Berlin: Schön, dass Du Dich meldest, Beijing. Wir haben ja ewig nichts mehr voneinander gehört.
Beijing: Stimmt, Berlin. Ich hatte viel um die Ohren. Wie geht es Dir?
Berlin: Obwohl bei mir auch immer sehr viel los ist, überkommt mich gerade jetzt im Herbst wieder der Blues. Die Einsamkeit hat mich gefühlt zunehmend im Griff.
Beijing: Das tut mir leid. Ich habe von alarmierenden Zahlen gehört.
Berlin: In der Tat. Die Statistiken zeigen, dass dies nicht nur ein vages Gefühl ist. In Berlin ist inzwischen jeder zehnte Einwohner von Einsamkeit betroffen. Deshalb werde ich auch schon als „Hauptstadt der Einsamkeit“ bezeichnet.
Beijing: Das sind wirklich traurige Entwicklungen. Bei mir sieht es leider ganz ähnlich aus: Seit der Pandemie hat sich mein Einsamkeitsproblem verschärft, vor allem bei älteren Menschen und jungen Erwachsenen. Laut einer nationalen Studie der Chinese Academy of Social Sciences (CASS) fühlt sich mehr als ein Drittel meiner über 60-Jährigen regelmäßig einsam. Die Studie zeigt auch, dass etwa die Hälfte der älteren Menschen mindestens einmal pro Woche soziale Isolation erlebt. Bei den Jüngeren berichten rund 40 % der 20- bis 39-Jährigen von anhaltender Isolation.
Seit der Pandemie suchten laut einem Bericht des Beijing Mental Health Institute etwa 15 % mehr Menschen als zuvor psychologische Unterstützung aufgrund von Einsamkeit. Und die Nachfrage bleibt hoch.
Berlin: Dabei sind die mentalen Probleme ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besorgt mich mindestens ebenso. Nämlich die Tatsache, dass Einsamkeit ein Gefühl ist, das auf Dauer krank macht. Einsame Menschen haben ja bekanntlich ein höheres Risiko für Schlaganfälle, Herzerkrankungen und Demenz. Ihr Immunsystem ist geschwächt, weil Einsamkeit die Produktion von Stresshormonen wie Cortisol erhöht, was wiederum die Immunabwehr herabsetzt und das Risiko für Infektionskrankheiten und chronische Entzündungen steigert.
Beijing: Ich habe gerade in einer Meta-Analyse gelesen, dass Einsamkeit die Sterblichkeitsrate um etwa 26 % erhöhen kann. Und deshalb in ihrer gesundheitlichen Bedeutung oft mit bekannten Faktoren wie Rauchen und Fettleibigkeit verglichen wird.
Berlin: Umso verstörender sind diese hohen Zahlen. Ich frage mich nur, woher diese kommen?
Beijing: Bei mir zum Beispiel leben immer mehr Singles. Viele der neuen Jungen lehnen den traditionellen Weg von Heirat und Kindern ab. Sie ziehen ein Leben, weit weg von Freunden und Familie, in der Großstadt vor. Früher lebten in China mehrere Generationen unter einem Dach. Heute sind wir eins der mobilsten Länder der Welt. Arbeiter ziehen der Arbeit nach, die Jugend zieht es in die Städte. Das sorgt für Entfremdung und Isolation auf allen Seiten und vielen Ebenen.
Berlin: Ich könnte mir auch vorstellen, dass Eure Ein-Kind-Politik die Sache nicht einfacher macht.
Beijing: Auch das stimmt. Selbst wenn es diese ja seit 2016 nicht mehr gibt, spüre ich die Auswirkungen sehr. Diese Politik macht einsam: die Alten, die niemand pflegt, die Kinder, denen Geschwister fehlen, die Männer, die keine Frauen finden.
Berlin: Die Single-Thematik kenne ich auch. Bei mir leben mehr als 55 Prozent der Einwohner in Singlehaushalten.
