Inspirador Wie Belgrad die Eingliederung von benachteiligten Gruppen fördert
Wie viele andere Städte hat auch Belgrad mit der Segregation vorurteilsbehafteter ethnischer Gruppen zu kämpfen, was wiederum zu einer „Ghettoisierung“ des urbanen Raums führt. Aber wie kann die Integration einer Schule mit dem Stadtteil zu einer Lösung beitragen?
Der Inspirador ist ein Projekt, mit dem Ziel, nachhaltige Städte neuzudenken, indem es inspirierende Beispiele aus mehr als 32 Orten auf der ganzen Welt identifizierte und präsentierte. Die Forschung systematisiert die Fälle und Ideen in verschiedene Kategorien, gekennzeichnet durch Hashtags.
#raum_demokratisieren
Die Verfügbarkeit hochwertiger öffentlicher Räume in Verbindung mit erschwinglichem Wohnraum und dem Zugang zu wichtigen städtischen Dienstleistungen für alle sind zentrale Aspekte für ein gutes und qualitativ hochwertiges urbanes Leben. Städte, die verstanden haben, dass das Recht auf ein Zuhause ein Grundrecht ist, setzen sich für die Demokratisierung des Zugangs zu Wohnraum ein und inspirieren damit andere Orte auf der ganzen Welt. Darüber hinaus fördert die Bereitstellung öffentlicher Räume die Klimagerechtigkeit, schafft Umweltbewusstsein, wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus und kurbelt die lokale Wirtschaft an.
In einem Viertel am Stadtrand von Belgrad, weit entfernt vom herausgeputzten Zentrum, kam es im Laufe der Zeit zu einer Segregation der Kinder nach ethnischer Herkunft an einer örtlichen Schule – nicht aufgrund von gesetzlichen Vorschriften, sondern auf Betreiben der Eltern. Jene Eltern, die sich mit der kulturellen Norm der „weißen, christlich-orthodoxen“ serbischen Gesellschaft identifizieren, schickten ihre Kinder auf Schulen in anderen Stadtteilen. Die örtliche Grundschule entwickelte sich so zu einem ethnisch segregierten Raum, wie ein Blick auf die Schulstatistiken zeigt. Als Antwort darauf gründete 2016 eine Gruppe ehemaliger Kolleg*innen der Architekturfakultät zusammen mit Mitstreiter*innen aus den Bereichen Psychologie, Kunst, Philosophie und Soziologie das Kollektiv Skograd (ein Wortspiel aus den serbischen Wörtern für Schule und Stadt).
Inklusion als Herausforderung
„Da ich selbst hier zur Schule gegangen und in diesem Viertel aufgewachsen bin, wollte ich unbedingt etwas dagegen unternehmen“, erzählt Predrag Milic, ein Aktivist und Forscher aus Belgrad und Mitbegründer der Gruppe Skograd. „Wir haben Skograd als eine Art Antwort auf die wachsende soziale Ungleichheit in diesem benachteiligten Vorstadtviertel gegründet. Wir wollten etwas tun, um dem Trend entgegenzuwirken, dass Kinder auf andere Schulen geschickt werden, um diese Schule zu retten und die Schülerschaft zu diversifizieren“, sagt Predrag.Skograd begann eine Zusammenarbeit mit der örtlichen Grundschule, um außerschulische Programme zu entwickeln, die Kindern mit unterschiedlichem Hintergrund die Möglichkeit boten, sich in einem offenen und öffentlichen Raum zu treffen – in der Hoffnung, dass sie am Ende vielleicht dieselbe Schule besuchen würden. Aufgrund elterlicher Entscheidungen wurden diese Kinder nämlich systematisch voneinander getrennt, obwohl sie in unmittelbarer Nachbarschaft leben.
„Alles fing ganz organisch mit dieser Idee an, aber im Laufe der letzten sechs Jahre haben wir uns zu einem funktionierenden, partizipativen, aktionsbasierten Forschungskollektiv mit etwa acht Mitgliedern entwickelt, die einen Austausch zwischen einer viel größeren Gemeinschaft fördern“, sagt Predrag. Die Idee dahinter besteht darin, allmählich strukturelle Veränderungen herbeizuführen, um die Reproduktion dieser Art von Dynamiken in der serbischen Gesellschaft zu verhindern, und andererseits kontinuierlich außerschulische Programme im öffentlichen Raum des Viertels zu organisieren und dabei eng mit der lokalen Gemeinschaft und der örtlichen Grundschule zusammenzuarbeiten.
