Als sie die Nachricht vom Tod Li Wenliangs bekam, saß die 31-jährige Shanghaierin Linzi gerade am Flughafen in Stockholm und wartete auf ihren Rückflug nach Berlin.
Heute weiß jeder, wer Li Wenliang ist: ein Augenarzt am Zentralkrankenhaus von Wuhan, der, nachdem er am 30. Dezember in einer WeChat-Gruppe Kollegen über das unbekannte Virus informiert hatte, von der Polizei „verwarnt“ wurde. Außer ihm wurden noch weitere sieben Personen „gerügt“, Li Wenliang war der erste, der von den Medien interviewt wurde. Das war am 27. Januar, am 5. Tag der Abriegelung Wuhans. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich drastisch und er war schon auf die Intensivstation verlegt worden.Das offizielle Dokument der Verwarnung mit Datumsstempel und Fingerabdrücken wurde später über das Internet verbreitet. „Die Sicherheitsbehörden erwarten, dass Sie aktiv kooperieren und der Ermahnung der Volkspolizei Folge leisten und Ihre illegalen Aktivitäten ab sofort einstellen. Werden Sie das tun?“ „Ja.“ „Wir möchten, dass Sie besonnen bleiben und gründlich in sich gehen, und wir warnen Sie ernsthaft: Wenn Sie weiter stur bleiben, nicht bereuen und Ihr Verhalten nicht ändern, und sich weiter illegal betätigen, dann werden juristische Sanktionen folgen. Haben Sie das verstanden?“ „Ja.“
Nach der Landung in Berlin gab es wieder eine neue Nachricht: An Li Wenliang wurden Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt. Aber nach einer Stunde war es dann doch sicher: Er war tot. Außer Empörung fühlte Linzi auch Angst. Es war der 7. Februar, bisher waren unter den am Virus Verstorbenen in China nur wenige jüngere Leute gewesen. Li Wenliang war erst 35 Jahre.
In New York, Paris und London gab es bereits Chinesen, die über Weibo ihre Pläne für Gedenkveranstaltungen verbreiteten. Linzi nahm sich vor, auch in Berlin eine zu organisieren, wo sie seit fünf Jahren lebt und zusammen mit ihrem Freund ein Designstudio betreibt. Die Epidemie hatte noch nicht auf Deutschland übergegriffen und es gab nur vereinzelt Fälle von fremdenfeindlichen Übergriffen auf Chinesen. Eine Freundin zum Beispiel, die in München lebt und arbeitet, lief abends mal ein paar Leuten über den Weg, die sie anstarrten und vor ihr demonstrativ auf den Boden spuckten. Die meisten Menschen aber verhielten sich wohlwollend. In Düsseldorf musste ein anderer Freund in Quarantäne und wurde jeden Tag vom Roten Kreuz mit Essen versorgt. Auf der Verpackung fand er immer einen Gruß der Mitarbeiter, eine gemalte Blume oder eine kleine Sonne, manchmal auch einen Satz in akkuraten chinesischen Zeichen: „Hoffentlich schmeckt es dir!“
Am 8. Februar um 13:44 wurde die Gedenkveranstaltung auf Weibo angekündigt. Noch ein weiteres chinesisches Paar wollte sich an der Organisation beteiligen. Das Event sollte am folgenden Tag ab 17:30 Uhr am Brandenburger Tor stattfinden. Die „Ja“ aus dem Dokument der Verwarnung wurden in „Nein“ geändert. Ein anderer Satz stammte aus einem Weibo-Post, den Li Wenliang geschrieben hatte: „Eine gesunde Gesellschaft sollte mehr als nur eine Stimme haben.”
Weil Wochenende war, machte Linzi sich Sorgen, ob die Veranstaltung rechtzeitig genehmigt werden würde, und rief bei der Polizei an. Die Sache klärte sich unerwartet schnell und reibungslos: „Der Arzt Li Wenliang? Den kenn ich“, war die Antwort. „Macht nur, ich schick zu eurem Schutz einen Polizisten.“
Die Ankündigung war erst fünf, sechs Stunden zuvor rausgegangen, da gab es schon Reaktionen im Netz: Die Organisatoren seien Unterstützer der Unabhängigkeit Hongkongs, sie seien gegen die Partei, man solle nicht hingehen. Die Reaktionen hatten wohl damit zu tun, dass ein Organisator einer gleichnamigen Veranstaltung bekennender Aktivist aus Hongkong war, auf Facebook findet man sowas schnell raus. Um zeitnah alle Kommentare und Nachrichten zu beantworten, die unablässig hereinströmten, kam Linzi erst am Morgen des 9. Februar um 4 Uhr zum Schlafen. Ihr war ein Weibo-Account aufgefallen, der nur 50 Fans hatte und sich „Informationsplattform von Chinesen in Deutschland“ nannte. Über diesen Account wurden nacheinander drei lange bebilderte Posts verschickt, die gegen die Gedenkveranstaltung waren und in verschiedenen WeChat-Gruppen von Chinesen weitergeleitet wurden. Inzwischen ist dieser Account gelöscht. Es gab auch viele Privatnachrichten von Unbekannten, einer bat Linzi, ein selbst verfasstes Gedicht auszudrucken und zur Veranstaltung mitzunehmen.
