Diskriminierende Sprachbilder Rabenmutter
Kolkraben (Corvus corax): Alle Jungvögel der Brut sind ausgeflogen und warten auf einem Felsen oberhalb einer Dreizehenmöwenkolonie auf die Altvögel mit Nahrung. | Foto (Detail): D.Harms © picture alliance / WILDLIFE
In der Tierwelt gibt es keine guten oder schlechten Eltern und doch hat sich in der deutschen Sprache der Begriff der „Rabenmutter“ festgesetzt, der Frauen als schlechte Mütter brandmarkt. Elisabeth Wellershaus durchleuchtet Sprachbilder, in denen Eltern symbolisch für ein eurozentrisches Denken stehen.
Nach Monaten im Lockdown, im Homeoffice und im Homeschooling, erzählen mir Freund*innen und Bekannte, sie hätten die heimische Fauna wiederentdeckt. Sie erzählen, wie viel sie an langen Tagen ohne menschliche Kontakte über Vögel gelernt haben, die sie im Park, auf dem Balkon oder vorm Fenster beobachtet haben. Ringeltauben, Meisen, flötende Amseln, laut schakkernde Elstern. Doch egal, wie intensiv sie und andere sich mit den Tieren beschäftigen: Manche Mythen aus der Vogelwelt halten sich hartnäckig. Einer davon ist ein interessantes Missverständnis. Es heißt, Rabenmütter seien schlechte Eltern. Und das Sprachbild, das sich in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft daraus entwickelt hat, beschreibt bis heute Frauen, die sich angeblich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern.Junge Raben verlassen früh das Nest – das stimmt schon. Aber nicht, weil ihre Mütter sie herzlos rausschmeißen. Vielmehr kümmern Rabenmütter sich weiterhin umsichtig um den Nachwuchs, auch wenn dieser das Nest bereits verlassen hat. Sie beschützen die Jungvögel, lassen ihnen dabei jedoch den Raum, sich auszuprobieren und ihre Umgebung zu erkunden. Zudem ist die Rabenmutter an Gleichberechtigung interessiert: Zusammen mit ihrem Vogelpartner sorgt sie dafür, dass die Jungen von beiden Eltern versorgt werden.
Dass schwarze Vögelweibchen missverstanden werden, ist das eine. Aber auch in anderen Fällen kommt die Figur der Mutter nicht unbedingt gut weg. Rabenmutter, böse Stiefmutter, Puffmutter. Besonders unzeitgemäß erscheinen mir Wörter, in denen Eltern als Symbolfiguren für die Aufrechterhaltung einer paternalistischen Weltsicht herhalten müssen. So wie im abgenutzten Begriff Mutterland, das die perfiden Strukturen kolonialer Herrschaftsverhältnisse beschreibt.
Mein Vater ist auf der Insel Bioko in Äquatorialguinea geboren und aufgewachsen. Er war auf einer Jesuitenschule, hat einen christlichen Vornamen und sang die spanische Nationalhymne, wann immer ein Mitglied der Kolonialregierung vorbeikam, um sich über Lernstand und Fortschritt der kolonisierten „Schützlinge“ zu informieren. Als Äquatorialguinea 1968 die Unabhängigkeit erlangte, lebte er bereits im sogenannten „Mutterland“ – in Spanien. Die Dikussionen darüber, ob der Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hatte, „bereit“ war, um sich von der europäischen Übermutter zu lösen und sich selbst zu regieren, bekam er nur noch aus der Ferne mit.
Als auch der spanischen Regierung klar wurde, dass ihre Zeit in Zentralafrika endete, schwenkte sie auf das Konzept „Rabenmutter“ um: Sie zog sich vornehm zurück und versuchte, aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen. Doch was bei den Raben ein über Jahrmillionen gewachsener und bewährter Prozess war, ging mit der Machtübernahme des ersten guineanischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit gründlich schief. Unter der Regierung von Francisco Macías Nguema wurden etliche Menschen der Bubi‑Ethnie ermordet, zu der auch meine Familie gehört. Regimekritiker*innen flohen nach Europa, andere wurden verhaftet oder ebenfalls getötet. Auch Spanier*innen verließen in Scharen das Land, nachem der Präsident anti‑spanische Ressentiments geschürt und den Abzug der Guardia Civil durchgesetzt hatte. Das Mutterland zog sich notgedrungen auf den eigenen Kontinent zurück.
