Lin Yihan, Regisseurin von „Sojourn to Shangri-La“, ist Absolventin des Columbia College in Chicago, Schauplatz ihres Films ist hingegen die chinesische Küste. Wang Yuyan studierte am Le Fresnoy – Studio National des Arts Contemporains in Tourcoing sowie an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris, ihr Film „The Moon also Rises“ entspinnt sich jedoch rund um die Idee, in China drei „künstliche Monde“ am Himmel zu platzieren; Huang Shuli hat in New York Film studiert, in seinem Kurzfilm „Goodbye First Love“ erzählt er davon, wie er auf der Durchreise in Frankfurt seinen ersten Lover aus der chinesischen Mittelschule wiedertrifft; Zhang Wenqian hat ihr Studium am SAIC in Chicago abgeschlossen, in ihrem Film „Remains of the Hot Day“ steht jedoch ein Familienportrait in der südchinesischen Mittagshitze im Mittelpunkt; und schließlich ist da Lam Can-zhao, Absolvent der Guangdong Literary and Art Vocational School of Film, Television and Animation und Regisseur des Kurzfilms „A Summer`s End Poem“, der in der Berlinale-Sektion Generation Kplus lief. Lam war mit seinen Filmen bereits bei Festivals in Los Angeles, Frankreich, Tunesien, Spanien und im Kosovo eingeladen.
In die Reflexionen über ihre Heimat mischen sich bei diesem weitgereisten Regienachwuchs unter dem Eindruck einer sich drastisch verändernden globalisierten Welt oft aus dem Unbewussten vordrängende Traumfantasien. Schließlich lassen sich im Schlaf Dinge aussprechen, die einem im Wachzustand nur schwer über die Lippen kämen, dringt man in Dimensionen vor, die einem die Vernunft verbieten würde. Man hat die relative Sicherheit und Freiheit, möglicherweise politisch heikle Themen oder mit Schmerz, Angst oder Beklemmung verbundene Gefühle auf die Vergangenheit, die Heimat, in eine Traumwelt oder in unbewusste und surreale Räume zu projizieren. Die Vergangenheit ist eine Zeit, die es schon nicht mehr oder nur noch in der Erinnerung gibt, während der Traum für Möglichkeitsräume und Parallelwelten steht.
„The Moon Also Arises“ der Filmemacherin Wang Yuyan vereint gleichermaßen die Qualitäten eines Kurzfilms wie einer Videoinstallation und eignet sich sowohl für ein Filmfestival wie für eine Kunstausstellung. Dieser Kunst-Film zeigt die traumartigen Bilder eines Bewusstseinsstroms verbunden mit einer dystopischen Fantasie in der künstliche Monde drei chinesische Großstädte in konstant auch bei Nacht illuminieren.
Lin Yihan / Hangzhou Chuying Media & Culture Ltd. In dem in Schwarzweiß gedrehten Kurzfilm „Sojourn to Shangri-La“ in der Regie von Lin Yihan kommt ein Filmteam an einen Strand, um ein Mode-Shooting zu drehen, und muss feststellen, dass die zuvor im Meer errichtete Kulisse von der Flut weggespült wurde. Während der verzweifelte Regisseur leise mit dem Auftraggeber telefoniert und der Art Director auf dem Boden liegend in Passivität verharrt, setzt die mitreisende Assistentin sämtliche Hebel in Bewegung und treibt schließlich eine Drohne bei der Filmcrew auf, die für die Suche über dem Meer aufsteigt. In diesem Moment hebt auch der Kurzfilm vom Boden Richtung Himmel ab und bewegt sich aus der sozialen Realität in eine unbekannte Traumwelt, vom Realen zum Imaginären.
Die Filmemacher*innen von „Goodbye First Love“, „Remains of the Hot Day“ und „A Summer’s End Poem“ haben sich hingegen dafür entschieden, in die Zeiträume der Kindheit oder Jugend abzutauchen. Ihre sehr persönlichen Schilderungen stehen oft im Zusammenhang mit einer lang unterdrückten sexuellen Orientierung und den von der Herkunftsfamilie verursachten Narben.
