Glitch-Feminismus Als würde kurz eine andere Welt durchschimmern

Bietet der „Glitch“ – der Fehler oder die Störung – die Chance, Kategorien zu entkommen und den Körper zu befreien?
Bietet der „Glitch“ – der Fehler oder die Störung – die Chance, Kategorien zu entkommen und den Körper zu befreien? | Foto (Detail): © Adobe

In einem Team aus Übersetzer*innen und Literat*innen hat die Schriftstellerin Ann Cotten das Buch „Glitch Feminism“ der US-Amerikanerin Legacy Russell mitübersetzt. Was bedeutet es, solch ein Werk ins Deutsche zu übertragen? Und was ist das eigentlich – Glitch Feminism?
 

In ihrem Text Glitch Feminism: A Manifesto, erschienen 2020 in den USA, interpretiert die New Yorker Künstlerin, Schriftstellerin und Kuratorin Legacy Russell cyberfeministische Themen neu. Sie zeigt vor allem, wie sich Gender, Sexualität, Klasse und Ethnie auf die Bildung von Identität auswirken. Im Fehler, in der Störung (engl. Glitch), sieht sie die Chance, Kategorien zu entkommen und den Körper zu befreien. 2021 erschien der Text im Merve-Verlag, ins Deutsche übersetzt von einem Kollektiv aus Ann Cotten, Barbara Eder, Franziska Füchsl, Mark Kanak, Jakob Kraner, Claire Palzer, Fiona Sironic, Lotta Thießen und Bradley Williams Cohen. Romy König im Gespräch mit der österreichischen Schriftstellerin und Übersetzerin Ann Cotten.

Ann Cotten, was dürfen wir uns unter einem „Glitch“ vorstellen?

Ein Glitch ist ein Fehler. Eher kein längerer Ausfall, keine Havarie, sondern eine kurze Störung, die man wahrnimmt, aber von der man meistens davon ausgeht, dass sie von selbst korrigiert wird oder nicht fatal ist. Also der Gegenpol zum Fatal Error. Typisch für einen Glitch ist das Verwechseln verschiedener Ebenen, etwa, weil sie beide in Wirklichkeit nur aus Code bestehen, der punktuell am falschen Ort implementiert wurde. Ein Glitch kann dann gespenstisch wirken, als würde für einen kurzen Moment eine andere Welt durchschimmern.

Im Text „Glitch Feminism“, den Sie für den Merve-Verlag ins Deutsche übersetzt haben, berichtet die US-amerikanische Autorin Legacy Russell von einem „Schleier von Rasse und Gender“, durch den sie – oder besser: ihre Ich-Figur – lange auf die Welt geblickt habe. Sie schreibt: „Der Glitch postuliert: Man wird nicht als Körper geboren, man wird dazu gemacht“, und bezieht sich dabei unverkennbar auf das berühmte Zitat von Simone de Beauvoir, die sagte, man werde nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht. Frau Cotten, wie wichtig war es Ihnen, dieses Buch zu übersetzen?

Die Übersetzung ging nicht auf meine Initiative zurück. Tom Lamberty vom Merve-Verlag ist mit dem Vorschlag auf mich zugekommen. Ich beschäftige mich nicht sonderlich mit theoretischem Feminismus, da hab’ ich schon von der notwendigen Praxis die Schnauze voll, aber ich mag interessante Texte, und ich habe großes Vertrauen in Tom Lambertys Geschmack und sein Geschick als sozial vernetzender Leser. Wenn er etwas vorschlägt, dann ist etwas dran.

War das auch bei „Glitch Feminism“ so?

Inhaltlich bin ich fasziniert und Fan. Doch der Jargon, in dem der Text geschrieben ist, ist sehr akademisch – was es schwierig und fast schon ein wenig unangenehm macht, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Hier in den USA (Cotten verbringt zum Zeitpunkt des Interviews einen Forschungsaufenthalt auf Hawaii, Anm. der Redaktion) ist dieser akademische Jargon nicht schlecht bewertet; die Universität ist, das erlebe ich auch selbst immer wieder, ein durch und durch befreiender, positiv besetzter Ort, und zwar mit etwas weniger Ironie, als wir in Deutschland die Uni sehen. Solidarität und gemeinsames Arbeiten sind stark. Gerade im Kontext von Menschen aus gesellschaftlich benachteiligten Gruppen hat Bildung einen anderen Flavor, schmeckt nach Emanzipation, während in meinen Kreisen ein Vokabular, das klar und ein wenig performativ ausschließend ein akademisches Publikum adressiert, eher als abtörnend gilt.