Auch in der gegenwärtigen Welt hat die Mutter in nationalen Kontexten zuweilen eine komplizierte Rolle. Ich meine nicht den sachlich‑pragmatischen Typ Merkel, die als „Mutti“ ein Regime der latenten Abhängigkeit geschaffen hat, weil ohne sie nichts läuft. Ich meine eher den fordernden Typ: eine Muttersprache, die von ihren Landeskindern erwartet, dass sie die einzig entscheidende ist, obwohl eine vielsprachige Diversität längst gesellschaftliche Realität ist.
Ob Muttersprache oder Vaterland – längst stoßen Begrifflichkeiten wie diese an ihre Grenzen. Und wenn wir im Sprachbild bleiben wollen: Beide Elternteile verletzten so in unserer international vernetzten Welt ihre Fürsorgepflicht.
Ganz konkret etwa im Falle von Michael Samir Al Ayash. Die Geschichte des Hamburgers ging 2008 durch die deutschen Medien. Al Ayash wurde am 1. Juli 1974 in Hamburg geboren und ist dort aufgewachsen. 2002 reiste er nach einem Aufenthalt im Irak zurück nach Deutschland, und ein Staatsangehörigkeitschaos begann. Zwar hatte er den Großteil seines Lebens in Deutschand verbracht, war hier zu Schule gegangen, sozialisiert, seine Mutter war Deutsche. Doch bis Januar 1975 galt ein Gesetz aus der Kaiserzeit, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, welches festlegte, dass nur Väter die deutsche Staatsbürgerschaft vererben konnten. Und Al Ayashs Vater war Iraker. Nach seiner Rückkehr sollte der junge Mann nach Bagdad abgeschoben werden. Nur auf Druck der Medien handelten die Politiker*innen. Ein Vorschlag zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes wurde vom Bundesinnenministerium als „nicht notwendig“ abgelehnt, obwohl noch Tausende andere Menschen betroffen waren. Die halbherzige Lösung für Al Ayash: Nach mehreren Asylanträgen wurde ihm schließlich Asyl gewährt.
Auch ich bin 1974 in Hamburg geboren und dort aufgewachsen. Und wenn meine Mutter nicht als einziger Elternteil in meiner Geburtsukunde gestanden hätte, wären der deutsche Pass, mit dem ich seit Jahrzehnten reise, und mein Selbstverständnis als Schwarze Deutsche keine Selbstverständlichkeit gewesen.
„Sehen sie sich selbst als Afrikanerin“, wird die britisch‑rhodesische Schriftstellerin Alexandra Fuller bei ihren Lesungen regelmäßig gefragt. Meistens, so schreibt sie in Leaving Before the Rains Come, antworte sie darauf mit einem unterhaltsamen Satz über biologisch‑geografische Unfälle. Sie ist die Tochter weißer Siedler*innen, die im Bürgerkrieg im ehemaligen Rhodesien auf britischer Seite kämpften.
Bei einer Lesung hat sie einmal überlegt, den ehemaligen Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki, zu zitieren. In seiner berühmten Rede „I am an African“ spricht er darüber, dass man am selben Ort Fremde*r und Vertraute*r sein kann. Doch sie ließ es sein. Denn Fullers Verhältnis zum Kontinent bleibt in der Gemengelage der eigenen Kolonialvergangenheit und der reflektierten Gegenwart als weiße Afrikanerin komplizierter. Anders als bei Al Ayash, der als Man of Colour um seine rechtliche Zugehörigkeit kämpfen musste, geht es in ihrem Fall „nur“ um gefühlte Zugehörigkeit. Und doch beschreiben beide Biografien, wie kompliziert und fragil das Konzept Belonging tatsächlich ist.
Vielleicht würde es helfen, wenn die Rabenmutter anstelle der „Mutter der Nation“ Einzug ins transnationale Denken fände? Als symbolische Stütze und Erinnerung daran, dass durch starre Grenzen keine Zugehörigkeit geschaffen wird. Dass Zugehörigkeitsgefühle sich ohnehin längst jenseits nationalstaatlicher Konzepte und monolingualer Kulturleitbilder entwickeln. Dass alte Zuordnungen nicht mehr greifen und es Zeit ist loszulassen.
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