Landidentität  Die Gauner im Süden

Landschaftspanorama aus der Provinz Jiangxi, China
Landschaftspanorama aus der Provinz Jiangxi, China © Hao Xianyu via unsplash.com

Der chinesische Autor A Yi unternimmt in seinem neuen Erzählband Nun sind die Gauner im Süden den Versuch, den gemeinsamen Charakter der Bewohner einer südchinesischen Kleinstadt zu skizzieren. Wir haben uns mit ihm getroffen und über die identitätsstiftende Bedeutung vom chinesischen Norden vs. Süden gesprochen, über seine Heimat Jiangxi und seine Erfahrungen als Polizist, die Ausgangspunkt vieler seiner Geschichten sind.

yì magazìn: Titel deines neuen Erzählbandes ist Nun sind die Gauner im Süden. Welche Rolle spielt hier der Süden für dich?

Der Kritiker Hu Shaoqing (胡少卿) hat mal darauf hingewiesen, dass mit „Süden“ eigentlich nur die Hälfte eines Begriffs genannt ist, denn sobald man Süden sagt, schwingt auch die Idee des Nordens mit. Vom Norden als politisches Zentrum aus gesehen spielte der Süden immer eine untergeordnete Rolle. Der Süden war das Inoffizielle, das Andere. Natürlich kann man heute, nach dem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung in den Küstenregionen, die Gebiete um Shanghai, Guangdong und Fujian nicht mehr als etwas Anderes bezeichnen. Doch für weite Gegenden in den Provinzen Hunan, Hubei, Jiangxi oder Anhui trifft das immer noch zu.

Dazu kommt ein weiteres Phänomen, nämlich das der Sogwirkung, die von den großen Städten ausgeht. Denn wenn kleinere Städte auf einmal Schnellzüge und Flughäfen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie davon wirtschaftlich profitieren. Ganz im Gegenteil, ihre Ressourcen und Arbeitskräfte werden von den städtischen Zentren angezogen, von den großen Metropolen, die eine dominante Stellung haben. Nicht dass die kleinen Städte im Süden gar keine wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten hätten, doch im Verhältnis zu den Zentren geht es dort nur langsam voran. Das kann die Menschen an diesen Orten unruhig machen. Daher heißt es zu Recht: die ersten, die kapieren, was die Leute bedrückt und wonach sie sich sehnen, sind die Betrüger. Das ist der Hintergrund des Romans. Der Ort mit Namen „Rot-Raben“ ist eine von zahllosen Kleinstädten, die sich nach Aufschwung sehnen.

Ist das Leben in deiner Heimat tatsächlich so wie du es im Roman beschreibst, „so absurd und doch so wahr“? Du warst in der kleinen Ortschaft Hongyi bei Ruichang in der Provinz Jiangxi früher mal als Polizist tätig – ist das eine Quelle deiner Inspiration?

In Hongyi habe ich eineinhalb Jahre lang als Polizist gearbeitet. Insgesamt war ich fünf Jahre bei der Polizei. Dass ich aufgehört habe, liegt auch daran, dass ich für diese Arbeit einfach nicht geeignet bin. Die Anforderungen an die körperliche Konstitution, Muskelkraft und Reaktionsfähigkeit sind sehr hoch. Dennoch bin ich sehr froh über diesen Lebensabschnitt. Denn bei der Polizei hat man immer mit Menschen zu tun, in denen sich dramatische Konflikte kulminieren: Täter, Leidtragende, Lügner, Opfer – oder genauer gesagt, man sieht immer jene Seite in ihnen, die mit einem dramatischen Konflikt zu tun hat.

Das ist gleich wie wenn ein Arzt die Menschen als Patienten betrachtet oder eben die Krankheit in ihnen sieht. Meine Erfahrungen bei der Polizei sind zur Grundlage meines Schreibens geworden. Außerdem ist mir klar, dass es allgemein ein großes Interesse gibt am Thema Kriminalität. Es ist ein Feld, das Romanautoren immer interessiert hat, so wie etwa Stendhal oder Dostoyevsky. Denn darin kommt am besten zur Geltung, was der Mensch ist, die Menschlichkeit, die Menschheit. Das ist ausgezeichnet.