Was bedeutet das für Ihre Übersetzung?

Wenn nun ein Buch wie das von Legacy Russell dieses Besteck, dieses Vokabular verwendet, um Beobachtungen aus dem digitalen Untergrund heraus zu operieren, sie in das Licht der Uni und des Diskurses zu stellen, dann finde ich das erst einmal einen sehr spannenden Moment, aber er lässt sich nicht eins zu eins in den deutschsprachigen Raum übertragen. Hingegen können die meisten, die so ein akademisches Buch lesen würden, Englisch und werden es im Original lesen wollen. Insofern merkte ich, dass es hier darum geht, erstens dem Buch im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit zu verschaffen, zweitens, eben die schwierigen Fragen des Vokabulars und der Phraseologie anzugehen – wie spricht man auf Deutsch über die Probleme und Emanzipationen, die in Europa anders gelagert sind als in den USA, aber vielfach bis jetzt mit den Fremdwörtern gehandhabt wurden.

Sie haben sich gegen einen Alleingang entschlossen und sich für die Übersetzung Kolleg*innen ins Boot geholt. Warum?

Es hätte etwas Tristes gehabt, das Buch allein zu übersetzen, und war lustiger, interessanter und vor allem auch sinnvoller, das zu mehrt, im Gespräch zu machen. Schon der Text von Glitch Feminism hat etwas Diskursives an sich. Es geht nicht um die Positionierung einer einzelnen Person, sondern vielmehr um das Netzwerk von Allies und Künstler*innen, die einen Sinn für etwas teilen und verschiedene Flavors von Kritik mitbringen. Im Team konnten wir viel ausprobieren und einander um Einschätzungen und Ideen bitten, etwa bei verschiedenen Phrasen oder beim Gendern.

Beim Gendern? Inwiefern?

Das Gendern haben die einzelnen Übersetzer*innen unterschiedlich gelöst. Ich persönlich nutze gern zum Beispiel das Polnische Gendern: Alle für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende. Das sind dann etwa Pensionistennni, eien Lehrerni, dier Leserni. Ich wende das auf alle an, ob sie wollen oder nicht, um die genderliche Binarität wirklich physisch zu verwischen. Franziska Füchsl hat sich indessen für das Entgendern nach Phettberg entschieden …

Dabei wird für alle Personenbezeichnungen der neutrale Artikel „das“ verwendet, an den Wortstamm wird ein Ypsilon angehängt, aus „der Leser, die Leserin“ wird „das Lesery“ …

Ich bin begeistert von dieser Methode, doch wir merkten, dass sie an Limits stößt. Durch die Verniedlichung, die mit dem angehängten Ypsilon einhergeht, entsteht ein humoristischer Ton, der bei manchen Themen oder Begriffen, etwa beim Opfery, unpassend ist. Das Gute an unserer gemeinsamen Arbeit war, dass wir uns stilistisch aufeinander verlassen konnten und zugleich verschiedene Töne aus dem Original verstärkt wurden. Das eine Kapitel wurde vielleicht etwas melodiöser, das andere dafür wieder straighter, dier eine übersetzte minutiös bis zur Grenze der Pedanterie, dier andere fand elegant eigene Worte, die aber teils fast schon eigene Wege gingen, im Rahmen der Aussage. So entstand ein schönes Spektrum an Möglichem. „A range“, wie Russell oft sagt. Ich dachte mir auch: Unter dem Banner von Glitch können wir die konstruktive Nichtkonsistenz navigieren, und durch den Parallax der Vielstimmigkeit entsteht, aus meiner Sicht, eine tieferdimensionale Stabilität.

Nun sagten Sie, Russells Stil sei sehr akademisch, …

… aber dabei auch sehr bildreich, voller starker Kunstwerke! Beim mehrmaligen Lesen und Übersetzen fällt einem ja auf, welche Wörter eien Autorni wiederholt. Für Legacy Russell hat das Wort „Range“ zum Beispiel eine Art Schlüsselfunktion. Der Begriff fiel besonders auf, weil er schwer zu übersetzen ist: Auslauf klingt nach Stadthunden, Reichweite ist aber allzu stark in der Werbeindustrie verankert, man denkt nicht wie bei Range an Bewegungen über weite Landstriche.

Welche Funktion haben solche Wiederholungen?

Sie dienen als Stichwort, als mnemotechnische Erinnerung und als rhythmische Strukturierung. Sie beziehen sich zurück auf die erste Stelle des Vorkommens. All diese Funktionen sind ganz wichtig, damit ein Text fließt und dien Leserni nicht auf falsche Fährten schickt.

