Everything, everyone begins with home.
—Tián Xiǎofēi 田晓菲
Die Takustraße verdankt ihren Namen einer veralteten Transskription von 大沽, einem kleinen Vorort der Hafenstadt Tiānjīn, der im heute üblichen Umschriftsystem Dàgū heißt. Dàgū liegt an der Mündung des Flusses Hǎihé ins Gelbe Meer, und hinter Dàgū liegt, 160 Kilometer stromaufwärts, Běijīng. In Dàgū befindet sich der einzige Zugang der Hauptstadt zum Meer. In Dàgū befanden sich auch, bis vor gut hundert Jahren, die Dàgū-Forts: Fünfundzwanzig große und kleinere Wehranlagen, die den Fluss auf beiden Seiten bewachten. Unter den europäischen Kanonenbooten, die die vierhundert Jahre alten Befestigungen am 17. Juni 1900 zerschossen, tat sich besonders die deutsche S.M.S. Iltis hervor. Und so heißt auch die Iltisstraße in Köln-Ehrenfeld nicht nach einem Tier, sondern nach einem Zerstörer.
Die S.M.S. Iltis lag 1900 im Hǎihé, weil das deutsche Kaiserreich auch einen Platz an der Sonne wollte. Seit das britische Imperium 1842 die ersten „Konzessionen“ (mit anderen Worten: Miniaturkolonien) in chinesischen Küstenstädten „erworben“ hatte, rief die deutsche Elite geschlossen nach ihrem Stück vom Kuchen – unter anderem in Gestalt von Max Weber, dem Begründer der modernen Soziologie, der als Vorsitzender der mächtigen All-Deutschen Gesellschaft den Zugang zum chinesischen Markt als Überlebensfrage dramatisierte.
Kampf zwischen alliierten und chinesischen Truppen | gemeinfrei via Wikimedia Commons Unter einem Vorwand hatte das deutsche Kaiserreich bereits 1897 die Bucht von Qīngdǎo besetzt, drumherum ein paar Quadratkilometer Land mitsamt seiner 83.000 Bewohner*innen gepachtet und das ganze zur Musterkolonie Kiautschou erklärt. „Musterkolonie“, weil man zeigen wollte, dass man auch den Kolonialismus mit deutscher Gründlichkeit besser könne als alle anderen.
Als sich gegen ihren Imperialismus eine breite antikoloniale Bewegung formierte, schickten die europäischen Kolonialmächte eine „Strafexpedition“ nach China. In diesen Invasionskrieg verabschiedete der deutsche Kaiser Wilhelm II. das Ostasiatische Expeditionskorps mit seiner berüchtigten „Hunnenrede“: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! [...] [M]öge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“
Von all dem ahnte ich auf meinem Schulweg nichts, und auch im Geschichtsunterricht erfuhr ich so gut wie nichts von der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Gewaltexzessen. Erst viele Jahre später, als ich für mein Buch made in china die Geschichte des deutsch-chinesischen Kulturaustausches recherchierte – die übrigens, entgegen der verbreiteten Vorstellung von China als dem „Großen Anderen“, viele Jahrhunderte zurückreicht – suchte ich mir diese Informationen mühsam zusammen. Seit Beginn der Coronakrise wundern sich viele Kommentator*innen über den scheinbar plötzlich aufkommenden anti-asiatischen Rassismus in Deutschland. Tatsächlich ist die Sinophobie aber schon so lange ein so selbstverständlicher Teil unseres Denkens, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Sie steckt in unseren Straßennamen ebenso wie in unseren Kinderliedern, in Traditionen wie dem klischierten Yellowfacing zu Karneval ebenso wie in der China-Berichterstattung zahlreicher Medien, von der Bild-Zeitung bis zu den Tagesthemen.
Tatsächlich ist die Sinophobie aber schon so lange ein so selbstverständlicher Teil unseres Denkens, dass wir sie kaum noch wahrnehmen.
Zu diesem Erbe gehört auch, dass die deutsche Sinologie sich ursprünglich als eine koloniale Disziplin gründete, die China vor allem erforschte, um es beherrschen zu können – etwa am Hamburgischen Kolonialinstitut, dem Vorläufer der heutigen Universität Hamburg. In sinophoben Ausfällen zeigt sich daher auch immer wieder, wie weit wir von einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte entfernt sind. Selbst für vermeintlich seriöse Medien wie den Spiegel ist es nach wie vor völlig normal, Schlagworte wie das von der „Gelben Gefahr“ zu verwenden – ein Begriff, den u.a. der Schriftsteller Stefan von Kotze, ein persönlicher Schützling Otto von Bismarcks, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Diskurs einbrachte, um Ressentiments gegen China zu schüren und die kolonialen Aggressionen europäischer Mächte zu legitimieren.
Dies alles sind Geschichten der Gewalt. Es gibt auch andere Geschichten: Von Freundschaften, vom Übersetzen, vom Gespräch zwischen den Sprachen und Kulturen, das es seit vielen hundert Jahren gibt. Sie sind von ersteren weder unabhängig noch unschuldig. Aber wir können uns entscheiden, auch sie zu erzählen, um die sinophobe Konstruktion von China als dem „Großen Anderen“ Europas als genau das zu entlarven, was sie ist: Eine Lüge.
Juli 2020