In der Stadt neigen die Leute viel eher dazu, sich in eine Maske zu zwängen, so dass man sie kaum mehr voneinander unterscheiden kann

Meine Heimatstadt Ruichang zählt mit etwas über 400.000 Einwohner zu den kleineren Städten. Zurzeit ist dort gerade eine dritte Abwanderungsbewegung im Gang. Zuerst gab es eine Abwanderung aus den Dörfern in die kleinen Ortschaften, dann kam der Abzug in die Kreisstädte und jetzt von dort aus in die größeren Städte. Letzteres geht allerdings nur langsam voran. In meiner Heimatstadt spiegelt sich prototypisch, was für unzählige Kleinstädte gilt. So sieht man in meinen Romanen, wie die Gegend meiner Herkunft in naher Vergangenheit war. Das ist der fiktive Schauplatz vieler meiner Geschichten.

Siebzig Prozent meiner Erzählungen haben mit meinem Herkunftsort zu tun. Denn in ländlichen Gebieten, in der Provinz oder in städtischen Randgebieten findet man am leichtesten Menschen, die auf eigenständige Weise ihre Persönlichkeit und ihre Ideen zum Ausdruck bringen, und das macht ihre Worte und Taten interessant. In der Stadt neigen die Leute viel eher dazu, sich in eine Maske zu zwängen, so dass man sie kaum mehr voneinander unterscheiden kann. In einem Bürogebäude etwa kann man leicht den Eindruck erhalten, alle Angestellten wären mehr oder weniger gleich. Einzeln sind die Städter schwer voneinander zu unterscheiden, doch insgesamt spürt man eine Art Einsamkeit und Frustration. Das hat schon Kafka im frühen 20. Jahrhundert treffend beschrieben. Natürlich hat dieser Eindruck auch damit zu tun, dass ich nie richtig in das Stadtleben eingetaucht bin, obschon ich nun schon zwanzig Jahre in der Stadt lebe.
Das Deckblatt von Nun sind die Gauner im Süden Nun sind die Gauner im Süden | © A Yi Die meisten deiner Geschichten haben etwas Abstruses, auch die Figuren wirken grotesk und apathisch. In der Titelerzählung Nun sind die Gauner im Süden ist es ebendiese kollektive Leere und Frustration, die den Nährboden schafft für Betrug, gleichzeitig aber auch Mitgefühl erweckt. Die Erzählperspektive ist meist die eines allwissenden Erzählers oder zumindest die eines unbeteiligten Betrachters. Woher kommt diese verfremdende Distanz?

Das ist nicht leicht zu beantworten. Du hast die kollektive Leere angesprochen – in letzter Zeit habe ich mir viel Gedanken gemacht über den kollektiven Charakter und darüber, wie er zum Ausdruck kommt. Die treffendste Schilderung des kollektiven Charakters in China hat Lu Xun mit der Hauptfigur in Die wahre Geschichte des Ah-Q geschaffen. Ähnliches habe ich auch bei Benjamin gefunden, wenn er sagt, dass die Deutschen damals (nach dem Ersten Weltkrieg) schnell bereit waren, sich dem Kollektiv zu unterwerfen und auch, dass sie weniger Humor hätten als die Menschen anderer Länder Europas.

Der Versuch, einen kollektiven Charakter zu beschreiben, ist genauso spannend wie die Schilderung einer Einzelperson. Die Erzählung Nun sind die Gauner im Süden unternimmt den Versuch, den gemeinsamen Charakter der Bewohner einer chinesischen Kleinstadt zu skizzieren. Es ist wichtig, zu beschreiben, was eigentlich die Menschen einer Kleinstadt heute ausmacht, allem voran ihre Sehnsucht nach Reichtum und ihre Unzufriedenheit über mangelnde Aufstiegschancen. Solche kollektiven Wünsche sind es, die Betrüger im Visier haben, davon werden sie regelrecht angelockt. Das ist ganz ähnlich wie in Gogols Komödie Der Revisor.

