Verzeichnis einiger Verluste #6  Huanggang, Kreis Yingshan, eine Freiwillige

Wuhan (#8753) © Goethe-Institut China 2020

Die 25-jährige Zhang Li wollte ursprünglich nur etwas Geld spenden.

Der zur Stadt Huanggang gehörende Kreis Yingshan liegt im Osten der Provinz Hubei 159 km von Wuhan entfernt. Er umfasst acht Gemeinden und mehr als 300 Dörfer. Im vergangenen Jahr erlaubte die Provinzregierung dem Kreis, sich von der Liste der „Armen Kreise“ streichen zu lassen. Yingshan hat 400.000 Einwohner, zur Spitzenzeit waren hier 60 Personen mit dem Coronavirus infiziert.
 
Zhang Li wurde in der Gemeinde Wenquan geboren. Sie ist Lehrerin in der Abschlussklasse der Oberschule und verdient 3000 Yuan im Monat. Im vergangenen Monat hat sie zigtausend Yuan ausgegeben und zusammen mit drei anderen freiwilligen Helferinnen und vier Fahrern für den Kreis Yingshan mehr als 6000 Gesichtsmasken, 210 Schutzanzüge, 4400 Schutzbrillen, 13 Sauerstoffgeräte und 10 Blutsauerstoffmessgeräte, 2 Beatmungsgeräte und 32 Tonnen Gemüse aufgetrieben. Dazu kommt noch allerhand Kleinzeug wie 1080 Eier, 910 Kisten mit Nudelsuppen, 1000 Papierwindeln und 38 Blumensträuße, mit denen andere Helfer willkommen geheißen wurden.
 
Ursprünglich wollten sie nur ein paar Gesichtsmasken für ihre Familien besorgen. 14 Stunden nach Wuhan wurde am 24. Januar um Mitternacht auch Huanggang zum abgeriegelten Gebiet erklärt. Nach dem chinesischen Kalender war es der Neujahrstag, aber alle Wohnungstüren blieben fest verschlossen, die üblichen gegenseitigen Besuche fanden nicht statt. Vor den Apotheken bildeten sich Schlangen von einem Ende der Straße zum anderen. Ein Freund sendete einen QR-Code und rief damit zu Spenden für die Krankenhäuser auf. Aber Geldspenden nützten nicht viel, denn Gesichtsmasken waren komplett ausverkauft. Kurz darauf kam eine Nachricht, dass es in der Gemeinde Xiantao welche gäbe. Zhang Li stieg ins Auto und kam bis zur Autobahnauffahrt, wo sie erfuhr, dass sie erst zurück musste, um sich beim Kommandostab der Gemeinde einen Passagierschein ausstellen zu lassen. Nachdem sie diesen bekommen hatte, sammelte sie mit ihren Gefährtinnen über 20.000 Yuan und brachte noch in derselben Nacht 12.000 Gesichtsmasken mit, die sie alle im Krankenhaus ablieferte.
 
Aber Geld war bald nicht mehr das Ausschlaggebende. Zhang Li verlegte den Fokus ihrer Bemühungen auf die Versorgung der einzelnen Krankenhäuser. Im Kreis Yingshan gibt es insgesamt 14 Hospitäler, drei in der Kreisstadt und je eines in den elf untergeordneten Gemeinden. Eine detaillierte Liste mit allen Kontaktdaten konnte sie durch einen Anruf bei der Kreisregierung zusammenstellen. Um die nötigen Papiere zu erhalten, musste sie drei Stellen abklappern: Erst zum Krankenhaus, das ein Schreiben ausstellte, dann zum Kommandostab für Epidemiebekämpfung, um es abstempeln zu lassen, und zuletzt zur Verkehrspolizei, um die Fahrzeugdaten registrieren zu lassen. Um von A nach B zu fahren, brauchte man normalerweise nur drei Minuten, aber wegen der Straßensperren dauerte es jetzt 20 Minuten. Um einmal die Kreisstadt zu verlassen, brauchte man nun mehrere Stunden.   
 
