Cyberaktivismus „Man muss auch in der realen Welt sichtbar sein“
Bei einem seiner Einzelproteste hält Arshak Makichyan ein brennendes Schild aus Pappe auf dem steht „Ihr schafft die Wege zum Klimakollaps“. | Foto (Detail): © Yakov Koleichuk
In Ländern, in denen Proteste schweren Einschränkungen unterliegen, ist persönlicher Protest für Aktivist*innen nicht immer eine Option. Wie können Aktivist*innen in anderen Räumen, beispielsweise online, auf Probleme aufmerksam machen? Der Moskauer Klimaaktivist Arshak Makichyan diskutiert seine Erfahrungen mit On- und Offlineprotesten in Russland.
Herr Makichyan, wie oft protestieren Sie persönlich?Ich habe 110 Wochen lang jeden Freitag gestreikt. Dann entschied ich mich, meine Strategie zu ändern. Jetzt streike ich jede zweite Woche, weil es in Russland riskanter ist, das jeden Freitag zu machen. Es erfordert große emotionale Ressourcen – und manchmal wird man auch festgenommen.
Wie sieht persönlicher Protest in Russland aus?
Die Proteste sind Einpersonen-Streiks, weil man dafür keine Genehmigung braucht. Das bedeutet, dass man irgendwo alleine mit einem Plakat herumsteht. Wenn eine zweite Person mitmacht, ist das illegal und man kann festgenommen werden. Aber das Problem ist, dass heutzutage sogar schon die Durchführung eines Einpersonen-Streiks schwierig ist. Von offizieller Seite wird die Pandemie als Vorwand benutzt, um selbst das zu stoppen.
Fridays for Future ist in Russland in vieler Hinsicht ganz anders als in anderen Ländern. Man darf nicht demonstrieren, wenn man unter 18 ist, denn das ist in Russland illegal. Man kann also nicht wie anderswo Schulstreiks machen. Es gibt in Russland eine ganze Reihe verschiedener Gesetze, die die Regierung eingeführt hat, eine Menge verschiedener Beschränkungen für jede Art von Protest. Deshalb mache ich Einpersonen-Streiks und -Mahnwachen und arbeite dann in den sozialen Medien.
Wie gehen Sie in Russland die Klimakrise an?
Neben dem Klima mache ich auch politischen Aktivismus, weil das ja alles zusammenhängt. In meinen ersten Jahren als Aktivist habe ich hauptsächlich Klimaaktivismus gemacht. Und dann wurde die politische Situation immer schlechter, vor allem jetzt während der Pandemie.
Ich habe insbesondere in den letzten Jahren versucht, mit der Klimakrise zusammenhängende Themen zu finden, die ich bei meinen Protesten verwenden kann. Nicht nur dafür, sondern auch für Inhalte auf verschiedenen sozialen Medien wie TikTok, Instagram und so weiter.
Wie sieht Onlineaktivismus für Sie aus?
Wir versuchen, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen: Ich verwende Instagram und Twitter und russische soziale Medien wie VK. Aber wir machen auch Petitionen auf Change.org und nutzen sogar Facebook – obwohl das in Russland gar nicht so verbreitet ist. Seit letztem Jahr versuche ich verstärkt, mehr Sachen auf TikTok zu machen, weil es auf TikTok leichter ist als auf anderen sozialen Medien, ein breites Publikum zu finden.
Wir versuchen, Abwechslung reinzubringen, also zum Beispiel witzige Bilder zu posten, Spiele zu spielen, aber auch ernste und informierende Inhalte zu Aktivismus, Klima oder Umweltfragen.
Welche Probleme bringen Onlineproteste mit sich?
Ich denke, dass die Menschen Angst haben und sich allein fühlen und nicht die Unterstützung der öffentlichen Meinung spüren, wenn sie sich zu Wort melden. In Russland gibt es sehr viele Bots. Und es kann vorkommen, dass dein Account jede Menge Bots anlockt, die die schlimmsten Dinge über dich schreiben.
Ich versuche, Online- und Offlineaktivismus zu kombinieren, denn wenn man nicht persönlich streiken kann, ist es sehr wichtig, online aktiv zu sein. Aber nach einiger Zeit ermüdet die Arbeit im Internet, weil man nicht offline streiken kann. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, offline etwas zu machen, ist man jedoch weniger schlagkräftig, weil man sich nur in seiner Blase aufhält. Man müsste auch draußen auf der Straße etwas machen.
Wie versuchen Sie, Menschen außerhalb dieser Blase zu erreichen?
Es gibt viele verschiedene Wege. In Russland passieren sehr viele Umweltkatastrophen. Beispielsweise gab es 2020 eine Katastrophe in Norilsk, bei der Tausende Tonnen Dieselöl in den Boden und ins Wasser einsickerten. Und sehr viele Leute in dem Bereich sprachen darüber. Wir organisierten eine Kampagne zu dieser Katastrophe, starteten eine Petition und organisierten digitale Streiks.
Wenn eine Katastrophe geschieht und du dieses Thema in deinem Aktivismus ansprichst und Verbindungen zwischen dem Klima und diesen Umweltproblemen herstellst, wächst dein Publikum. Es ist leichter, ein Bewusstsein zu schaffen.
Ich versuche zudem, lokalen Aktivismus, globalen Aktivismus und Internetaktivismus zu kombinieren, und brachte verschiedene lokale Ereignisse und Menschen in Moskau mit dem Klima in Verbindung.
Was sind die Vorteile von Onlineaktivismus?
Man kann online auf andere Menschen zugehen. Die sozialen Medien sind dafür ein sehr nützliches Instrument. Das hilft beim Aufbau dieser Community. Als ich 2019 sechs Tage lang festgehalten wurde, unterstützten mich viele Menschen im Internet und organisierten sogar Proteste für mich in anderen Ländern.
Wir benutzen das Internet also als Instrument, um über Themen zu sprechen, die uns wichtig sind, und so dafür zu sensibilisieren. Es ist großartig, dass wir diese Instrumente haben. Aber wie ich bereits sagte, wenn man so etwas wie Demonstrationen nicht machen kann, ist man weniger schlagkräftig, weil man auch in der realen Welt sichtbar sein muss.
Welche Risiken birgt Onlineaktivismus in Russland und wie gehen Sie damit um?
In Russland gibt es eine Menge Risiken. Viele Menschen werden jahrelang dafür eingesperrt, dass sie in einem Feed oder auf ihren sozialen Medien etwas „Falsches“ geschrieben haben.
Ich überlege mir sehr genau, was ich schreibe. Natürlich gibt es immer ein Risiko. Aber sie können nicht alle festnehmen. Ich bin aktuell keine so große Gefahr. Zudem ist es für sie im Moment ungünstig, mich festzunehmen, weil ich viel internationale Unterstützung habe. Ich verfüge also über einen Grad an Sicherheit, den andere nicht haben.
Was bedeutet Freiheit für Sie im Hinblick auf Ihren Aktivismus?
Freiheit ist eine ziemlich komplizierte Sache. Wenn man nicht streiken kann und denkt: „Okay, dann lebe ich mein Leben eben ohne Proteste und Aktivismus weiter“, kann einem die Regierung auch andere Dinge wegnehmen. Normalerweise setzt man Rede- und Demonstrationsfreiheit ein, um Grundrechte zu verteidigen. Wenn man das jedoch aufgibt, können sie einem jederzeit alles wegnehmen. Freiheit steht für mich daher an oberster Stelle, denn ohne Freiheit kann man sich gegen dieses schreckliche Regime nicht zur Wehr setzen.
Das Interview führte Juliane Glahn, Zeitgeister-Volontärin.