Die verfremdende Distanz entsteht durch einen Blick von oben. Ich weiß nicht, ob ich das richtig sehe, aber mir scheint, wenn jemand aus einer Kleinstadt in eine Großstadt umgezogen ist, kann er wie ein Vogel aus den Lüften hinabschauen und seinen Herkunftsort mit viel mehr Klarsicht betrachten. Jemand, der immer nur in derselben Stadt lebt, wird diese Möglichkeit wohl kaum haben. Vielleicht ist das einfach die sprichwörtliche „Klarsicht des Außenstehenden“. Es macht einen Unterschied, ob man in einer Stadt mit U-Bahn über einen Ort ohne U-Bahn schreibt oder ob man an einem Ort ohne U-Bahn über sich selbst schreibt. Das sind ganz andere Blickwinkel und Erfahrungen. Auch das Denken ist anders.
Kochstelle in einem alten Haus in Jiangxi Kochstelle in einem alten Haus in Jiangxi | © Hao Xianyu via unsplash.com Die Erzählung Antrieb der Evolution (用进废退) im selben Buch spielt in Peking. Du hast einmal gesagt: „Ich bin immer noch derjenige aus dem kleinen Ort Hongyi. ... In Peking kann ich mich bis heute nicht richtig einleben und will es eigentlich auch nicht. ... Die Stadt ist ein Ort zum Leben, doch geistig komme ich da nicht rein.“ In Antrieb der Evolution gewinnt man als Leserin allerdings eher den Eindruck, der Ich-Erzähler sei ganz in das Großstadtleben eingetaucht. Wie siehst du beim Schreiben deine Identität, auch in geografischer Hinsicht?

Vielleicht müsste ich ein weiteres Mal wegziehen, weg von dieser Stadt, um die zwanzig Jahre, die ich nun hier lebe, richtig resümieren, analysieren und betrachten zu können. Der geografische Umzug verleiht einem etwas wie eine Berechtigung. Wenn ich von der Kleinstadt in die Großstadt ziehe, bin ich berechtigt, über die Kleinstadt zu schreiben. Und wenn ich dann wiederum an einen anderen Ort ziehe, habe ich das Recht, über die Großstadt zu schreiben.

Ich muss da an einen Schriftsteller denken, der wie ich aus der Provinz stammt und sich ein paar Geschichten über Peking abgerungen hat. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Vielleicht ist es einfach so – wir haben eine gewisse Scham, die uns darüber zu schreiben hindert. Erst mit einem weiteren geografischen Sprung würden wir sozusagen eine natürliche Berechtigung dazu erhalten. Erst wenn wir einen Ort verlassen haben, können wir sagen, dass wir ihn besitzen, dass er uns gehört.

Wirst du weiterhin Geschichten der kleinen Städte und Dörfer im Süden schreiben oder dich eher der Großstadt zuwenden?

In meinem Roman Weck mich morgens um 9 (早上九点叫醒我), der 2018 erschienen ist, erzähle ich die Geschichte vom Tod eines Dorftyrannen. Schauplatz der Geschichte ist mein Herkunftsort. Im Laufe des Schreibens ist mir etwas Interessantes aufgefallen: das Dorf, wie wir es kennen, als etwas, das so beständig ist wie Berge und Steine, hat in den zwanzig Jahren seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr Risse bekommen, beginnt sich aufzulösen, zu zerfallen. In diesen Roman habe ich nahezu sämtliche Kenntnisse und alles zur Verfügung stehende Material verarbeitet. Seitdem kann ich nicht mehr über das Dorfleben schreiben.

Zum einen, weil es dort nichts mehr zu verwerten gibt, und zum anderen, weil das Dorf als Schauplatz der Gesellschaft, als Raum der menschlichen Beziehungen, bereits unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Es rückt immer weiter weg vom normalen Alltag. Auch Ge Fei sagte nach der Fertigstellung seines Romans Warten auf den Frühling (望春风), er werde nicht mehr über ländliche Gebiete schreiben.