Eine Strategie, um die Schule für die Nachbarschaft zu öffnen
Der offene und öffentliche Raum des Schulhofs dient als zentraler Ort für die verschiedenen Aktivitäten. Zu Beginn kamen nur wenige der Mitglieder von Skograd selbst aus dem Viertel und wurden somit als Einheimische wahrgenommen. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, traf die Gruppe ganz bewusst die Entscheidung, direkt mit den Kindern zu arbeiten. Dazu Predrag: „Wir wussten, dass wir als Gruppe diese Art von Rassenhass, die im Zuge der Konflikte auf dem Balkan entstanden ist, nicht lösen können. Wir wollten daher mit Kindern arbeiten, die sich das alles nicht ausgesucht haben, sondern die mit den Folgen dieser neuen Dynamik in unserer Gesellschaft konfrontiert sind.“Bei den von Predrag erwähnten Konflikten handelt es sich um eine Reihe separater, aber miteinander verbundener ethnischer Konflikte, Unabhängigkeitskriege und Aufstände, die zwischen 1991 und 2001 im ehemaligen Jugoslawien tobten und zum Zerfall des Landes in sieben unabhängige und ethnisch homogenere Staaten führten. Zwar wurden die meisten dieser Konflikte durch Friedensabkommen beendet, die die volle internationale Anerkennung der neuen Staaten beinhalteten, doch führten sie zu neuen nationalen Identitäten, die im Laufe der Zeit an Bedeutung gewannen. Predrag beschreibt es so: „Kinder aus weißen, orthodoxen serbischen Familien gelten als die ‚unseren‘, während Kinder aus Familien, die aus dieser neu etablierten kulturellen Norm der serbischen Gesellschaft herausfallen, zu den ‚anderen‘ gezählt werden“. In Serbien und den anderen Ländern, die aus diesen Konflikten hervorgegangen sind, werden Menschen, die ihre Heimat aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verlassen mussten und umgesiedelt wurden, noch immer aufgrund ihrer Herkunft gesellschaftlich ausgegrenzt.
Um die Kinder in diesem Stadtteil zu erreichen, hat Skograd eine sogenannte „nächtliche Überraschungsaktion“ organisiert. „Wir haben unsere erste Aktion mit unserem Taschengeld finanziert und bunte Kreide gekauft“, sagt Predrag. Eines Nachts, zwischen 3 und 6 Uhr, während die ganze Nachbarschaft schlief, gingen sie in einer geplanten taktischen Aktion los, um das Viertel zu bemalen und bunte Kreide zu verteilen. Dabei hinterließen sie keine Spuren, die auf ihre Identität hindeuteten. Als sie am nächsten Morgen durch die Gegend liefen, stellten sie fest, dass die Aktion ein voller Erfolg war: Kinder nutzten den öffentlichen Raum, interagierten miteinander rund um die Zeichnungen und die Kreide und rätselten darüber, wer hinter dem Ganzen steckte. „Das war ein schöner Einstieg für uns. Als Nächstes stellten wir uns in der örtlichen Schule vor, und von diesem Moment an entwickelte sich unsere Beziehung enorm und wir erkannten uns gegenseitig als eine Art Partner*innen und auch als Nachbar*innen“, erzählt Predrag.
Wandel findet statt – eine soziale Infrastruktur der Hoffnung
Nach der „nächtlichen Überraschungsaktion“ fing Skograd an, den Schulhof gemeinsam mit den Anwohner*innen zu nutzen und ihn für die Nachbarschaft zu öffnen. Dabei wurden auch einige Kinder mit einbezogen, die vom Schulsystem völlig ausgeschlossen waren, weil ihre Familien versucht hatten, nach Westeuropa auszuwandern und zurückgeschickt wurden. Dadurch standen sie abseits aller formalen Bildungssysteme. Skograd organisierte Aktionen im Namen der Schule und versuchte, das „Ghetto“-Image zu verändern und ein positives Bild der Schule und ihrer Schüler*innen als Wegbereiter*innen des Wandels zu zeichnen.Dies hat sich in den letzten fünf Jahren weiterentwickelt, so dass Skograd nun regelmäßig eine Sommerschule organisiert, in der die Kinder des Viertels gemeinsam daran arbeiten können, die Schule und ihre Umgebung zu verbessern. „Heute sind wir Mitgestaltende dieser sozialen Infrastruktur der Hoffnung“. Dadurch konnte die Schule vor der Schließung bewahrt werden, die drohte, weil eine ethnisch getrennte Schule vom serbischen Rechtssystem nicht wirklich anerkannt wird. „Andererseits haben wir so private und auch staatliche Investitionen in die Schule angestoßen“, so Predrag.
