Am 31. Januar um 6:40 Uhr verlor Wang Changhua seine Mutter. Nun steht auch seine Firma kurz vor dem Zusammenbruch.
„Mein erstes Kapital habe ich mir durch meine eigene harte Arbeit verdient, dabei hat mir niemand geholfen. In der Transportbranche verdienst du im ersten Jahr keinen Cent, denn in den ersten sechs Monaten musst du reinbuttern und im zweiten Halbjahr verdienst du grad so viel, dass du die Löcher vom ersten Halbjahr wieder stopfen kannst. Im zweiten Jahr hast du ein bisschen Überschuss, und erst im ersten dritten Jahr kannst du wirklich von Gewinn sprechen.“ Letztes Jahr im September habe ich Wang Changhua in einem Wohnviertel im Bezirk Dongxihu getroffen. Er erzählte mir von seiner Firma, einerseits zurückhaltend, andererseits aber auch voller Stolz.Wang Changhua wurde in einem Vorort von Wuhan geboren, in einem Dorf in der Nähe des Flughafens Tianhe. Für die Landwirtschaft hatten die Eltern kein Händchen, bekamen allerding sieben Kinder. Die Familie war so arm, dass oft nicht genug zu essen für alle da war. Dann mussten die Kinder ihren Stolz herunterschlucken, um sich fünf oder zehn Yuan Armenunterstützung auszahlen zu lassen. Nachdem er die untere Mittelschule beendet hatte, konnte es Wang Changhua, das sechste von sieben Kindern kaum erwarten zu arbeiten und Geld zu verdienen. Anfangs nahm er zusammen mit Verwandten einen Hochzinskredit auf und machte mit dem Geld in der Kleinstadt eine Papierfabrik auf. Dort färbte er weißes Papier in verschiedenen Farben ein, das er dann in der Hanzheng-Straße von Wuhan verkaufte. Nach der Liberalisierung der Privatwirtschaft in China war die Hanzheng-Straße in Wuhan der allererste Großhandelsmarkt für Kleinwaren. In seinen goldenen Zeiten in den 90er Jahren brachte er immer wieder Kleinunternehmer hervor, die Umsätze in Millionenhöhe machten. Hier träumten alle den Traum vom Reichwerden. Wang Changhua stand jeden Morgen um vier Uhr auf, arbeitete 16 Stunden und ging abends um zehn schlafen. Weil er so hart arbeitete, begann er schon als Jugendlicher Schnaps zu trinken.
Im ersten Jahr machte die Papierfabrik einen Gewinn von 4.000 Yuan, im zweiten Jahr waren es 8.000 Yuan, im dritten 12.000. Wang Changhua fand das zu wenig, also wechselte er 1992 die Branche und begann als Kraftfahrer zu arbeiten. Er hörte auf zu trinken und erstand für 38.000 Yuan ein Transportfahrzeug, mit dem er sowohl Fahrgäste als auch Waren und sogar Ziegel und Sand befördern konnte. Allerdings konnte er damals noch gar nicht fahren. Während er die Papierfabrik betrieb, war er geschäftlich viel unterwegs, konnte aber oft keinen Liegeplatz in den Übernachtbussen ergattern. Da gewöhnte er sich an, nah bei der Fahrerkabine zu sitzen und dem Fahrer beim Lenken zuzuschauen. Außerdem kaufte er sich im Xinhua-Buchladen an der Wusheng-Straße ein Handbuch zur Fahrausbildung und arbeitete es im Selbststudium durch. Nachdem er den Transporter gekauft hatte, suchte er sich einen gerade mal 14-jährigen Fahrer, der ihn drei Tage lang vom Beifahrersitz aus anleitete und ihm Tipps gab – am vierten Tag fuhr er selbst los und begann sein Transportgeschäft.
Wang Changhua war clever und fürchtete keine Strapazen, mit der Zeit wuchsen aber auch seine Ansprüche. Dies führte dazu, dass er sich nicht auf einen Geschäftszweig konzentrierte, sondern zwischen Taxifahrten und Lastentransporten hin und herwechselte. Nachdem er von seinen ersten Gewinnen auf dem Land zwei vierstöckige Häuser gebaut hatte, wollte er auch in die Landwirtschaft einsteigen, aber dieses Unterfangen ging schief und so verlor er beide Häuser wieder. In seinem Heimatort hatte Wang Changhua noch 2,7 Hektar Fischteiche, um die herum er Gebäude mit einer Fläche von mehreren tausend Quadratmetern errichtet hatte – weil die Baugenehmigungen fehlten, wurden sie abgerissen und er „verlor mehrere hunderttausend Yuan“, erzählt er. © Goethe-Institut China 2020 2003 kehrte Wang Changhua zurück in die Hanzheng-Straße und fing noch einmal bei Null an. Wieder betätigte er sich als Fahrer und transportierte Waren. Täglich fuhr er morgens um vier zum Bahnhof, um Waren abzuholen, selbst am Neujahrsfest nahm er nicht frei. Einmal schlief er drei Tage und Nächte überhaupt nicht, abends lud er Waren ab, tagsüber nahm er neue Lieferaufträge an und machte die Buchhaltung. Wenn er kurz davor war am Steuer einzuschlafen, dann nahm er einen Schlauch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht oder er schöpfte Wasser aus einem vereisten Teich und rieb sich damit das Gesicht ab.