Beijing: In Beijing leben zwar nur etwa 20 % der Menschen in Einpersonenhaushalten, aber dieser Anteil steigt jährlich um ca. 5 %. Der Anstieg ist vor allem bei jungen Berufstätigen und älteren Menschen zu beobachten, die aufgrund von Migration, dem Fokus auf Karriere oder dem Verlust von Lebenspartnern allein wohnen. Viele ältere Menschen sind aufgrund der Abwanderung jüngerer Familienmitglieder besonders betroffen. Durch die Binnenmigration leben viele Familienmitglieder getrennt, und die schnelle Urbanisierung führt zu einer Entfremdung von traditionellen sozialen Strukturen.
Berlin: Auch hier sehe ich Parallelen. Bei mir ist etwa ein Drittel der über 65-Jährigen von Einsamkeit betroffen.
Beijing: Meinen Freunden Singapur, Seoul, Hongkong und Tokyo geht es im Übrigen ganz ähnlich. Hongkong klagt zum Beispiel über 25 % an Jugendlichen, die sich regelmäßig einsam fühlen. Und Singapur schätzt, dass sich etwa 30 % der Senioren einsam fühlen, Tendenz steigend. Etwa 40 % der Haushalte in Tokyo bestehen aus Einzelpersonen. Das Phänomen der „Hikikomori“, also Menschen, die sich freiwillig sozial isolieren, ist hier besonders ausgeprägt, und die Altersgruppe über 65 hat eine hohe Einsamkeitsrate.
Berlin: Ich glaube ja auch, dass der extreme Leistungsdruck und die Arbeitsethik bei Euch in Asien die Pflege von Freundschaften und sozialen Kontakten erschwert. Und damit die Einsamkeitsproblematik verschärft.
Beijing: Absolut richtig. Die hohe Arbeitsbelastung und unsere sozialen Normen sind echte Verstärker. Ich wiederum glaube, dass Du in Europa mit dem Thema auch nicht allein bist.
Berlin: Richtig. London, Paris und ich haben zu dem Thema gerade einen Gruppenchat aufgemacht. Es ist erschreckend, wie brisant das Thema ist. 41 Millionen Europäer fühlen sich dauerhaft einsam, doch darüber zu sprechen, empfinden viele als peinlich. Weil es als Zeichen von persönlichem oder sozialem Versagen gesehen und interpretiert wird.
Beijing: Das ist bei uns bedauerlicherweise ganz genauso. Streng genommen ist Einsamkeit noch immer ein Tabuthema, das mit viel Scham behaftet ist.
Beijing: Deshalb bin ich heilfroh, dass in unseren sozialen Medien, etwa auf Weibo und Douyin, Stichwörter wie „孤独“ (Einsamkeit) und „单身生活“ (Leben als Single) stark ansteigen. In den letzten drei Jahren um ca. 30 % pro Jahr. Das zeigt doch, dass immer mehr Menschen ihre Erfahrungen von Einsamkeit online teilen und darüber sprechen.
Berlin: Dabei ist das Phänomen weitverbreitet, auch wenn es nicht direkt messbar ist. Wir bekommen plötzlich Anfragen aus der ganzen Welt. Alle wollen mit rein in unsere WhatsApp-Gruppe. London hat erzählt, dass in einer Umfrage 55 % der Londoner angaben, dass sich ihre Stadt wie ein ziemlich einsamer Ort anfühlen kann. Und in New York waren es 52 %.
Beijing: Einsamkeit scheint in der Tat völlig unabhängig vom Kontinent und vom kulturellen Umfeld.
Berlin: Und auch unabhängig von Alter, Geschlecht und Einkommen. Man muss leider sagen, Einsamkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Beijing: Und gleich wird daraus wieder ein großes Geschäft. Bei uns heißt das „Companionship Industry” oder auch “Companionship Economy“.
Berlin: Nie gehört.
Beijing(schmunzelt): Ach Berlin, Ihr seid doch immer etwas hinterher.
Berlin: Jetzt hör aber auf. Erklär‘s mir lieber.
