Nachruf auf René Pollesch Ja, nichts ist okay
René Pollesch war nicht nur ein erstaunlicher Künstler, er war ein außergewöhnlich empathiefähiger Mensch. Der nicht immer freundlichen Theaterwelt wird der nun verstorbene Volksbühnen-Intendant deshalb für weit mehr als zahllose unterhaltsame wie geistreiche Stücke in Erinnerung bleiben.
Von Peter LaudenbachDie Premiere von René Polleschs letzter Inszenierung an der Berliner Volksbühne, ein sehr ratloses, pessimistisches Solo von und mit Fabian Hinrichs, liegt gerade mal zwei Wochen zurück. Der Stücktitel war eine dieser typischen Pollesch-Parolen, die schnell und unvergesslich wie Popsongs, oft komisch und mindestens doppelbödig eine Zeitstimmung, einen verblüffenden Gedanken oder einen persönlichen Zustand, und am besten alles auf einmal, auf den Punkt bringen: „Ja nichts ist ok.“ Das bekommt jetzt mit René Polleschs plötzlichem Tod eine sehr bittere Note: Wie die Volksbühne, die Pollesch seit gut zwei Jahren als Intendant geleitet hat, bekannt gegeben hat, ist der Regisseur völlig unerwartet am Montagmorgen (den 26.2.2024) im Alter von 61 Jahren gestorben. Das ist ein tiefer, trauriger Einschnitt, nicht nur für die Volksbühne und für Berlin.
René Pollesch hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten mit verblüffender Leichtigkeit und innerer Unabhängigkeit vorgeführt, dass Theater gleichzeitig extrem unterhaltsam und auf der Höhe avancierter soziologischer Debatten sein kann. Das war schauspielerisch virtuos, umwerfend lässig, fast immer überraschend und nie langweilig, schon weil in Polleschs Stücken pro Minute mehr interessante Gedanken aufblitzten als woanders in der ganzen Spielzeit: Kapitalismuskritik mit Spaß und Entertainment-Raffinesse wie im besseren Boulevardtheater, am besten mit Musik von den Beach Boys oder Sinatras „Fly Me to the Moon“, dazu gelegentliche Verwünschungen der Heteronormativität oder Spott über das „Zuhause-Büro“, Jahrzehnte bevor irgendjemand vom Home-Office geredet hat. Logisch, dass nicht wenige Theaterbesucher ausschließlich in Polleschs Inszenierungen gegangen sind, das aber am besten mehrmals – es war sicherlich nicht das schlechteste Theaterprogramm.
Als René Pollesch in den 80er-Jahren in Gießen angewandte Theaterwissenschaft studiert und etwa ein neues Stück pro Woche geschrieben und mit seinen Kommilitonen inszeniert hat, nannte er eine dieser Produktionen völlig zu Recht: „Ich schneide schneller.“ Das war keine Übertreibung: In den vergangenen drei Jahrzehnten hat Pollesch etwa 200 Stücke geschrieben und inszeniert, und sehr viele davon sind genauso toll, wie es ihre Titel versprechen: „Tod eines Praktikanten“, „Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen“ oder „Mädchen in Uniform – Wege aus der Selbstverwirklichung“. Am schönsten ist ein Stücktitel, der wie die Antwort auf die Frage klingt, was dabei herauskommt, wenn sich Humphrey Bogart und Adorno gute Nacht sagen: „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“
In gewisser Weise war Polleschs gesamte künstlerische Praxis genau das, was der Titel seines Studiengangs versprochen hatte: Angewandte Theaterwissenschaft, ein Nachdenken über das Theater, auch die Lügen des Theaters, im Medium des Theaters. Das gilt zum Beispiel, wenn er sich über Tiefsinnskitsch, das Baden im Sentiment oder die Behauptung „echter“ Gefühle auf der Bühne lustig gemacht, „authentische Kühe“ verhöhnt und auf reiner Immanenz bestanden hat: Im Theater gibt es nur die Oberfläche, genau wie im Pop oder bei Andy Warhol, ein Gesicht auf der Bühne ist kein Spiegel irgendeiner Seele, sondern ein Display, ein Interface, eine Mensch-Gesellschaft-Schnittstelle.
