte Roman Kierst.

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