Beijing: Wir umschreiben damit einen Industriezweig rund um Companionship. Also das Gegenteil von Einsamkeit. Dieses Nähe-, Unterstützung- und das Gefühl-, nicht allein zu sein -vermittelnde Geschäft wird im Jahr 2025 bereits 50 Billionen Yuan, also 6,5 Billionen Euro umfassen.
Berlin: Wow! Das bedeutet also, Einsamkeit is the country’s next big business opportunity.
Beijing: Sei nicht immer so zynisch, Berlin. Aber recht hast Du. Wobei wir das Thema nicht nur materialistisch nutzen, sondern auch literarisch bearbeiten. Meine Autorin Yiyun Li, also in Beijing geboren und aufgewachsen, hat sich zum Beispiel auf berührend schöne Weise mit der Komplexität von Identität und Einsamkeit auseinandersetzt. Ans Herz legen möchte ich Dir ihre Kurzgeschichten „Das Leben eines anderen“ und den Roman „Schöner als die Einsamkeit“.
Berlin: Ich liebe Deine Leseempfehlungen ja immer sehr. Schick mir bitte unbedingt die Links.
Beijing: Das mache ich gern. Die Liste ergänze ich dann noch um „Sehnsucht groß wie meine Einsamkeit: Chinesische Frauen erzählen von der Liebe“ von Xinran, und natürlich darf auch unser Nobelpreisträger Gao Xingjian mit seinem „Das Buch eines einsamen Menschen“ nicht fehlen. Eine poetische Sprache und philosophisch sehr tief.
Berlin: Ein Klassiker aus Deutschland sind ja die „Briefe an einen jungen Dichter“ von Rainer Maria Rilke. Auf meine Liste kommt noch der Roman „Super einsam“ von Anton Weil. Er ist in einer modernen städtischen Umgebung, also passend zu unserem Gespräch, angesiedelt. Die Geschichte erzählt von Urbanisierung und technologischem Fortschritt und fängt die Unsicherheiten und Alltagskämpfe einer Generation sehr authentisch ein. Auch „Avas Geheimnis: Meine Begegnung mit der Einsamkeit.“ von Bärbel Schäfer ist empfehlenswert.
Beijing: Wir sollten einen Buchklub aufmachen, Berlin. In unserer 30-jährigen Freundschaft habe ich schon so viele großartige Tipps von Dir bekommen.
Berlin: Ich genieße diesen Austausch mit Dir auch immer sehr. Apropos: Der Austausch über Einsamkeit ist ja gleichzeitig auch eine Problematik von Einsamkeit. Du hast es vorhin schon einmal kurz erwähnt: diese Scheu, über das Gefühl zu reden. Deshalb finde ich den Einstein-Podcast „Gesichter der Einsamkeit“so genial.
Link: https://open.spotify.com/show/1TkwWmXlPjeg32NeK3YdAA&
Hier erzählen Journalistik-Studierende die Geschichten von Menschen, die der Einsamkeit jeden Tag gegenüberstehen.
Beijing: Bei uns hat früher sogar ein eigener künstlerischer Raum zur Auseinandersetzung mit dem Thema eingeladen. Das war das „Torro, Loneliness Museum“. Es thematisierte, wie Einsamkeit in städtischen Umgebungen und unter dem Einfluss technologischer Entwicklungen entsteht und sich manifestiert. Zeitgenössische Kunstwerke, Installationen und multimediale Präsentationen haben Einsamkeit visuell und emotional erfahrbar gemacht. Künstler*innen aus verschiedenen Disziplinen reflektierten ihre persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Beobachtungen. Den Besucher*innen wurde außerdem Raum für Reflexion und Diskussion gegeben.
Berlin: Du sagst „war“?
Beijing: Leider hat das Museum die Pandemie nicht überlebt und musste schließen.
Berlin: Das ist wirklich schade. Eure öffentlichen Trainingsplätze tragen dieses Risiko ja nicht. Darauf blicke ich immer ein wenig neidisch. Wohin man auch schaut: Es wird gemeinsam getanzt, gesportelt, Tai-Chi praktiziert. Das ist ja alles andere als einsam. Mir wird da immer richtig warm ums Herz.
