Briefe zwischen Wien und Berlin  In Erinnerung an Li Yangjie

In Erinnerung an Li Yangjie
In Erinnerung an Li Yangjie © yì magazìn

Victoria Kure-Wu und Weina Zhao tauschen sich anlässlich des fünften Todestags von Li Yangjie in Form eines Briefwechsels über Rassismus in Deutschland aus. Weina Zhao arbeitet als Filmemacherin und Autorin in Wien. Victoria Kure-Wu konzipiert Websites in Berlin. Beide sind auf Chinesisch großgeworden und tauschen ihre Gedanken darüber aus, wie sie sich als asiatisch gelesene Frauen in Österreich und Deutschland aktuell fühlen.

Li Yangjie wurde am 11. Mai 2016 tot in Dessau aufgefunden. Die 25-jährige Chinesin studierte im fünften Semester Architektur an der Hochschule Anhalt in Dessau.

Trigger-Warnung: Der nachfolgende Briefwechsel kann dich an bereits erlebte, verletzende und belastende Situationen erinnern.
Berlin, 1. April 2021

Hey du, ich hoffe, es geht dir ok! Ich werde gerade einen Gedanken nicht los und ich wollt ihn kurz mit dir teilen. Im kommenden Mai jährt sich der Todestag von Lǐ Yángjié zum fünften Mal. Ich habe Sorge, dass niemand darüber in Deutschland schreiben wird und sie in Vergessenheit gerät.

Ich war damals schon enttäuscht, dass die Berichterstattung wenig stattfand und in einigen Teilen auch verharmlosend war. Ich konnte deswegen sogar schon nicht schlafen. Wie geht's dir grad? Wie geht's dir eigentlich mit Atlanta? Wie geht's dir mit all dem anderen anti-asiatischen Rassismus seit der Pandemie? Wollen wir telefonieren?

Wien, 2. April 2021

hallo liebe vicky, ich fand unseren austausch gestern echt schön, es hat aber auch anscheinend einiges in mir gelöst, das ich in den letzten tagen (oder wahrscheinlich jahren) zusammenzuhalten versucht habe.

wir hatten letzten samstag eine online-gedenkveranstaltung für die opfer von atlanta, es sollte ein raum sein, wo wir unsere trauer im geschützten rahmen teilen konnten. schlussendlich haben wir uns viel ausgetauscht, gemeinsamkeiten gefunden, uns gehört, gesehen und verstanden gefühlt. es war positiv, optimistisch, solidarisch – was toll war.

aber eigentlich hätte ich auch gerne meinen schmerz über die jüngsten ereignisse geteilt. doch jedes mal, wenn ich versuche darüber zu reden, bildet sich ein knoten in meinem hals. oder es kommen mir die tränen und meine kraft reicht nur, die tränen zu unterdrücken, anstatt wörter zu bilden. ich unterdrücke meine tränen, weil sie in meinem alltag keinen platz zu haben scheinen; sie sind mir vor meinen weißen freund*innen peinlich (lin hierse hat eine gute erklärung dafür: "Du relativierst deine Betroffenheit, du hast nicht genug mit den Frauen gemeinsam, um auseinanderfallen zu dürfen.") und vor meinen BIPOC freund*innen erscheinen sie mir nutzlos, weil wir eh alle wissen, worum es geht, und ich nicht anders kann, als stark zu sein und weiterzumachen.


aber dabei will ich seit wochen mit jemandem darüber reden:

am morgen nach den morden in atlanta hatte ich in meinem facebook feed einen link (ich glaube korientation hat ihn gepostet), wo eine chinesische granny in new york ihren angreifer so heftig zurückgeschlagen hat, dass der mann auf einer krankenbahre abtransportiert werden musste. ein video zeigt sie mit einer verletzung im gesicht, auf kantonesisch schimpfend, schreiend, weinend. sie greift nach einem holzpflock und will den mann, der bereits auf der bahre liegt und von polizisten umzingelt ist, weiterhin schlagen. die menschen um sie herum halten sie auf, sie weint und schreit unerbittlich. ich kann nicht anders, als mit ihr zu weinen und zu schreien. in dem moment fühle ich mich wie in ihrem körper. ich verstehe nicht, warum mich der mann geschlagen hat, ich habe mich zwar zur wehr gesetzt, aber ich weiß, dass das nichts ändert. ein paar schläge mehr ändern nichts an meinem schmerz oder an den tausenden anderen attacken. ich weiß nicht, ob ich weiterkämpfen oder zerbrechen soll.

