Einsam, zweisam, gemeinsam  Einsamkeit zwischen Kulturen: Dr. Liu über soziale Isolation

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Soziale Isolation ist ein globales Phänomen. Welche Ursachen Einsamkeit in China und Deutschland hat, wie sich kulturelle Unterschiede auf Bewältigungsstrategien auswirken und warum das echte Gespräch so wichtig ist – darüber haben wir mit der Psychologin Dr. Liu Qiao* gesprochen.

Dr. Liu Qiao, wann waren Sie das letzte Mal einsam?

Mich beschleicht dieses Gefühl oft nach größeren Events, etwa Kongressen. Wenn ich nach solch intensiven Tagen mit vielen Menschen, Begegnungen und Gesprächen plötzlich wieder allein in meiner Wohnung bin, fühlte ich mich manchmal verlassen. Aber das sind nur kurze Momente und sie sind auch nicht von Dauer.

Lassen Sie uns tiefer in das Thema Einsamkeit eintauchen, insbesondere in Bezug auf China und Deutschland. Wie nehmen beide Länder soziale Isolation wahr?

In beiden Ländern wird Einsamkeit zunehmend als ernsthaftes Problem erkannt. In beiden Kulturen gibt es das Bedürfnis nach sozialen Verbindungen und Gemeinschaft. Das zeigt, dass menschliche Beziehungen universell wichtig sind. Menschen in beiden Ländern sehnen sich nach Nähe und Unterstützung.

Wo sehen Sie Unterschiede?

In China ist Einsamkeit oft mit einem Stigma behaftet. Sie kann als Zeichen von Schwäche oder persönlichem Versagen interpretiert werden, was Betroffene daran hindert, offen über ihre Gefühle zu sprechen und Hilfe zu suchen. Die Betonung auf kollektivistischen Werten und starken Familienbindungen verstärkt dieses Phänomen. Über Einsamkeit zu sprechen, kann als beschämend empfunden werden.

In Deutschland dagegen, obwohl auch hier noch immer ein gewisses Stigma existiert, ist das öffentliche Gespräch über psychische Gesundheit und Wohlbefinden offener. Die individuelle Autonomie und Selbstverwirklichung stehen im Vordergrund. Das kann dazu führen, dass Einsamkeit eher als individuelles Problem anerkannt und adressiert wird, auch wenn die Suche nach Hilfe immer noch eine Hürde darstellen kann. Die gesellschaftliche Akzeptanz für psychologische Unterstützung ist in Deutschland im Vergleich zu China höher.

Das heißt, der kulturelle Kontext macht viel aus?

Genau. Die kollektivistische Kultur Chinas betont die Bedeutung von Familie und Gemeinschaft. Während dies in vielen Fällen Schutz vor Einsamkeit bietet, kann es auch den Druck verstärken, sich den Erwartungen der Gruppe anzupassen. Wird man diesen Erwartungen nicht gerecht, kann dies zu einem Gefühl der Isolation führen. In Deutschland, mit seiner individualistischen Kultur, liegt der Fokus stärker auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Obwohl dies positive Aspekte hat, kann es auch dazu führen, dass Menschen sich allein gelassen fühlen und Schwierigkeiten haben, soziale Unterstützung zu finden.

Warum nimmt die Einsamkeit in beiden Ländern zu?

Die zunehmende Urbanisierung und der damit verbundene Verlust von Gemeinschaftsstrukturen sind in beiden Ländern ein wichtiger Faktor.

In China führt die Migration in die Großstädte oft zur Trennung von Familie und Freunden, was in Isolation münden kann. Traditionell war die Familie das zentrale soziale Netzwerk, aber die moderne Lebensweise hat dazu geführt, dass viele Menschen in städtischen Umgebungen allein leben. In Deutschland hat die zunehmende Mobilität ähnliche Herausforderungen zur Folge.

Ein weiterer Faktor ist der technologische Wandel. Soziale Medien können zwar den Kontakt zu anderen erleichtern, aber sie können auch zu oberflächlichen Beziehungen und einem Gefühl der Isolation führen. Nämlich dann, wenn sie den persönlichen Kontakt und echte zwischenmenschliche Beziehungen ersetzen. In beiden Ländern beobachten wir ein Phänomen der "digitalen Einsamkeit".

Die gesellschaftlichen Erwartungen spielen ebenfalls eine Rolle. Der Leistungsdruck in beiden Ländern kann zu sozialem Rückzug führen, wenn Menschen das Gefühl haben, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. In China kann der Druck, eine erfolgreiche Karriere zu haben und eine Familie zu gründen, zu erheblichem Stress und Isolation führen.

In Deutschland kann der Druck, unabhängig und selbstständig zu sein, ebenfalls zu Einsamkeit beitragen. Der demografische Wandel verstärkt Einsamkeit noch einmal. Die Gesellschaft altert, viele ältere Menschen leben allein. Dies ist in Städten zu sehen, aber auch in ländlichen Gebieten, weil dort die Jugend wegzieht.

