Li Moumin wollte sich das Leben nehmen.
Die 15-jährige kam aus dem Dorf Shangying. Sie ging in die dritte Klasse einer Mittelschule im Ort Zhangcun unweit der Stadt Dengzhou. Sie hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Ihre Schwester, 17 Jahre alt, besuchte die erste Klasse der Oberschule. Ihr Bruder, 13 Jahre alt, stand unmittelbar vor den Eingangsprüfungen zur Mittelschule. Nachdem die Städte der einzelnen Regionen abgesperrt worden waren, wurden die Lehrer durch die Schulen angewiesen ihren Unterricht per Livestream zu übertragen und auch die Ausgabe und Abgabe der Hausaufgaben online abzuwickeln. Am 4. Februar hätte für Li Moumin der Unterricht beginnen sollen. Ihr Problem: Sie besaß kein eigenes Smartphone.In ihrer Familie gab es nur ein einziges Handy. Und auch für das hatte man sich das Geld von überall zusammengeliehen und die Nachbarn gebeten, bei der Bestellung über das Internet zu helfen. Moumins Vater, Li Handang, konnte wegen seines verkrüppelten linken Beins nicht mehr auf dem Feld arbeiten und lebte nun davon, Schuhe zu reparieren. Die Mutter litt an einer geistigen Erkrankung und musste das ganze Jahr über Medikamente nehmen, die sie jeden Monat Hunderte von Yuan kosteten. Sie waren eine Familie, die nur mit Hilfe des Staates über die Runden kam.
Die Geschichte der Familie Li wurde später von dem Autor Sun Xuyang - er hatte ebenfalls einmal die obere Mittelschule in Zhangcun besucht - in einem Artikel festgehalten. Er wusste zu erzählen, dass Li Moumins Mutter im lokalen Dialekt nur als „die Schwachköpfige“ bezeichnet wurde. Wenn ein Mann auf dem Land eine „Schwachköpfige“ heiratete, war er entweder mittellos oder behindert, häufiger jedoch beides zusammen. Die Familie benötigte ihre gesamte Kraft, um zu überleben, von einem Leben in Würde jedoch war ihre Existenz weit entfernt. „Sich ein Mobiltelefon von Verwandten oder Nachbarn leihen? Für jemanden, der nicht in einem armen Haushalt aufgewachsen ist, liegt dieser Gedanke nahe. Solchen Leuten fällt es nicht schwer, den Mund aufzumachen, ganz einfach, weil sie es eben auch nicht müssen.“, schrieb der Autor in seinem Bericht. © Goethe-Institut China 2020 Li Moumin erinnerte den Autor an seinen Neffen. Der ging in einer Nachbargemeinde von Zhangcun zur Schule. Als kürzlich bei ihm die Internetverbindung zusammenbrach und er nicht mehr am Online-Unterricht teilnehmen konnte, rastete sein Neffe aus. Im Affekt hatte sein Vater daraufhin sein Smartphone auf den Boden geschmettert. Dem Vater hatte das Leben schon einiges abverlangt und er schien nicht verstehen zu können, dass der Ausraster seines Sohnes mehr als einfach nur ein Wutanfall war.
Währenddessen hatten viele andere Schüler, die zum E-Learning zwangsverpflichtet worden waren, ganz andere Sorgen als Li Moumin. Am 29. Januar hatte das chinesische Bildungsministerium folgende Mitteilung herausgegeben: „Schulfrei heißt nicht lernfrei – über die Nutzung von Internetplattformen“. Ein Teil der Schüler, der keine Lust auf Unterricht hatte, flutete daraufhin die App Stores und gab Konferenz-Apps wie DingTalk oder Tencent Classroom miserable Bewertungen. Andere beschwerten sich, dass der Bildschirm immer wieder schwarz würde, dass die Datenübertragung zu langsam sei oder darüber, dass die digitalen Großkonzerne ihre Privatsphäre verletzten. Die Debatten, die um diese Themen kreisten, nahmen höchst unterhaltsame Züge an und der gegenseitige Schlagabtausch wurde zu einem regelrechten Marketingereignis. Anfang Februar kam auf der Video-Sharing-Website Bilibili, bei der chinesische Nutzer Filme live kommentieren können, der Song „It’s nice to hear you DingTalk“ (你钉起来真好听) heraus, der die Praxis des Online-Teachings über DingTalk kritisierte, weil sich die Schüler überfordert fühlten. Als Antwort darauf veröffentlichte DingTalk am 16. Februar ebenfalls bei Bilibili ein sogenanntes Ghost-Animal-Video und entschuldigte sich in dem durch Computerstimmen verfremdeten Mashup mit dem Titel „DingTalk bittet online um Gnade“ (钉钉本钉,在线求饶) bei seinen Usern.
Diese Eskalationen hatten mit Li Moumins Leben nichts zu tun. Die Lehrerin war inzwischen besorgt, weil Li Moumin weder am Unterricht teilnahm noch ihre Hausaufgaben einreichte. Den Klassenkameraden fiel auf, dass Li Moumin bei den Live-Übertragungen oft gar nicht in der Teilnehmergruppe auftauchte. Da das Familienhandy von drei Personen benutzt wurde, stand es Li Moumin die meiste Zeit gar nicht zur Verfügung. Doch sie schämte sich, ihr Problem anzusprechen. Am Morgen des 29. Februar, 25 Tage nachdem der Online-Unterricht begonnen hatte, griff sie zu den Psychopharmaka ihrer Mutter und schluckte eine große Dosis. © Goethe-Institut China 2020 Der Krankenwagen war schnell zur Stelle und brachte sie ins Zentralkrankenhaus der Stadt Dengzhou. So erfuhr das gesamte Dorf Shangying von der Notlage der Familie Li. Die Dorfbewohner starteten eine Spendenaktion, bei der man 50, 100, oder 200 Yuan spenden konnte. Um 20 Uhr desselben Tages belief sich die gespendete Summe schon auf mehr als 10.000 Yuan.
Am nächsten Abend wurde Li Handang von der chinesischen Zeitung Time Weekly interviewt. Er berichtete, dass seiner Tochter am Tag zuvor um 12 Uhr mittags das Leben gerettet worden war und sie sich noch zur Beobachtung in der Klinik befinde. „Jetzt hat ihre Mutter allerdings keine Medizin mehr, im ganzen Haus gibt es nur noch ein einziges Medikament. Und wegen der Straßensperrungen kann ich vorerst auch keine neuen Arzneimittel besorgen. Ich muss einfach abwarten, bis die Epidemie vorbei ist.“ Und doch lehnte er es ab, sich irgendwie helfen zu lassen. „Ihr habt doch jede Menge zu tun, da will ich keine Umstände machen.“
Am 2. März in der Früh meldete sich nun auch Sun Xuyang telefonisch bei Li Handang. Er erzählte ihm, dass viele Internetnutzer seiner Familie Geld für Mobiltelefone und Bücher spenden und ihn finanziell unterstützen wollten und dafür seine IBAN benötigten. Li Handang wehrte ab. Er sei noch im Krankenhaus, außerdem sei er Analphabet und verstehe nichts von solchen Dingen. Dann legte er auf.
Später nahm Sun Xuyang Kontakt zu Lis ältester Tochter auf, um erneut nach der Bankverbindung zu fragen. „Dazu kann ich nichts sagen“, hieß es am anderen Ende der Leitung, „Und sagen Sie, was überhaupt ist eine IBAN?“
Bilder von Yin Xiyuan (尹夕远).
März 2020