Huang Shuli Der Regisseur Huang Shuli, der auf der Berlinale mit „Goodbye First Love“ vertreten war, gewann schon 2022 mit seinem Film „Will Yous Look at Me“ die Queer Palm im Kurzfilmwettbewerb von Cannes. In Huangs diesjährigem Kurzfilmbeitrag verwischen die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion: Der Regisseur schlüpft selbst in die Rolle des Protagonisten und besucht auf einer Geschäftsreise in Frankfurt seinen Ex-Freund aus der Mittelschule, den er jahrelang aus den Augen verloren hatte. An einem grauen Nachmittag sprechen die beiden ehemaligen Lover in einem düsteren Apartment verhalten über die unvollendete Liebesgeschichte ihrer Adoleszenz. Irgendwann bricht die Nacht herein, und so wird vieles ungesagt bleiben – auch dies ein sehr persönlicher und intimer Film.
Zhang Wenqians „Remains of the Hot Day“ erlebt aus der Perspektive eines sechsjährigen Mädchens einen heißen Mittag am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Es sind wohlüberlegte Kompositionen, oft aus dem Blickwinkel des Kindes, das aus Kniehöhe der Erwachsenen die Welt beobachtet, und immer wieder driftet der Blick ab, so dass man nur den Teil eines Körpers oder der Zimmereinrichtung sieht. In einfachen Kameraeinstellungen entsteht ein Mikrokosmos des ganz normalen chinesischen Familienlebens, in aller Schlichtheit, ohne Drama und Katastrophen, und doch durchzogen von einer unerklärlichen Melancholie.
Lam Can-zhao Der für die Sektion Generation Kplus ausgewählte Kurzfilm „A Summer’s End Poem“ von Lam Can-zhao präsentiert sich in einem an eine Diashow erinnernden quadratischen Format, das in bewegten Filmmomenten jedoch unwillkürlich durchbrochen wird, so dass Filmästhetik und erzählerische Details hier eng aufeinander abgestimmt wirken. Der Kurzfilm erzählt auf humorvolle und leichte Art von einem Jungen, der in Südchina in der Nähe der Stadt Chaozhou lebt. Es geht um die Unvereinbarkeit zwischen Traum und Wirklichkeit, die in etwa der Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Adoleszenz und Kindheit entspricht. Kann es sein, dass schweißbedeckte Haut so etwas wie ein Proust-Effekt für den chinesischen Regie-Nachwuchs ist und sich bei diesen Erinnerungen an Heimat und Kindheit in der schwülen Sommerhitze leichter einstellen? Tatsächlich wird die Atmosphäre der Kindheit bei jungen Filmemacher*innen oft durch heiße und feuchte Sommer evoziert, man denke etwa an frühere Berlinale-Beiträge wie „The Summer is Gone“ und „Day is Done“ von Zhang Dalei oder „Summer Blur“ von Han Shuai.
Die jungen Regisseur*innen haben sich bei ihren Arbeiten oft für einen persönlichen identitätspolitischen Ansatz entschieden. Sie haben nicht mehr die schonungslose Entschlossenheit der sogenannten vierten Generation chinesischer Regisseure, nicht deren Verbundenheit zum ländlichen China und deren gesellschaftlichen Auftrag; sie kommen ohne die Konzepte und Symbolik einer nationalen Kultur aus, die für die fünfte Generation typisch war; und sie sind auch nicht wie die sechste Regie-Generation Fußsoldaten des Realismus, die unter der Druckwelle des Generationswechsels Zeugen der rasanten Kommerzialisierung des Films wurden.
Dieses Phänomen spiegelt einerseits die Haltung der Post-90er-Generation wider, die sich nach wiederholter Beschäftigung mit dem größeren gesellschaftlichen Umfeld nun auf die Analyse der Herkunftsfamilie und vom sozialen Kollektiv auf das individuelle Leben verlegt. Andererseits haben die Festivals in den letzten Jahren ihre Filmauswahl auch einer selbstkritischen Überprüfung unterzogen. Nachdem der Westen die Filme der nichtwestlichen Welt viele Jahre lang aus der Perspektive einer moralischen Überheblichkeit auswählte, vermeidet man nun bewusst die alte Gewohnheit, sich in der Jagd nach dem „Andersartigen“ auf die sozialen Realitäten der nichtwestlichen Welt zu fokussieren, und bevorzugt womöglich gerade deswegen eher Themen, die sich mit Selbsterforschung und der Erkundung des eigenen Inneren beschäftigen.
Interessanterweise lässt sich, anders als bei den chinesischen Beiträgen, bei den anderen Kurzfilmen der Berlinale Shorts keine eindeutige Tendenz feststellen, aus dem Unterbewusstsein zu schöpfen oder sich mit Erinnerungen an die Vergangenheit auseinanderzusetzen. Vielmehr beschäftigen sich diese Filme vor allem mit Themen aus dem Hier und Jetzt.