Beijing: Absolut. Diese Gemeinsamkeit in der Öffentlichkeit stimmt mich auch sehr optimistisch. Da treffen sich alle Altersgruppen, Männer und Frauen – das ist wirklich phänomenal, aber für uns in China eben auch völlig normal. Die Tanzgruppen zum Beispiel findest Du in vielen Parks Chinas. Vor allem ältere Menschen nehmen an den täglichen Tanzveranstaltungen mit vollem Herzblut teil, um sowohl physisch aktiv zu bleiben als auch soziale Kontakte zu pflegen. Solche Gruppen fördern das Gemeinschaftsgefühl und bieten eine einfache Möglichkeit, Einsamkeit zu überwinden.
Berlin: Eure Tai-Chi-Gruppen finde ich aber mindestens ebenso spannend. Oder die Open-Air Fitness-Einrichtungen. Oder die Tischtennisplätze. Wahnsinn, was bei Euch im öffentlichen Raum passiert.
Beijing: Ja, darauf bin ich auch mächtig stolz. Die gemeinsamen Sportaktivitäten werden sowohl privat als auch von lokalen Behörden organisiert. Sie bieten Menschen aller Altersgruppen die Möglichkeit, sich zu vernetzen und sich zu bewegen. Diese Programme sollen auch dazu beitragen, das geistige Wohlbefinden zu stärken.
Berlin: Ich glaube, das gibt unsere Kultur einfach nicht her. Wir leben hier eher in kleinen durchindividualisierten Blasen mit einem Hyperfokus auf den Job und dem Ideal der heteronormativen Zweierbeziehung. Da werden sogar Freundschaften vernachlässigt. Was am Ende die Einsamkeit noch verschärft. Dazu kommt, dass ich eine eher transiente Stadt bin, in der sich nur wenige niederlassen und festlegen wollen. Bei mir ist vieles flüchtig, wenig von Dauer.
Deshalb versuchen tatsächlich Staat und Regierung mit zu unterstützen. Sie haben die Relevanz des Themas erkannt. Unsere Bundesregierung hat zum Beispiel ein Strategiepapier herausgebracht und unser Familienministerium ein Einsamkeitsbarometers erstellt, das die Einsamkeitsbelastung beobachtet. In einem meiner Bezirke, in Reinickendorf, gibt es seit 2021 sogar eine Einsamkeitsbeauftragte.
Beijing: Eine was?
Berlin: Eine Einsamkeitsbeauftragte. Die ist Ansprechpartnerin für das Bezirksamt und für Partner in allen Belangen zum Thema Einsamkeit. Sie erstellt Konzepte gegen Einsamkeit, betreut und koordiniert Projekte und prüft deren Wirksamkeit. Außerdem vernetzt sie unterschiedliche Initiativen gegen Einsamkeit auf Bezirksebene, organisiert Befragungen und initiiert Fachkonferenzen, zum Beispiel den künftig jährlich stattfinden Einsamkeitsgipfel.
Beijing: Das klingt wirklich spannend. Etwas Ähnliches haben Großbritannien und Japan ja mit ihren Einsamkeitsministerien ins Leben gerufen. Allerdings habe ich dort auch schon kritische Stimmen vernommen. Sie bezweifeln beispielsweise, dass solche Institutionen etwas nachhaltig bewegen können. Die Frage ist doch, über welche Kompetenzen sie verfügen, um wirklich etwas verändern zu können? Die Grundsätze unserer individualisierten Gesellschaft bleiben ja offenbar bestehen. Soziale Bindungen spielen so gut wie keine Rolle. Du hast es selbst grad beschrieben.
Berlin: Da gebe ich Dir recht. Ich bin wie gesagt eine hyperindividualisierte Stadt. Bitte lach nicht, aber für deutsche Verhältnisse bin ich riesig, meine Bewohner sind ständig Stimulationen ausgesetzt und umgeben von Menschen. Und trotzdem führen die meisten dieses abgekapselte Leben in ihrer Blase. Deshalb freue ich mich über jede Initiative für mehr Gemeinschaft und Zusammensein. Beijing: Was passiert denn bei Euch so?