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Wie wirkt sich Einsamkeit auf die Gesundheit in beiden Ländern aus?

Die Auswirkungen von Einsamkeit sind in beiden Ländern weitreichend und betreffen sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit. Psychisch kann Einsamkeit zu Depressionen, Angststörungen, zum Verlust des Selbstwertgefühls und zu sozialer Phobie führen. Physisch kann sie das Immunsystem schwächen und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle und andere Krankheiten erhöhen. Langanhaltende Einsamkeit ist mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate verbunden.

Unterscheiden sich die Gefahren, die mit Einsamkeit verbunden sind?

Die Gefahren sind in beiden Ländern ähnlich, aber die Art und Weise, wie sie sich manifestieren, kann unterschiedlich sein. In China kann das Stigma um psychische Erkrankungen dazu führen, dass Menschen ihre Einsamkeit verbergen und keine Hilfe suchen, was zu einem chronischen Zustand und schwerwiegenderen Folgen führen kann. In Deutschland kann der Fokus auf Individualität dazu führen, dass Menschen sich selbst überlassen fühlen und keine Unterstützung suchen, obwohl sie verfügbar wäre.

Welche Lösungsansätze sehen Sie?

In Deutschland gibt es bereits Initiativen, um Einsamkeit zu bekämpfen, wie Nachbarschaftshilfen und Selbsthilfegruppen. Psychologen unterstützen Betroffene dabei, soziale Kontakte wiederherzustellen und Netzwerke aufzubauen. Der Fokus liegt darauf, Gemeinschaft zu stärken und den Austausch zwischen den Generationen zu fördern.

Gibt es Unterschiede in der Herangehensweise zwischen beiden Ländern?

In China entwickeln sich ähnliche Ansätze, jedoch sind sie oft noch in den Anfängen. Es gibt Programme, die darauf abzielen, Gemeinschaften zu stärken. Aber die gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema Einsamkeit muss noch wachsen. Hier sind psychologische Aufklärung und Sensibilisierung entscheidend.

Welche psychologischen Herausforderungen stellen sich bei der Behandlung?

Es ist wichtig, das Stigma, das mit Einsamkeit und psychischen Erkrankungen verbunden ist, abzubauen. Wir müssen Menschen ermutigen, offen über ihre Gefühle zu sprechen und Hilfe zu suchen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, passende Behandlungsmethoden in Hinblick auf die kulturellen Unterschiede zu finden. In China kann ein Ansatz sein, die Familie in die Therapie einzubeziehen. In Deutschland kann der Fokus stärker auf der individuellen Selbstreflexion liegen.

Zum Abschluss, was raten Sie Menschen, die unter Einsamkeit leiden?

Die eigenen Gefühle anzuerkennen und zu akzeptieren. Dann kann man nach Möglichkeiten suchen, soziale Kontakte zu knüpfen. Man kann an Gruppenaktivitäten teilnehmen, Kurse besuchen, ehrenamtlich arbeiten oder neue Freundschaften aufbauen. Psychologische Unterstützung kann ebenfalls sehr hilfreich sein, um Bewältigungsstrategien zu entwickeln und die Ursachen der Einsamkeit zu bearbeiten. In beiden Ländern gibt es Selbsthilfegruppen und Unterstützungsprogramme, die Betroffenen helfen können. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass man mit seiner Einsamkeit nicht allein ist und dass es Hilfe gibt.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Einsam, zweisam, gemeinsam – Eine Chronik der Hoffnung

Einsamkeit ist eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Weltweit beschäftigen sich Experten und Regierungen mit den Auswirkungen von Einsamkeit und Isolation auf Gesundheit, Wohlbefinden und sozialen Zusammenhalt. Und sie reagieren. Mit Analysen, mit Strategiepapieren, ja sogar mit eigenen Einsamkeitsministern und -beauftragten. Auch die Bandbreite an staatlichen wie privaten Initiativen und Programmen, an technologischen Innovationen und gemeinschaftsorientierten Projekten ist groß. Sie alle eint ein Ziel: soziale Kontakte zu fördern und Einsamkeit zu bekämpfen. Das Goethe-Institut China bringt an dieser Stelle Menschen aus China und Deutschland zum Thema Einsamkeit ins Gespräch, beleuchtet unterschiedliche Perspektiven, stellt Ideen und Visionen vor und wagt auch den Blick über die Ländergrenzen hinaus. In den kommenden zwei Jahren präsentieren wir in loser Folge Beiträge aus der Chronik der Hoffnung.

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*Dr. Liu Qiao, hat sich auf Themen wie Psychologie, Einsamkeit und soziale Isolation spezialisiert. Ihre Arbeiten befassen sich mit den psychologischen Auswirkungen von Einsamkeit und den sozialen Dynamiken in urbanen Kontexten.

Text: Erdmuthe Hacken

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