als ich gestern den diaspor.asia podcast über die ermordung li yangjies gehört habe und xinan darin erzählt, dass ihre oma nach dem mord zu ihr gesagt hat: „in deutschland glauben die männer, sie können mit uns machen, was sie wollen" – da musste ich an die new yorker oma denken.

ich unterdrücke meine tränen, weil sie in meinem alltag keinen platz zu haben scheinen

an dieser stelle stocke ich. sie würde sich eigentlich anbieten zu erklären, was die beiden vorfälle miteinander zu tun haben, globaler struktureller rassismus/sexismus/objektifizierung etc, aber ich bin müde davon, zusammenhänge beweisen zu müssen. und dir muss ich das ja auch nicht erklären. also ende ich mal hiermit.

Berlin, 6. April 2021

Hey Weina, wie schön, dass ihr einen Ort zum Trauern geschaffen habt. Obwohl aufgrund der Pandemie keine physischen Zusammenkünfte möglich sind, helfen digitale Veranstaltungen zu heilen. Immer wenn mir die Videos mit einer Gewaltdarstellung vorgeschlagen werden, ahne ich schon, was darin zu sehen ist. Ich schaue mir die Videos schon garnicht mehr an. Vielleicht weil ich an meine eigenen Familienmitglieder denken muss. Sie haben eine ähnliche Größe, sprechen womöglich die gleiche Sprache und sind genauso verletzlich.

Wir haben letzten Sonntag, am 28.3.2021 eine Demonstration in Solidarität mit den Opfern und Angehörigen des rassistischen Anschlags in Atlanta organisiert. Ich frage mich bis heute, warum kein Presseteam aus Deutschland gekommen ist. Weil Atlanta nicht in Deutschland liegt?

Dessau liegt allerdings in Deutschland und trotzdem scheint niemand über den tödlichen Rassismus vor unserer Haustür berichten zu wollen.

Die Narrative über uns, wir seien dreckig, fleißig oder maschinenhaft, existieren hier auch – und das nicht erst seit gestern. Es gibt unendlich viele Männer, die von ost-/südostasiatischen Frauen erwarten, devot und fügig zu sein. Das ist einer der Gründe, warum ich nie lange auf Online-Dating-Plattformen war.

Wenn ich an Lǐ Yángjié denke, denke ich daran, wie verdächtig langsam die Arbeit der Polizei vorangeschritten ist. Ich meine auch, dass der Fall Oury Jalloh bis heute nicht vollständig aufgeklärt wurde. Auch die Überlebenden und Angehörigen des Anschlags in Hanau fordern bis heute eine lückenlose Aufklärung ein. Natürlich sind die Fälle nicht vergleichbar – aber es bereitet mir ein mulmiges Gefühl, wenn die Polizei in Bezug auf gewaltsame Tode von nicht-weißen Personen sehr langsam oder leise agiert, oder sogar über Jahre schweigt.

Es gibt unendlich viele Männer, die von ost-/südostasiatischen Frauen erwarten, devot und fügig zu sein.

Wenn asiatisch-deutsche Personen nicht einmal im nationalen Aktionsplan gegen Rassismus als vulnerable Gruppe genannt werden – was sind nächste Schritte, um unsere Situation zu verbessern, wenn wir nicht einmal als schutzwürdige Gruppe benannt werden? Würde ich die Polizei überhaupt anrufen?

Wien, 8. April 2021

hi vicky, ich verstehe das gut, dass du videos mit gewalt gegen asiatisch gelesene menschen gar nicht mehr anschaust, weil sie dich an die verletzlichkeit deiner eigenen familienmitglieder erinnert. 

bei mir ist es immer so ein schmaler grat zwischen hinschauen und wegschauen: hinschauen, um nicht die augen vor dem immer weiter wütenden rassismus zu verschließen. und wegschauen, um mich emotional davor zu schützen.