Berlin: In vielen Berliner Kiezen gibt esNachbarschaftsinitiativen, die ältere oder einsame Menschen unterstützen, zum Beispiel durch gemeinsame Aktivitäten oder Besuchsdienste. Ich habe die Berliner Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe, kurz KISS. Sie vermittelt Kontakte zu Selbsthilfegruppen, die sich auch mit Einsamkeit auseinandersetzen. Sehr beliebt ist auch der Besuchsdienst derBerliner Stadtmission. Hier besuchen ehrenamtliche Mitarbeiter regelmäßig ältere oder alleinstehende Menschen, um Kontakt und Austausch zu ermöglichen. An verschiedenen Standorten in der Stadt bietet die Seniorenvertretung Berlin Begegnungsangebote für ältere Menschen an, um Isolation vorzubeugen. UnsereTelefonseelsorgeermöglicht vertrauliche Gespräche für Menschen. Das ist übrigens ein bundesweites Hilfsangebot.
Diese Beispiele zeigen, dass es bei mir bereits ein breites Spektrum an Unterstützungsprogrammen für Menschen gibt, die von Einsamkeit betroffen sind. Allerdings könnten wir diese Angebote noch weiter ausbauen und bekannter machen.
Beijing: Das sind ja alles eher Angebote für ältere Menschen. Habt Ihr auch etwas für die junge Generation?
Berlin: Na klar. Die Stadtteilmütter zum Beispiel. Das sind Frauen aus der Nachbarschaft in verschiedenen Berliner Bezirken. Sie bieten Einzelbetreuung und Gruppenangebote für junge Erwachsene, die sich einsam fühlen. In den Offenen Jugendtreffsin Jugendzentren können jüngere Menschen Kontakte knüpfen, gemeinsame Freizeitaktivitäten unternehmen und Beratung in Anspruch nehmen. Das Buddy-Programmder Berliner Aids-Hilfe vermittelt ehrenamtliche Paten, die regelmäßigen Kontakt und gemeinsame Aktivitäten mit jungen, einsamen Menschen anbieten. Auf derBerliner Jugendfarmkönnen Jugendliche an vielfältigen Projekten und Workshops teilnehmen und neue Kontakte knüpfen.
Beijing: Sehr beeindruckend Berlin. Sehr beeindruckend. Um der zunehmenden Einsamkeit und Isolation zu begegnen, setze auch ich auf einen Mix aus unterschiedlichen Ansätzen. Deine Nachbarschaftsinitiative heißt bei mir zum Beispiel NeighborlyAssistance Program(邻里互助项目). Es richtet sich an ältere Menschen, die allein leben, und bringt sie mit jüngeren Freiwilligen in Kontakt. Diese Freiwilligen, meist Studierende oder junge Berufstätige, besuchen die älteren Menschen regelmäßig, helfen ihnen bei alltäglichen Aufgaben und bieten ihnen Gesellschaft. Das Projekt hat das Ziel, generationenübergreifende Beziehungen zu fördern und älteren Menschen in ihrem Zuhause Unterstützung zu bieten.
Für ältere Menschen habe ich außerdem so genannte Elderly Service Centers(老年服务中心) eingerichtet. Diese ebenfalls staatlich geförderten Gemeinschaftszentren helfen, ältere Menschen besser in die Gesellschaft zu integrieren und ihre Isolation zu verringern. Sie bieten soziale Aktivitäten, Gesundheitskurse und gemeinschaftliche Mahlzeiten an. Die älteren Menschen können an Aktivitäten wie Tanzen, Kalligrafie und Schachspielen teilnehmen, um soziale Kontakte zu pflegen und Vereinsamung zu verhindern.
Auch für ältere, allein lebende Beijinger sind unsereSenior Companionsgedacht. Diese staatlich unterstützte Initiative stellt Companions, die die Senioren regelmäßig besuchen, ihnen Gesellschaft leisten, sie zu Arztterminen oder bei Spaziergängen begleiten.