Von Pollesch konnte man viel lernen, etwa über Selbstverwirklichung als Gegenteil von Freiheit
Wenn der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren eine „Gesellschaft der Singularitäten“ diagnostiziert hat, in der die Selbstinszenierung als besonders individualistische Persönlichkeit keine Geste des Nonkonformismus, sondern schlicht das Befolgen eines gesellschaftlichen Imperativs und ein Wettbewerbsvorteil zum Beispiel in der Karrierekonkurrenz bedeutet, kannten Pollesch-Fans diesen Gedanken schon aus seinen Inszenierungen der frühen 2000er-Jahre. Auch deshalb hat der Pollesch-Verehrer Diedrich Diederichsen den Regisseur vor einigen Jahren völlig zu Recht dafür gefeiert, dass er „das erste künstlerische Programm entwickelt hat, welches der neuen Zeit entsprach“, also einem modernen Kapitalismus, in dem auch das Gefühlsleben und die Subjektivität zur Marktressource werden.
Und weil Pollesch oft nur eine gute Pointe brauchte, um sich darüber lustig zu machen, wie sich die Menschen selbst zur Ware machen, bekennt sich in einem seiner frühen Volksbühnen-Stücke jemand in einem schön abgründigen Satz zur geglückten Schönheitsoperation: „Ich habe mich für die Bedürfnisse des Marktes zurechtgeschnitten.“ Das formuliert nebenbei exakt das Gegenteil von Polleschs Programm: Es geht nicht um Markterfolg, erst recht nicht um Status, sondern um Austausch. Deshalb ist die Souffleuse so wichtig wie der Hauptdarsteller (früher kam sie oft zum Applaus auf die Bühne). Und der Regisseur ist sicher nicht der Bühnenherrscher, der den eigenen Geniekult zelebriert. Sein eigenes Rollenverständnis formuliert Pollesch so: „Ich bin der Dienstleister von Sophie Rois.“
Auch wenn er von Wien bis Hamburg, von München bis Zürich an so ziemlich allen großen Bühnen inszeniert hat, war die Berliner Volksbühne seit Beginn der 2000er-Jahre Polleschs künstlerische Heimat. Als der Bühnenbildner Bert Neumann und die Dramaturgin Aenne Quiñones ihn 2001 an das Haus holten, wirkte er wie ein faszinierender Fremdkörper im Castorf-Kosmos: queerer Theorie-Pop, unverkennbar westdeutsch sozialisiert und offen schwul – das war so ziemlich das Gegenteil von Castorfs Anarcho-Theater mit leichtem Hang zum Stalinismus und den Schauspielerinnen in High Heels und Strapsen.
Pollesch hat lieber die eigene Wirklichkeit zum Thema gemacht, klug, eigenwillig und subversiv
Und genau wegen dieses Kontrasts hat es funktioniert. An keinem anderen Theater wäre damals Polleschs ziemlich radikale Demontage tradierter Theaterregeln möglich gewesen, zum Beispiel die Polemik gegen ein naturalistisches Repräsentations- und Einfühlungstheater, in dem Staatstheaterschauspieler Obdachlose oder Geflüchtete spielen. Pollesch hat lieber die eigene Wirklichkeit zum Thema gemacht, das aber so klug, eigenwillig und subversiv, dass die Dialoge einer Liebesbeziehung nur einen Wimpernschlag von der Kritik an Besitzverhältnissen – und zwar allen Besitzverhältnissen – entfernt war. Dass er die durch schwere Krisen taumelnde Volksbühne 2021 als Intendant übernommen hat, war ein sehr selbstloser Akt der Solidarität mit diesem besonderen Theater.Wie alle bedeutenden Theaterautoren und Regisseure hat Pollesch eine eigene Form von Theater entwickelt. Das ist mehr als ein Stil, es ist auch eine eigene Arbeitsweise – und in Polleschs Fall offenbar eine extrem nicht-, ja antihierarchische Arbeitsweise. Weil die Schauspieler, mit denen und für die er seine Stücke geschrieben hat – Sophie Rois oder Christine Groß, Fabian Hinrichs, Kathrin Angerer, Inga Busch, Volker Spengler oder Martin Wuttke – keine Bühnen-Dienstleister, sondern mindestens Co-Autoren waren, erlaubte er zum Beispiel in der Regel nicht, dass andere Regisseure seine Texte mit anderen Darstellern nachinszenierten.
Theater sind nicht immer freundliche Orte. René Pollesch war nicht nur ein erstaunlicher Künstler, er war ein außergewöhnlich freundlicher, empathiefähiger, gleichzeitig zurückhaltender und herzlicher Mensch. Auch das gehört zum großen Geschenk, das er dem Theater gemacht hat.
Dieser Nachruf erschien erstmalig in der Süddeutschen Zeitung.