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Projektauftakt in Brüssel

Zwei Personen sitzen am Bahnhof von Bruxelles-Nord
Zwei Personen sitzen am Bahnhof von Bruxelles-Nord | © James Cridland/flickr

Das Großprojekt Freiraum möchte Europa wieder mit sich selbst ins Gespräch bringen. Zu diesem Zweck entwickeln 42 Goethe-Institute zusammen mit Partnern aus Kultur und Zivilgesellschaft in einem ersten Schritt eine Frage. Eine Frage, die ihren Standort betrifft und die ein Problem aufgreift, das sich hier im Zusammenhang mit der Freiheit stellt. In Brüssel hat dieses Fragen-Finden bereits stattgefunden. Ein Workshop und eine Versammlung wurden dabei zu einem vielstimmigen Beteiligungsprozess. Ein Besuch.

Von Uwe Rada

„Europa ist in keiner guten Verfassung“, sagt Cristina Nord, „es läuft etwas schief.“ In Ungarn und Polen werde die Medienfreiheit eingeschränkt, in den baltischen Staaten haben viele Menschen Angst vor Russland. Schief laufe es auch in Griechenland, wo es für viele Menschen darauf ankomme, „Arbeitslosigkeit zu überleben“. Selbst in westeuropäischen Ländern seien die Herausforderungen riesig, wie die wachsende Zustimmung für Rechtspopulisten zeige. „Offene Gesellschaften sind mit verschiedenen Vorstellungen von Freiheit konfrontiert.“

Freiheit ist für Cristina Nord, die beim Goethe-Institut in Brüssel das Kulturprogramm Südwesteuropa leitet, ein Schlüsselbegriff. Und um Freiheit geht es auch bei einem Großprojekt von 42 Goethe-Instituten in ganz Europa, das im Herbst 2017 gestartet hat und bis 2019 dauern wird: Freiraum heißt das europäische Projekt, bei dem die beteiligten Institute nicht nur mit Partnern in ihrer Stadt oder Region zusammenarbeiten werden, mit NGOs, Kunstzentren, zivilgesellschaftlichen Initiativen. Sie haben auch grenzüberschreitende Tandems gebildet – immer zwei Goethe-Institute mit ihren jeweiligen Partnern als eine Projektgruppe – und sich die Fragen und Probleme, die dem Tandempartner in Bezug auf den erstmal natürlich sehr globalen Begriff der „Freiheit“ unter den Nägeln brennen, zu eigen gemacht. So kann es passieren, dass sich Neapel etwa mit dem zunehmenden Rassismus in Bratislava auseinandersetzt, während sich Bratislava auf das Thema von Neapel, illegale Bauten, einlässt. „Neugier und Empathie sind wichtig, wenn wir in Europa wieder stärker miteinander ins Gespräch kommen wollen,“ sagt Cristina Nord, die auch das Freiraum-Projekt der Goethe-Institute leitet.

Brüssel: Eine Stadt zeichnet ein Bild von sich

Was aber sind die drängendsten Probleme einer Stadt, einer Region, eines Landes in Bezug auf die Frage der Freiheit, der Freizügigkeit, des freiheitlichen Selbstverständnisses? Um das für Belgien und seine Hauptstadt herauszufinden, hatte das Brüsseler Goethe-Institut am 20. September 2017 zu einem Workshop in die „Beursschouwburg“ eingeladen, einem multidisziplinären Kunstzentrum nahe der Börse im Herzen der Altstadt. Bei für Brüsseler Verhältnisse trockenem und sonnigem Herbstwetter und in überaus konzentrierter Arbeitsatmosphäre zeichneten Kulturschaffende, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Stadtteilexpertinnen und Stadtteilexperten und Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler zunächst ein sehr vielseitiges Bild einer Stadt, die gleich mehrere Funktionen schultern muss: Hauptstadt der Europäischen Union, Hauptstadt des dreisprachigen Belgiens und Integrationsmaschine für Einwanderinnen und Einwander aus Nicht-EU-Ländern zu sein. „Brüssel“, so sagte es gleich zu Beginn einer der Teilnehmer, „liegt im Spannungsfeld zwischen der Europa-City der EU-Beamten auf der einen und Einwanderervierteln wie Molenbeek auf der anderen Seite.“

Brüssel und Europa, dieses Verhältnis ist mittlerweile sogar zum Stoff für Literatur geworden. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat mit seinem Brüssel-Roman Die Hauptstadt den Deutschen Buchpreis 2017 gewonnen. In einer Art Kaleidoskop zeichnet er das Brüssel der EU-Bürokratie als Räderwerk, in dem jeder Reformvorschlag irgendwann gnadenlos glattgeschliffen wird. Und trotzdem sind die Akteurinnen und Akteure in diesem Räderwerk Menschen wie du und ich. Das Brüssel der Bürokratinnen und Bürokraten, das ist Menasses Botschaft, ist menschlicher als sein Ruf.