Berlin: Und wie hilfst Du Deinen jungen Bewohnern?
Beijing: Beispielsweise mit unseren Friend-Making-Plattformen. In digitalen Netzwerken wie SoulundNice to Meet You(NIMU) haben junge Menschen in Beijing die Möglichkeit, sich in einem sicheren und anonymen Umfeld über Einsamkeit auszutauschen und neue Freunde zu finden. Diese Plattformen nutzen Algorithmen, um Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenzubringen und fördern den Aufbau echter Freundschaften. Solche Plattformen sind besonders in der jüngeren Generation sehr beliebt. Die fühlt sich ja durch die Schnelllebigkeit der Großstadt oft isoliert.
Berlin: Im durchdigitalisierten China habt Ihr doch sicher noch weitere technologische Angebote?
Beijing: Aber selbstverständlich, Berlin. Für unsere digital-affine jüngere Generation gibt esVirtual Community Companions(虚拟社区伙伴), die durch WeChat- und Douyin-Gruppen Kontakte zwischen Gleichgesinnten fördern. Solche virtuellen Communities umfassen alles, von Buchclubs und Filmforen bis hin zu Sportgruppen. Menschen mit denselben Interessen können so in Kontakt treten und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln.
Berlin: Das hört sich spannend an.
Beijing: Meine zwei Favoriten sind aber unsere Community Dining Services(社区餐饮服务) und die Shared Living Spaces(合租空间).
Berlin: Erzähl!
Beijing: Einige meiner Stadtteile haben Community Dining Services eingeführt. Dabei können Menschen jeden Alters gemeinsam Mahlzeiten zu einem erschwinglichen Preis genießen. Die Idee ist, eine einladende Atmosphäre zu schaffen, in der Menschen Kontakte knüpfen. Die Menüs werden oft auf die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung abgestimmt, und Freiwillige helfen dabei, das Essen zu servieren und Gespräche zu fördern.
Die Co-Living-Projekte sind eine relativ neue Entwicklung. Sie bieten eine Alternative zum Alleinwohnen. Junge Berufstätige oder Studenten können sich eine Wohnung oder ein Haus teilen, was nicht nur finanziell entlastend ist, sondern auch sozialen Kontakt ermöglicht. Die meisten Co-Living-Anlagen haben Gemeinschaftsräume, in denen die Bewohner Zeit zusammen verbringen können, um so Isolation zu vermeiden.
Berlin: Ich bin beeindruckt. Jetzt haben wir uns aber tüchtig verquasselt, Beijing.
Beijing: Wir müssen einfach öfter reden.
Berlin: Das machen wir. Auf ganz bald!
Beijing: Bis bald, Berlin! Ich freu mich, wieder von Dir zu hören.
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Einsam, zweisam, gemeinsam – Eine Chronik der Hoffnung
Einsamkeit ist eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Weltweit beschäftigen sich Experten und Regierungen mit den Auswirkungen von Einsamkeit und Isolation auf Gesundheit, Wohlbefinden und sozialen Zusammenhalt. Und sie reagieren. Mit Analysen, mit Strategiepapieren, ja sogar mit eigenen Einsamkeitsministern und -beauftragten. Auch die Bandbreite an staatlichen wie privaten Initiativen und Programmen, an technologischen Innovationen und gemeinschaftsorientierten Projekten ist groß. Sie alle eint ein Ziel: soziale Kontakte zu fördern und Einsamkeit zu bekämpfen. Das Goethe-Institut China bringt an dieser Stelle Menschen aus China und Deutschland zum Thema Einsamkeit ins Gespräch, beleuchtet unterschiedliche Perspektiven, stellt Ideen und Visionen vor und wagt auch den Blick über die Ländergrenzen hinaus. In den kommenden zwei Jahren präsentieren wir in loser Folge Beiträge aus der Chronik der Hoffnung.
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Text: Erdmuthe Hacken
November 2024