Am 9. Februar – sie hatte bis mittags geschlafen – hatte Linzi ein Dutzend unbeantwortete Anrufe auf ihrem Handy. Auf Drängen ihrer Eltern hatte sich die Frau des Pärchens, die die Veranstaltung mitorganisieren wollten, aus der Sache zurückgezogen. Eine andere Chinesin, die bereits seit ihrem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebt, entschuldigte sich ebenfalls für ihren Rückzug und versprach, stellvertretend ihren deutschen Freund zu schicken.
Am Nachmittag ging Linzi in ihr Atelier und druckte das Abschiedsgedicht aus, außerdem einen Text über Li Wenliang auf Englisch und Deutsch. Danach ging sie in den nahegelegenen Supermarkt und kaufte fünf Kerzen und vier Sträuße aus gelben, weißen und rosa Tulpen. Als sie mit dem Taxi am Brandenburger Tor ankam, war es bereits 17:30. Während sie die Blumen und das Bild aufstellte und die Kerzen entzündete, kamen mehrere Menschen mit Gesichtsmasken aus verschiedenen Richtungen über den Platz. Erst jetzt bemerkte Linzi, dass viele Teilnehmer frühzeitig gekommen waren. Insgesamt waren es über 30.
Die Teilnehmer kannten einander nicht und sprachen auch kaum miteinander, jeder ging schweigend seinen Gedenkritualen nach. Verschiedene Blumensträuße wurden abgelegt, weiße Chrysanthemen des Totengedenkens, aber auch feuerrote Paradiesvogelblumen. Irgendjemand hatte frittiertes Hähnchen der Marke Risa und Bier mitgebracht – Li Wenliangs Lieblingsessen, wie er mal in einem Weibo-Post geschrieben hatte. Wieder jemand anders hatte ein paar Zeilen aus dem Lied „Zum Abschied“ dabei: „Bei dem langen Pavillon, nahe dem alten Pfad, strebt das junge grüne Gras gen Himmel.“ Ein junger Mann nahm ein A4-Blatt aus der Jackentasche und legte es auf den Boden. Darauf stand: „Redefreiheit“. Zwei weitere Teilnehmer trugen zwischen zwei Holzstöcken aufgespannt ein weißes Transparent mit der Aufschrift „Im Gedenken an Li Wenliang“. An diesem Abend wehte ein starker Wind, bei jeder Böe hockten sich alle nieder und drängten sich schützend um die flackernden Kerzen.
Ein Deutscher sprach Linzi an: „Wieso konnte Li Wenliang sich mit dem Virus anstecken, wo er doch einer der ersten war, die die Gefahr erkannten?“ Diese Frage konnte Linzi auch nicht beantworten. Li Wenliang hatte sich vom 10. Januar an unwohl gefühlt. Zu diesem Zeitpunkt waren sich die Ärzte noch nicht sicher, ob diese unbekannte Krankheit von Mensch zu Mensch übertragbar war und hatten daher einige Infizierte, die kein Fieber hatten, ohne Mundschutz behandelt.
Um 18:30 löste sich ein Mann schweigend aus der Gruppe und ging über den leeren Pariser Platz. Im Mund hatter er eine Trillerpfeife. Die um die Kerzen versammelten Menschen nahmen ebenfalls Trillerpfeifen aus der Tasche, manche öffneten die App „Whistle Sounds“, die sie gerade heruntergeladen hatten. Der Klang der Pfeifen schallte langgezogen und traurig über den Platz. Eine halbe Stunde später hatte sich die kleine Truppe aufgelöst. Um 20:30 löschte Linzi den Aufruf zur Gedenkveranstaltung auf Weibo. Bis dahin hatten 101 Netizens den Aufruf weitergeleitetet und er war 50.000 Mal gelesen worden.
Am siebten Tag nach Li Wenliangs Tod, nach chinesischer Tradition ein wichtiger Tag des Totengedenkens, arrangierte Linzi sein Foto, Kerzen und einen Strauß weißer Lilien an der Straßenecke neben der Tür ihres Studios. Selbstverständlich durfte auch der Satz “Eine gesunde Gesellschaft sollte mehr als nur eine Stimme haben.“ nicht fehlen. Ein Schüler der nahegelegenen Schule las ihn im Vorbeigehen laut vor, fragte dann die Mutter: „Wer ist das? Was bedeutet der Satz?“
Bilder von Yin Xiyuan (尹夕远).
März 2020