Nachdem sie von ihrer ersten Tour nach Xiantao zurückgekehrt war, änderte sich Zhang Lis Tagesablauf: Nach dem Aufwachen schaute sie zuallererst auf ihr Handy, fasste die Anfragen der Krankenhäuser zusammen und postete sie in verschiedenen WeChat-Gruppen. Danach koordinierte sie die Anfragen mit den unbekannten Personen, die spenden wollten oder Waren zur Verfügung hatten. Mittags verließ sie die Kreisstadt, um die Waren abzuholen, die dann am Nachmittag im ganzen Kreis verteilt wurden. Um 22 Uhr war sie wieder zuhause und sortierte noch die verschiedenen Belege und Quittungen des Tages. Daneben musste sie auch Zeit finden, um die Hausaufgaben ihrer Schüler und Schülerinnen zu beaufsichtigen, denen im Juni ja die wichtigste Prüfung ihres Lebens, die Hochschulzugangsprüfung bevorsteht. Und Zhang Li selbst hatte sich kurz zuvor für eine Fortbildung angemeldet, für die sie jeden Tag im Internet Lektionen anhören musste. Wuhan (#8753) © Goethe-Institut China 2020 Die Materialbeschaffung war alles andere als einfach, meistens wurde Zhang Li versetzt. Ganz zu Anfang meinten viele Spender und Spenderinnen, dass die Lage in Yingshan nicht so kritisch sei wie in Wuhan und die Situation jetzt nur von Trittbrettfahrern ausgenutzt werde. Nachdem später zahlreiche Betrugsfälle in Zusammenhang mit Geld- und Materialspenden bekannt geworden waren, wurden die Leute noch wachsamer. Manchmal hatte Zhang Li gerade mit jemanden auf WeChat Freundschaft geschlossen und erst wenige Worte gewechselt, da wurde sie direkt wieder geblockt. Und manchmal war sie auch das Opfer: Mehrmals hatten ihre Geschäftspartner eine Anzahlung angenommen und dann weder geliefert noch die Anzahlung erstattet. Oder einige Kisten mit Masken im Wert von mehreren 10.000 Yuan aus Hongkong wurden beschlagnahmt, weil sie vor dem Versand nicht desinfiziert worden waren.
 
Wenn sie das benötigte Material endlich aufgetrieben hatte, musste sie oft eigenes Geld aufwenden. Einmal gab es eine Spende von 12 Tonnen Gemüse aus Shenzhen, aber das war gerade in dem Moment, wo die Kontrollmaßnahmen am strengsten waren, und jeder, der den Kreis verlassen wollte, musste erst einen Nukleinsäuretest machen. Zhang Li befürchtete, dass sie nicht rechtzeitig ankommen würde und beauftragte einen Fahrer von außerhalb. Der wollte 10.000 Yuan für die Fahrt haben, die im Normalfall nicht mal die Hälfte kostete. Den Freiwilligen blieb nichts anderes übrig, als den Transport aus eigener Tasche zu bezahlen. 
 
Am 9. Februar wurde das Programm „Eine Provinz für eine Stadt“ ausgerufen. 16 Provinzen Chinas wurden mit 16 Städten in Hubei „gepaart“, um diese zu unterstützen. Huanggang wurde die Provinz Shandong zugeteilt und bekam von dort viele Gemüselieferungen. Weil aber die Epidemiebekämpfungsbehörden und die Krankenhäuser bevorzugt versorgt wurden, und die Prioritäten von Stadt, Kreis und Gemeinde unterschiedlich waren, erhielten Zhang Li und die Bewohner von Wenquan schließlich kaum etwas von diesen Lieferungen: „Wir haben nur ein paar hundert Gramm Goldnadelpilze bekommen“, sagt sie. Der Preis für Shiitake war schon auf über 10 Yuan das Pfund gestiegen. Ein Fünf-Kilo-Gemüsesortiment kostete 50 Yuan, aber viele Menschen konnten sich selbst das nicht leisten.
 
Zu dieser Zeit besuchte gerade ein Dokumentarfilmer eine Gesichtsmaskenfabrik in Xiantao und lernte Zhang Li über eine Hilfsgruppe kennen. Er stellte für sie den Kontakt zum Xinfadi-Großhandelsmarkt für landwirtschaftliche Produkte in Beijing her. Aber von dort war keine Hilfe zu erwarten – schließlich musste der Markt die Versorgung der ganzen Hauptstadt sichern. So liefen sich Zhang Li und ihre Mitstreiterinnen nicht nur für medizinische Produkte die Füße wund, sondern auch noch für die Grundversorgung der Bürger im Kreis und den Gemeinden.
 
„Schon im Februar waren wir dem Zusammenbruch nahe, aber im März dachten wir, es geht gar nichts mehr“, erzählt Zhang Li. Was sie antrieb, war auch die Anerkennung der Leute. Ursprünglich kannte sie in Yingshan gar nicht viele Menschen, jetzt aber kannten alle sie – von der Kreisregierung über den Kommandostab für Epidemiebekämpfung, die Katasrophenschutzbehörde, die Verkehrspolizei, die Haftanstalt bis zu den 14 Krankenhäusern. Der Kommandostab für Epidemiebekämpfung hatte ihr und ihren Gefährtinnen für ihre drei temporären Transportahrzeuge – ein Pkw, ein Pickup und ein kleiner Transporter – sogar langfristige Passierscheine ausgestellt. Die Menge an Waren, die Zhang Li und ihre Truppe beschafften, überstieg sogar die des Kommandostabs. Wuhan (#7711) © Goethe-Institut China 2020 Niemand hatte dem Bestattungsunternehmen Masken, Schutzbrillen oder Schutzanzüge geliefert. Um Ansteckungen zu vermeiden, wurden Leichen nun direkt abtransportiert, Verwandte und Freunde konnten sich nicht wie sonst üblich vom Toten verabschieden. Einmal hatte das Institut sich auch an Zhang Li gewandt, aber zu dem Zeitpunkt gab es noch gar keine Sachspenden für Yingshan, selbst dem Krankenhaus mangelte es an allem. Zhang Li gab ihnen einige normale Masken ohne Viren- und Bakterienschutzfunktion. „N95-Masken haben wir bis heute nicht besorgen können“, sagt sie seufzend. Einmal fuhr sie extra nach Wuhan, um 20 OP-Masken fürs Krankenhaus zu besorgen. Die Fahrt kostete sie sechs Stunden.
 