Heute sind dies Erinnerungen, die man lachend am Kneipentisch erzählt. Wenn er heute nichts zu tun hat, entspannt Wang Changhua sich am liebsten beim Karaoke-Singen. Sein Lieblingslied sind „Tränen im Regen“, da kommen ihm beim Singen oft echte Tränen. Nach zehn Jahren hartem Arbeitseinsatz hat er durch das Logistik-Business endlich den sozialen Aufstieg geschafft. Heute besitzt er in Wuhan mehr als zehn Wohnungen: „Die hab ich mir alle selbst verdient“. Er selbst wohnt in einer zweistöckigen Villa, die 2008, als er sie gekauft hat, nur 390.000 Yuan gekostet hat. An der Nationalstraße 107, beim Jiabo-Platz, hat er eine 138 qm große Wohnung, der Schlüssel wurde erst im Mai 2019 übergeben und die Wohnung ist noch nicht eingerichtet. Sein Sohn wohnt in einer 150 qm großen Wohnung nicht unweit vom Stadtzentrum, in einem Compound mit eigener Garage. Außerdem erwartet Wang Changhua noch die Zuteilung von Immobilien mit einer Fläche von ca. 500 qm beim Flughafen, als Ausgleich für Wohnungen, die der Abrissbirne zum Opfer gefallen sind.
Jetzt allerdings, in Zeiten der Epidemie, ist alles unsicher.
Im Nachhinein macht sich Wang Changhua selbst verantwortlich für das, was seiner Mutter passiert ist. Da seine zweitälteste Schwester in Wuhan kein Bett im Krankenhaus bekam, wurde sie in die Stadt Xiaogan überwiesen, wo sie am 21. Januar zur Behandlung aufgenommen wurde; seine Mutter wurde nicht rechtzeitig in ein Krankenhaus überwiesen und musste daher nach der Sperrung der Stadt zuhause bleiben. Am 26. hatte sie bereits mehrere Tage unter hohem Fieber und Atembeschwerden gelitten. Wang Changhua ist mit einem leitenden Internisten befreundet, den er bitten wollte, seiner Mutter zu einem Platz im Krankenhaus zu verhelfen. Nachdem er über eine Stunde versucht hatte, den Freund zu erreichen, antwortete dieser, es sei nichts zu machen, mehrere hundert Menschen warteten auf die Aufnahme und es gäbe einfach keine freien Betten, man könne sich nur in die Schlange einreihen und warten. „Es gibt inzwischen mindestens 80.000 bis 100.000 Infizierte“, sagte der befreundete Stationsleiter.
Am 27. Januar nachmittags um sechs bekam Wang Changhuas Mutter endlich einen Platz im Krankenhaus, aber ihre Lunge arbeitete schon kaum noch. Der Arzt verkündete: „Keiner der Angehörigen darf sie besuchen, wir benachrichtigen Sie nach dem Ableben und der Einäscherung.“ Am 31. kam die Nachricht vom Krankenhaus: Sie hatte ihren letzten Atemzug getan. © Goethe-Institut China 2020 Wang Changhua verkraftet das nur schwer. Seine Mutter hat den Krieg gegen die Japaner miterlebt, ist auf der Flucht von Hubei nach Sichuan zur Waise geworden und hat später ihr ganzes Leben auf dem Land als Lehrerin gearbeitet. Wang Changhua beschreibt sie als verständige Person, die mit allen gut auskam. „Meine Mutter war eine großartige Frau, ich schäme mich und weiß nicht, wie ich mir selbst noch im Spiegel ins Gesicht sehen kann. Ich bin kein guter Sohn.“
Mitte Februar war die Stadt immer noch abgesperrt und Wang Changhua verbrachte zunehmend schlaflose Nächte. Da seine Firma vor allem Transportdienstleistungen in Hubei anbietet und viele Städte in der Provinz abgeriegelt sind, konnte er nach dem Frühlingsfest die Arbeit nicht wieder aufnehmen. Allein die Gehälter aller Mitarbeiter belaufen sich auf 400.000 Yuan pro Monat, die Jahresmiete für Lager und Büros auf 800.000 Yuan. Weil sie wenig feste Anlagewerte haben, die sie verpfänden können, bekommen kleine und mittlere Unternehmen nur schwer Kredite, und weil er aktuell keine Aufträge annehmen kann, hat er auch keine festen Einnahmen, die er als Absicherung vorweisen könnte.
In Wuhan gibt es hunderte solcher Transportfirmen. Die Logistikbranche rund um die Hanzheng-Straße hat eine lange Geschichte. Anfang der 1990er Jahre haben zahlreiche große und kleine Logistikfirmen die Geschäfte des alten Hankou-Piers übernommen und sich dem Straßen- und Schienenverkehr zugewandt. So haben sie dafür gesorgt, dass die Position Wuhans als Ursprungs- und Distributionsbasis des Warenhandels erhalten blieb. Diese Firmen waren Familienbetriebe: „Eine Standwaage, einen Zollstock, einen Tisch, ein Telefon, ein Büro, eine Gepäcktransportfirma“, mehr brauchte man nicht zur Geschäftsgründung. Ihre Kontaktstellen errichteten sie zumeist zwischen den Häusern, in langen Reihen provisorisch errichteter, farbiger Zelte, neben Ständen, die den Lastenträgern und Arbeitern zur Erholung gezinkte Spielkarten und manipulierte Mahjongsteine und Würfel verkauften. Die Lieferorte waren vielfältig: Jiayu, Chibi, Xinyang, Xiangyang, Puyuan, Xiliu, Langfang, Baigou, Yongqing.
Jetzt hofft Wang Changhua auf einen Aufschwung der Warengeschäfte nach der Aufhebung der Blockade. Dann könnten die Einnahmen eines Monats das Niveau von drei normalen Monaten erreichen. Aber er weiß nicht, ob seine Firma überhaupt bis zur Öffnung durchhalten wird. „Ich habe eigentlich nie das Gefühl, mich auf einem Erfolg ausruhen zu können, aber ich habe Durchhaltevermögen.“ Mit diesem Satz tröstet er sich.
Bilder von Yin Xiyuan (尹夕远).
März 2020