Das Unerwartete ist immer präsent – der Schlüssel liegt in der Kommunikation
Die Wahl der Schule als Wirkungsstätte für das Projekt hatte sowohl emotionale als auch praktische Gründe. Die örtliche Schule ist die einzige öffentliche und kulturelle Einrichtung in diesem Viertel, in dem rund 12.000 Menschen leben. „Wir sind davon ausgegangen, dass wir durch den Erhalt dieses letzten Horts öffentlicher Dienstleistungen und kultureller Produktion in diesem Stadtteil die Grundlage für ein Zusammenleben auf der Basis von Unterschieden schaffen können, als Alternative zu der Idee eines Zusammenlebens auf der Basis von Gleichheit“, sagt Predrag.Das ist zweifelsohne der Fall, aber laut Skograd war der Weg dorthin durch einen Prozess des Ausprobierens und Fehlermachens gekennzeichnet. Die Gruppe rät dazu, gemeinsam über unerwartete und überraschende Situationen nachzudenken. Diese Art von Projektarbeit erfordert viel Kommunikation, sowohl intern als auch extern, und sie verlangt einerseits eine gewisse Sensibilität, andererseits aber auch die Bereitschaft, bei der Kommunikation über das eigene Vokabular und die eigene Art, die Dinge zu formulieren, hinauszugehen. Skograd muss sowohl mit Anwohner*innen verhandeln, die keine formale Bildung haben und Analphabeten sind, als auch mit transeuropäischen Projekten, die Ressourcen für diese Art von Arbeit zur Verfügung stellen, sowie mit einer Gruppe von internationalen Fachleuten und deren speziellen Anforderungen und Erwartungen. Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Arbeit mit marginalisierten Gruppen und öffentlichen Institutionen ist die Tatsache, dass die Leitung dieser Einrichtungen eine sehr wichtige Rolle spielt.
„Auch die Suche nach externen Impulsen ist sehr hilfreich“, sagt Predrag. „Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Belgrad eine Veranstaltung organisiert, bei der wir externe Fachleute dazu eingeladen haben, sich in unsere Lage zu versetzen und einige der von uns zu bewältigenden Herausforderungen mit uns zu diskutieren.“ Diese Veranstaltung fand in der Zentrale des Belgrader Goethe-Instituts im Stadtzentrum statt und erreichte somit ein völlig neues Publikum, was der Gruppe die Möglichkeit bot, ihre kollektiven Lernprozesse durch Debatten und Diskussionen zu erweitern.
Für alle, die sich von Skograds Methoden inspirieren lassen wollen, hat die Gruppe folgende Ratschläge parat: Um auf Ausgrenzung zu reagieren, sollte man dort anfangen, wo man sich selbst befindet und sich mit der eigenen Position in der Welt auseinandersetzen. Fangt an, euch damit zu befassen und entwickelt lokale Aktionen. Die Mitglieder bauen derzeit ein Aktionsforschungszentrum auf und sind gerne bereit, mit anderen in Kontakt zu treten, um Ideen für die direkte Unterstützung ihrer Arbeit zu besprechen, Erfahrungen auszutauschen oder anderweitig gemeinsam tätig zu werden. Worauf wartet ihr noch?
In dieser Reihe geht es um:
Das Projekt „Inspirador für mögliche Städte“ von Laura Sobral und Jonaya de Castro zielt darauf ab, Erfahrungswerte aus Bürger*inneninitiativen, akademischen Kontexten und politischen Maßnahmen zu identifizieren, die sich an Transformationsprozessen hin zu nachhaltigeren, kooperativeren Städten beteiligen. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Lebensweise und unsere Konsumgewohnheiten die Auslöser der Klimakrise sind bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Mitverantwortung einzugestehen. Grüne, geplante Städte mit autonomer Nahrungsmittelversorgung und einer Abwasserentsorgung auf Grundlage natürlicher Infrastrukturen können ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Vorstellungswelt sein, die für diesen Wandel notwendig ist. In dem Projekt werden öffentliche Maßnahmen und Gruppeninitiativen aus der ganzen Welt vorgestellt, die auf die Möglichkeit anderer Lebensweisen aufmerksam machen.
Das Projekt systematisiert inspirierende Fälle und Ideen in den folgenden Kategorien:
#entwicklung_neudefinieren, #raum_demokratisieren,
#ressourcen_(re)generieren, #zusammenarbeit_intensivieren,
#politische_vorstellungskraft