Zwei weitere praktisch unsichtbare Gruppen von Bedürftigen waren die psychische Heilanstalt und das Gesundheitszentrum für Mütter und Kinder. Von den gespendeten Gütern etwas abzuzweigen war unmöglich. In der Spätphase machten die Spender zunehmend genaue Angaben, an welches Krankenhaus die Spenden gehen sollten, und die Empfänger mussten den Erhalt unterschreiben. Als erstes wurde natürlich immer an die Krankenhäuser gedacht, die für Lungenpatienten designiert waren. Die Ärzte im Gesundheitszentrum für Mütter und Kinder behalfen sich die ganze Zeit damit, gebrauchte Plastiktüten über ihre Schuhe zu streifen. Hier konnte auch Zhang Li nicht weiterhelfen, manchmal kaufte sie auf eigene Kosten einige Lebensmittel und brachte sie vorbei.
 
Auch in den bevorzugten Hospitälern für Lungenkranke gab es Wünsche, die ungern artikuliert wurden. Der Kommandostab für Epidemiebekämpfung sorgte für eine Grundversorgung an Lebensmitteln, aber abends sehnten sich die diensthabenden Ärzte doch nach etwas Warmen. Zhang Li besorgte eine Bewilligung der Polizei – die Polizisten, die 24 Stunden Dienst taten, hatten viel Verständnis dafür, dass man sich nachts eine Schüssel Reis wünschte. Wegen der strengen Kontrollmaßnahmen waren einige Unterschriften notwendig. Abends um 11 Uhr rief Zhang Li den Gemeindevorsteher an, am nächsten Morgen um 7 Uhr half dieser bei der schnellen Abwicklung der Formalitäten, und so konnten schließlich Reisgerichte ausgeliefert werden.

Zwei weitere praktisch unsichtbare Gruppen von Bedürftigen waren die psychische Heilanstalt und das Gesundheitszentrum für Mütter und Kinder. Von den gespendeten Gütern etwas abzuzweigen war unmöglich.

Unter den Spendern gab es welche, deren Verhalten Zhang Li unzufrieden machte. Eine Firma sendete 1000 Kisten Reis aus Bengbu in Anhui. Dass Freiwillige bei der Übergabe von Spenden im Krankenhaus Fotos machten, war schon so selbstverständlich geworden, dass man kein Wort darüber verlieren musste, aber diese Firma wollte mehr. Zhang Li sollte ein Spruchband mit dem Namen der Firma und ein Spendenzertifikat anfertigen lassen. Da die Druckereien im Kreis schon lange geschlossen waren, musste Zhang Li einige Anstrengungen unternehmen, um das gewünschte Spruchband mit Hilfe von Freunden herstellen zu lassen. Als nächstes sollten Ärzte im Schutzanzug neben den Produkten stehen, und es durfte niemand im Bild erscheinen, der gerade telefonierte. Da die Schutzanzüge äußerst knappe Verbrauchsgüter sind, blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als bereits entsorgte Anzüge aus dem Müll zu holen und überzuziehen. Außerdem forderte die Firma, dass die Ärzte beim Essen des Produktes dessen Namen erwähnten und seinen Geschmack lobten. Die Videos sollten auf TikTok und Kuaishou hochgeladen werden.
 
Am 27. Februar war die Zahl der Infizierten in Yingshan gleich Null, aber das bedeutete nicht, dass Zhang Li sich hätte zurücklehnen können. Der Cousin einer anderen freiwilligen Helferin hatte plötzlich am ganzen Körper rote Punkte, sein Thrombozytenwert war unter fünf Prozent gesunken. Das lokale Krankenhaus vermutete Leukämie, hatte aber keine Ausstattung, um die nötigen Tests für eine Rückenmarkstransplantation durchzuführen. Zhang Li half, ein besser ausgestattetes Krankenhaus in Wuhan zu kontaktieren. Auch unterstützte sie das Kommandozentrum bei der Beschaffung von 500 Stirnthermometern und 1000 Fiebermessgeräten.
 
„Eigentlich ist Yingshan doch so schön, im Frühling blüht alles, im Sommer kann man hier Rafting machen, im Herbst die roten Blätter bewundern, und im Winter in den heißen Quellen baden“, sagt Zhang Li. Sie hofft, dass alle, die ihr geholfen haben, einmal vorbei kommen und es sich selbst anschauen werden. Im Moment sorgt sie sich vor allem um ihre Schüler und die möglichen Auswirkungen der Situation auf deren Hochschulaufnahmeprüfung im Juni.

Bilder von Yin Xiyuan (尹夕远).
 

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