Von Stadtbürgern zu Stadtnutzern: Brüssels Identität in der Schwebe

Der Soziologe und Geograph Eric Corijn von der „Vrije Universiteit Brussel“ hingegen nimmt mehr die Einwanderungsstadt Brüssel in den Blick. Für ihn ist die Vielfalt Brüssels ein wichtiges Charakteristikum der Stadt. „Brüssel ist nach Dubai und vor Toronto die Stadt mit der zweitgrößten Diversität auf der Erde“, sagte Corijn während des Workshops in der „Beursschouwburg“. Hinzu komme, dass die beiden Bewohnergruppen, die sich in Brüssel national identifizierten – die Niederländisch sprechenden Flamen und die frankofonen Wallonen – in der Minderheit seien gegenüber den nicht belgischen Brüsselerinnen und Brüsseler, den anderen EU-Bürgerinnen und Bürger und den Einwandererinnen und Einwanderer aus dem Rest der Welt.

Anders als etwa in Berlin oder Paris, wo das Erlernen der deutschen bzw. französischen Sprache der Schlüssel zu gesellschaftlicher und ökonomischer Teilhabe sei, müssen sich Migrantinnen und Migranten in Brüssel entscheiden – oder am besten gleich Französisch und Niederländisch lernen. Die EU-Beamtinnen und die EU-Beamten hingegen müssten nicht einmal das, so Corijn. Sie verkehrten in ihrer Muttersprache oder auf Englisch. Mehr noch als Berlin oder Paris sei Brüssel also das Babylon Europas, eine „Stadt der Minderheiten ohne Referenzgruppe“, wie er es formulierte. Doch diese Vielfalt macht es für den Soziologen gerade erst interessant: „Die Brüsseler Identität ist die der Ambivalenz. Die meisten Bewohner leben hier nicht als Stadtbürger, sondern als Stadtnutzer.“

Aber Vielfalt schafft auch Probleme. In vielen Parks und auf öffentlichen Plätzen scheint das soziale, ethnische und kulturelle Gleichgewicht ins Wanken geraten. Sozial ausgegrenzte Gruppen, so klagten manche, hätten diese Räume übernommen. Andere wiederum wiesen in der „Beursschouwburg“ darauf hin, dass die Gruppen, die sich diese Räume erobern, vor allem Opfer von Rassismus seien. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten also, wie man sie auch vom Görlitzer Park in Berlin und anderen divers genutzten öffentlichen Räumen in westeuropäischen Großstädten kennt. Wie aber damit umgehen? Und was könnte einen erwarten, wenn dieser Problemkomplex nicht von den Menschen in Brüssel selbst, sondern, beispielsweise, von einem Kunstzentrum in der slowakischen Hauptstadt Bratislava thematisiert würde? „Gibt es das, dass wir in Europa die Fähigkeit haben, uns in andere hineinzuversetzen, um gemeinsam Probleme zu lösen?“, fragt Cristina Nord. Das Freiraum-Projekt soll eine Plattform schaffen, auch dieser Frage nachzugehen.

Lauter Kontrapunkt: Kultur als Schutz vor Rückfall in Nationalismen?

Was verstehen wir unter Freiheit? Endet unsere persönliche Freiheit dort, wo die der anderen eingeschränkt wird? Bedeutet Freiheit für manche in Europa nicht doch auch die Wiedererlangung nationaler Souveränität? Und wie fair müssen Gesellschaften sein, damit jede und jeder das Versprechen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit – für sich in Anspruch nehmen kann?

Seit Herbst finden, wie in Brüssel, an vielen Goethe-Instituten europaweit Workshops statt, in denen Fragen wie diese diskutiert werden. Denn ohne Freiheitsrechte, aber auch ohne Freiheitsbewegungen wie in den mittel- und osteuropäischen Ländern 1989 wäre das Europa von heute nicht denkbar gewesen. Nun aber droht es im Erstarken von Nationalismus, Rechtspopulismus und der Sehnsucht nach autoritärer Politik zu ersticken.

Vielerorts steht also auch die Frage im Raum, wie sich ein lauter Kontrapunkt setzen lässt zur imaginären Freiheit einer nationalen oder regionalen Autonomie: Kann es eine neue Freiheitsbewegung geben, die Europa vor dem Rückfall in nationale Egoismen bewahrt? Und wenn ja: Wie könnte sie aussehen? Welche Rolle könnten Kunst und Kultur bei der Entstehung einer solchen Bewegung spielen?

