Rosinenpicker
Üble Hinterlassenschaften

Eine Bananenkiste mit unbekanntem Inhalt ist das Einzige, was Lukas Bärfuss von seinem Vater geerbt hat. Anhand seiner Familiengeschichte denkt er allgemein über vererbte Ungerechtigkeit nach – und wie sie sich beseitigen ließe.

Von Holger Moos

Bärfuss: Vaters Kiste © © Rowohlt Bärfuss: Vaters Kiste © Rowohlt
Zunächst traut sich Lukas Bärfuss nicht, in diese alte Kiste hineinzuschauen, die ihn seit 25 Jahren begleitet. Jetzt möchte er aber aufräumen, entrümpeln. Kurz denkt er an die unheilvolle Büchse der Pandora, beschließt dann jedoch, dass antike Mythen „nicht behilflich sein würden und Aberglaube lächerlich und unvernünftig war“. Tatsächlich ist die schmutzige und muffig riechende Kiste gefüllt mit üblen Hinterlassenschaften: Es sind Rechnungen, Schuldscheine, Schreiben von Fürsorgeämtern, Gerichten und Justizvollzugsorganen. Denn: Sein Vater war das schwarze Schaf der Familie, saß im Knast und lebte am Ende seines Lebens auf der Straße, wo er auch starb.

Dem Schweizer Autor sind derartige Dokumente nicht fremd. Er selbst kannte in jungen Jahren prekäre Verhältnisse und befand sich „am Rande dieser Gesellschaft, was mich nicht grundsätzlich störte“. Auch er war zeitweise obdachlos und wusste, dass ein Malheur, eine kleine Unachtsamkeit genügt hätte, und er hätte sich „unrettbar verheddert, wäre im Bau gelandet“.

Herkunftswahnsinn

In seinem neuen Buch Vaters Kiste geht Bärfuss über das Persönliche weit hinaus. Seine Vatergeschichte wird zu einem frei mäandernden Essay. Er stellt unseren „Herkunftswahnsinn“ zur Disposition und geht bis zum Alten Testament, ja bis zur Erfindung der Schrift zurück, um sich und uns zu fragen: „Was war so verlockend daran, die Macht über andere Menschen, und damit die Gewalt, die man gegen sie ausübte, durch die Herkunft zu erklären, zu rechtfertigen, zu entschuldigen?“

Bärfuss betrachtet die gesellschaftlichen Konstrukte von Herkunft und Identität kritisch. Deren schlimmstes Beispiel ist für ihn der Germanenkult der Nazis gewesen. Der Mythos der Germanen sei genau das: ein Mythos, eine behauptete Wahrheit, die auf Julius Cäsars Schrift über den Gallischen Krieg zurückgeht, tatsächlich jedoch eine Erfindung war. Das erinnert an das ideologiekritische Konzept der erfundenen Tradition der Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger.

Im weiteren Verlauf des Buches setzt sich Bärfuss mit seinen Lektüreerfahrungen auseinander. Er stellt fest, dass viele der von ihm gelesenen Bücher lediglich „Zeugnisse für die herrschenden Verhältnisse“ sind, „geformt nach dem Geschmack der Zeit“. Neben der Bibel betrachtet er Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten als das wirkmächtigste für die Entstehung der westlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Dieses Buch sei zwar „eine Sammlung von Beweisen“, doch erzählerisch so konstruiert, dass es seine Zeitgenoss*innen verstehen konnten. Der Anschaulichkeit wegen stellt Darwin die Natur als Königreich dar, woraus sich dynastisches Denken und der Kampf ums Überleben ableiten. Jede Entscheidung für eine Erzählform erzeuge jedoch blinde Flecken, fokussiere und verenge den Blick: Darwin „beschreibt nicht den Zusammenhang, und wenn, dann in den Parametern Selektionsdruck, Vernichtung und Vermehrung. Kooperation kommt nicht vor, eine Wissenschaft der Zusammenarbeit hat er nicht entwickelt.“

Verrückt oder gefährlich

Die Stärke von Vaters Kiste ist das Hinterfragen von scheinbar Nicht-Hinterfragbarem. Privateigentum etwa werde von uns als gottgegeben hingenommen, obwohl es nur eine Idee sei, nämlich ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Dingen und Menschen, „und jede Beziehung verändert sich mit der Zeit“. Eigentum und Erbrecht hängen zusammen, „Eigentum ist zu einem großen Teil unverdient“, denn es wird vererbt. Und auch die Regelungen des Erbens ließen sich verändern. Bärfuss' Schlussfolgerung lautet: „Wir brauchen eine andere Grammatik und andere Begriffe für Familie, für Herkunft, aber vor allem brauchen wir ein anderes Erbrecht“.

Viele Erkenntnisse von Bärfuss' sind nicht neu, aber sein Büchlein ist anregend und leidenschaftlich geschrieben. Er formuliert klassenkämpferische Forderungen, etwa nach mehr „Demokratie in den Produktionsverhältnissen“. Doch ihm ist klar, dass jemand, der heute, nach dem Ende des Kommunismus, das Privateigentum kritisiert, „als verrückt oder gefährlich“ gilt. Daher ist er schließlich wieder bei Darwin und hofft eher auf Evolution als Revolution. Vielleicht lasse sich die Dominanz des Privateigentums ja in einem langsamen Prozess brechen, indem man die Idee des Gemeinguts stärke. Die Genossenschaft sei zum Beispiel ein bereits existierendes gutes Modell für eine etwas gerechtere Welt, in der Privateigentum mehr und mehr in Gemeingüter überführt werde.

Am Ende der Lektüre bleibt bei allem Wort- und Gedankenreichtum ein trauriger Rest – die Kluft zwischen der Wirklichkeit und der Sprache, mit der über sie gesprochen und geschrieben wird. Das weiß auch Bärfuss: „Es gibt die Wirklichkeit, und es gibt die Sprache, und wie das eine vom anderen unterschieden ist, das bleibt ganz grässlich ungewiss.“
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben
Hamburg: Rowohlt, 2022. 96 S.
ISBN: 978-3-498-00341-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Top