Sie waren also in der Übersetzung nie versucht, den Wiederholungen mit Synonymen beizukommen?

Ein Wort mit mehreren abwechselnd zu übersetzen ist eine schlechte Lösung, zu der man ganz selten und mit großem Zähneknirschen greift, dass man ein Wort einmal so, einmal anders übersetzt. Generell sollte man so einen Unfug mit scheinbaren Synonymen (echte Synonyme gibt es fast nicht) als Übersetzerni tunlichst unterlassen. Das würde ich allerdings unterscheiden vom Prinzip, das wir hier anwandten, bei dem durchaus die verschiedene Übersetzernnni sich für unterschiedliche Übersetzungen entscheiden konnten – und so dann doch eben das, was man Parallax-Synergie nennen könnte, entstand. Russell arbeitet ohnehin sehr rhythmisch, auch was die Kapitellänge und den -verlauf betrifft. Es ist in ihrer Arbeit eine Weisheit, die ein bisschen an die Lyrikerin Amanda Gorman erinnert. Russell verwendet Floskeln und Phrasen bewusst und strategisch. Im Deutschen ist das eher verpönt und dadurch auch eher im Trash-Bereich zu finden. Bei Russell wirken diese Formulierungen wie aus längerer, generationenübergreifender Erfahrung entwickelt. Sie fungieren wie Bausteine oder Mandalas, Meditationsobjekte. Ein Ausdruck entfaltet sich, gerade wenn man ihn immer wieder in unterschiedlichen Kontexten benutzt, in seinen diversen Aspekten. Da steckt eben Weisheit der Praxis drin, anstelle der Idee, die selbst wieder Klischee ist, ein Text müsse vor allem originell sein und müsse sich über die Praxis reduktiv erheben. Dieser Rhythmus zeugt davon, dass „Glitch Feminism“ als Text aus einer Lehr- und Diskurspraxis kommt. Und das ist auch eine Komponente seiner Schönheit.

Kannten Sie Legacy Russell und ihre Positionen eigentlich, bevor Sie sich an die Arbeit machten? 

Nein, ich kannte sie nicht. Mittlerweile habe ich einen Vortrag von ihr besucht. Ihre Intersektionalität zwischen Theorie und Kunst, zwischen mehreren Emanzipationsbewegungen, und nicht zuletzt ihre Bejahung des Unregelmäßigen und des Prekären finde ich sehr anregend, und ich bin gespannt, was sie als nächstes macht.

Die Verknüpfung, die sie herstellt, also zwischen Digitalem und Feminismus, ist ja nicht wirklich neu. Wir kennen bereits Cyber Feminismus …

Aber schon allein das Stichwort Cyber ist ja veraltet. Cybernetics stammt aus den 1950er- und 1960er-Jahren, von Norbert Wiener am Massachusetts Institute for Technology (MIT). Die kalifornische Professorin Donna Harraway hat später den Begriff Cyborg für hybride Körper im Kontext des Feminismus populär gemacht. Eine wichtige Position, weil sie die Künstlichkeit weiblicher Körperbilder betont und gleichzeitig die Natur beziehungsweise den Materialismus bejaht, indem sie diese Hybridität als Normalität, als bewohnbar beschreibt. Legacy Russell spricht mit Glitch Feminism zu einer neuen Generation mit Internet-Erfahrungen, die in unserer Generation fast für jeden Jahrgang andere gewesen sind. Sie fährt ein schnelleres Tempo, gerät so fast weniger theoretisch.

Was, denken Sie, wird von „Glitch Feminism“ bleiben? Was könnte Russells Vermächtnis sein?

Neben der Tatsache, dass der Text auch als eine Art Link-Sammlung dienen kann, gewährt er Außenstehenden einen Einblick in die Szene amerikanischer queerer Netzkunst. Für manche spricht das Buch vielleicht zum ersten Mal in Druckqualität über Erfahrungen, die sie sonst nur mit Freunden, inoffiziell besprochen hatten. Für andere, die sich etwa gar nicht vorstellen können, wie wichtig das Internet für jemanden sein kann, bietet es ein Fenster in einen massiven Teil der gegenwärtigen Wirklichkeit. Aus meiner Sicht ist auch eine von Russells Stärken, dass es ihr gelingt, über Glitch bejahend zu sprechen, ohne dass daraus eine alberne Volte eines überkandidelten Philosophen wird. All das geht nur mit einer Grundierung in wirklicher Erfahrung. Auch deshalb denke ich, dass „Glitch Feminism“ ikonisch bleiben wird für eine flüchtige, glitchige Era im digitalen Umbruch.