Allerdings kann ich auch nicht über die Stadt schreiben. Einmal, als ich nicht mehr weiter wusste, ich glaube das war im Jahr 2019, habe ich bei dem Proust-Forscher André Maurois eine Stelle gelesen, wo er die Literatur in zwei Bereiche einteilt. Zum einen gibt es Bücher, die die äußere Welt darstellen, um die Gesellschaft als Ganzes zu beschreiben, so wie beispielsweise Balzacs Comédie humaine. Zum anderen gibt es Bücher wie die von Proust, die den menschlichen Geist ins Zentrum stellen, wobei es darum geht, die Welt als eine Projektion oder auch ein Zerrbild des Geistes zu beschreiben. Maurois schreibt, Proust schöpfe die Quellen für sein Schreiben nicht in der Breite, sondern in der Tiefe aus.

Erst wenn wir einen Ort verlassen haben, können wir sagen, dass wir ihn besitzen, dass er uns gehört

Für mich bedeutet das, dass ich gar nicht unbedingt abgrenzen muss zwischen ländlichen oder städtischen Motiven, sondern vielmehr zwischen dem gesellschaftsbezogenen und dem geistig-biografischen Roman. Mir ist bewusst geworden, dass ich im Versuch, eine möglichst objektive Beschreibung der Gesellschaft vorzunehmen, bislang mehr oder weniger den Fußstapfen Balzacs gewandert bin. Bei Ge Fei habe ich in einem Interview des chinesischen Medienportals The Paper eine ähnliche Einteilung gefunden.

Er sagt darin: „Der Großteil der heutigen Belletristik spielt mit Ästhetik, Intellekt und Unterhaltung. Die Frage, wie das wahre Wissen um das Leben dargestellt werden kann, wird ausgeblendet. Mit dem wahrem Wissen ist gemeint, dass ein Autor bei der Schilderung seiner Figuren seine tatsächlichen Erfahrungen nutzen, aus der eigenen Biografie schöpfen sollte – oder anders gesagt, ein Roman sollte Einblick geben in die geistige Welt des Autors, seine Ideen und Anliegen, seinen eigenen Schmerz und sein Verständnis vom Leben.“

Um auf die Frage zurückzukommen: Wo finde ich einen neuen literarischen Schauplatz? Ich denke, es geht darum, dass sich der Schauplatz nach innen wendet, enger mit dem Autor selbst verbunden ist, so dass dieser nicht länger nur als Sammler von Material und Nachrichten fungiert. Dann nämlich könnte er seine Kräfte einsetzen für das, was ihn wirklich bewegt, was ihm im Herzen brennt. Ein Autor muss seine eigene Lebensgeschichte wie mit einem Scheinwerfer beleuchten und neu unter die Lupe nehmen. Ziel ist es, „durch das Leben eines Einzelnen und seine ganz alltäglichen Geschehnisse das Leben aller zum Ausdruck zu bringen“, wie André Maurois es ausdrückt – oder einfacher gesagt: der allwissende Schreiber muss abtreten und einem Betrachter des eigenen Geistes Platz machen.
Autor A Yi Autor A Yi | © A Yi

A Yi ist 1976 in Ruichang (瑞昌), Provinz Jiangxi, geboren. Er publizierte zahlreiche Erzählbände sowie die Romane Weck mich morgens um 9 (早上九点叫醒我), Was kommt als Nächstes? (下面,我该干些什么), Vorbildliche Jugendliche (模范青年) sowie die Essay-Sammlungen Ich, der Herrscher (寡人), Gleissende Sonne, werdende Welt (阳光猛烈,万物显形).

A Yi steht auf der Liste der zwanzig besten Jungautor*innen, ausgewählt von der Zeitschrift Volksliteratur, sowie auf der Liste der zwanzig vielversprechendsten Autor*innen unter 40. Er erhielt den Preis für vielversprechendsten Newcomer unter chinesischsprachigen Literatur- und Medienschaffenden, den Pu-Songling-Preis und den Lin-Jinlan-Preis für literarische Erzählungen. Texte von A Yi wurden bereits in über zehn Sprachen publiziert, darunter in englischer, französischer und italienischer Übersetzung.

Die Fragen stellte Li Li.
 

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