ich wäre gern bei eurer demo dabei gewesen, hier in österreich ist das bewusstsein für anti-asiatischen rassismus noch weniger vorhanden als in deutschland. immer wieder werde ich gefragt, gibt es das hier überhaupt? und wenn ich dann von den beschimpfungen, "hänseleien" und stereotypisierungen erzähle, die uns unser ganzes leben lang als anders markiert haben, heißt es meistens nur, "ach deppen gibt's überall" oder "ja, kinder sind grausam". aber dass genau diese verharmlosungen dazu geführt haben, dass asiatisch gelesene menschen so schnell mit einem virus gleichgesetzt wurden oder frauen* wie wir objektifiziert, sexualisiert und fetischisiert werden, diese zusammenhänge will niemand sehen.

gewaltverbrechen an migrantischen menschen (und rechtsextreme exekutivbeamt*innen) werden als "einzelfälle" betrachtet, rassismus als beweggrund schnell mal unter den tisch gekehrt oder nicht einmal in betracht gezogen – auch wenn die täter noch so offenkundig asiatische frauen mit sex gleichgesetzt haben.

wie ich mir gestern die zdf doku über den mord an li yangjie angeschaut habe, fand ich die ähnlichkeiten des täterpaares zum atlanta mörder frappierend. in beiden fällen wurden gezielt asiatische frauen als opfer ausgesucht, und später versucht mit befindlichkeiten der täter*innen zu verharmlosen. der atlanta mörder habe "einen schlechten tag" gehabt und die mittäterin in dessau habe sich vor gericht unter tränen darüber beklagt, wie miserabel ihr leben gewesen sei. ich frage mich, wie die rhetorik wäre, wenn li yangjie weiß gewesen wäre ...

ich habe es so satt, immer noch auf eierschalen herumtanzen zu müssen, wenn wir versuchen auf die auswirkungen des strukturellen rassismus aufmerksam zu machen, weil immer noch leute, die selber nie von rassismus betroffen waren, darüber bestimmen, was rassismus ist. wie viele weitere morde müssen geschehen, damit auch diejenigen es verstehen, die den luxus haben, wegsehen zu können?


Berlin, 10. April 2021

Hey Weina, genauso ist es mit den Videos. Dass du das in Worte gefasst hast, hilft mir bei der Einordnung von dem, was in mir passiert.

Du hast total recht, da gibt es Parallelen, die mich gruseln. Auch wenn wir beide es möglicherweise nicht mehr erleben werden, glaube ich ganz fest daran, dass Kolonialismus und Rassismus irgendwann einen
Einzug in unser Bildungssystem und unser Denken haben werden. Und zwar nicht um weiterhin Personengruppen zu unterdrücken, sondern um ihn bewusst zu verlernen. Um es abzuschaffen. Es wäre zwar schön, es miterleben zu können – aber Rassismus wurde über Jahrzehnte konzipiert und gesellschaftlich verfestigt.

Es wäre fast schon anmaßend zu erwarten, dass die Auswirkungen unserer Arbeit bitte noch morgen strukturell sichtbar werden. Auch in Anbetracht aller Kämpfe, die sowohl außerhalb von Deutschland als auch in vorangegangenen Jahrzehnten von verschiedensten Communitys geführt wurden. Vielleicht müssen nicht wir, aber nachkommende Generationen sich dann auf der Arbeit, im Alltag oder beim Kennenlernen neuer Menschen nicht mehr erklären.

Vielleicht können asiatische Menschen dann Dating-Plattformen nutzen ohne fetischisiert zu werden. Und vielleicht können wir uns dann irgendwann über banalere Dinge unterhalten, zum Beispiel über meine neue Heißluftfritteuse. Bis es soweit ist, können wir nur versuchen an Menschen wie Li Yangjie zu erinnern. Mit oder ohne die Unterstützung der Dominanzgesellschaft.

___
Links zum Thema

Wikipedia | Amoklauf in Atlanta
Wikipedia | Fall Oury Jalloh
Wikipedia | Anschlag in Hanau
ZDF-Doku | Tatort Dessau
Wikipedia | Mordfall Li Yangjie
Süddeutsche Zeitung | Die Fragen der Familie Li
Sixthtone | Telling the Story of a Chinese Student's Tragic Murder
Bundeszentrale für politische Bildung | Antiasiatischer Rassismus in Deutschland
ichbinkeinvirus | Netzwerk gegen Rassismus
 

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