Achtzigmal Freiheit: Von Tandems und kultureller Übersetzung​

Die Fragestellungen, die die am Freiraum-Projekt beteiligten 42 Goethe-Institute gemeinsam mit ihren Partnern vor Ort bislang entwickelt haben, sind sehr unterschiedlich. In Krakau etwa soll es um die Rolle von Frauen in einer zutiefst katholisch geprägten Gesellschaft gehen. Viele Neapolitaner wiederum nehmen sich ihren Freiraum, indem sie Gebäude illegal aufstocken und so neuen Wohnraum schaffen. Gut oder schlecht? In Großbritannien wollen die Goethe-Institute London und Glasgow gemeinsam mit Jugendlichen erkunden, warum in der Kleinstadt Carlisle eine überwältigende Mehrheit für den Brexit gestimmt hat.

Die Fragestellungen werden beim „Treffen der 80“ Anfang Dezember in Warschau vorgestellt. Per Los werden dann schließlich zwanzig Tandems gebildet, also zwanzig Instituts-Paare. Im Anschluss erforscht und bearbeitet jeder Tandempartner die Fragestellung seines Gegenübers in einem noch zu erarbeitenden künstlerischen Projekt. In einem letzten Schritt werden die Tandempartner sich ihre Ergebnisse vorstellen. Ergebnisse, die sowohl von klassischer Übersetzung, dieser Wanderung zwischen den verschiedenen Sprachen, die die Vielfalt Europas ausmachen, leben werden wie auch von einer kulturellen Übersetzertätigkeit.

Bewegungsfreiheit beim Fahrradfahren: Frage genug?

Was also darf, bleiben wir bei Brüssel, die belgische Hauptstadt von dieser Art von Frage- und Kulturtransfer erwarten? Sollte Brüssel als Tandempartner Bratislava losen: Auf welche Frage möchte Brüssel überhaupt eine Antwort aus der Slowakei? Einen Tag nach dem Workshop im September luden das Brüsseler Goethe-Institut und die „Beursschouwburg“ zu einer Vollversammlung ein, in der die Brüsselerinnen und Brüsseler darüber abstimmen sollten, mit welcher Fragestellung ihre Stadt ins Rennen geht – auf welche Frage sie sich also eine europäische Antwort erhofft. Es wurde wieder einmal deutlich, wie sehr die eigene Freiheit verwoben ist mit der Freiheit der anderen – und wie schnell in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den jeweiligen Machtverhältnissen aufkommt.

Eine Teilnehmerin etwa sagte bei der Versammlung, sie fühle sich in Brüssel beim Fahrradfahren von rücksichtslosen Autofahrern in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Eine Äußerung, die gleich mehrere Redebeiträge nach sich zog – und die zeigt, dass über Freiheit nicht immer nur in großen, oft recht abstrakten Begriffen nachgedacht werden muss. Was ist Freiheit? Um wessen Freiheit geht es? Und wer bestimmt die Regeln? Oft zeigt sich das auch im alltäglichen Umgang miteinander.

Arbeit mit dem schlechten Image: Was macht Europa aus Brüssel?

Aber auch die Frage, wie der Zugang verschiedener Gruppen zu öffentlichen Räumen aufrechterhalten und gleichzeitig neue Regeln des respektvollen Umgangs miteinander etabliert werden können, beschäftigte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vollversammlung. Gleichzeitig aber wurde betont, dass dieses Thema kein Alleinstellungsmerkmal Brüssels ist. „Wir Brüsseler haben in Europa ein schlechtes Image“, erinnerte der Soziologe Eric Corijn. „Man bringt uns mit Bürokratie und dem Verlust nationaler Souveränität in Verbindung.“

Corijns Plädoyer war eindeutig: Nicht nur die Literatur, sondern auch der zugeloste Tandempartner solle sich doch mit Brüssel als Hauptstadt Europas beschäftigen. Die Fragestellung, mit der Brüssel ins Rennen geht, lautet jetzt: „Europa hat sich in Brüssel wie in einem Fremdkörper niedergelassen. Wie können wir diesen Fremdkörper integrieren und Brüssel zu einer wahrhaften Hauptstadt Europas machen? Wie könnte ein solches Brüssel aussehen?“ Eine von 38 Fragen, die die Goethe-Institute und ihre Partner bis 2019 beschäftigen werden. Die Antworten und Vorschläge werden zeigen, ob es gelingt, Europa mit den Mitteln der Kultur wieder mit sich selbst ins Gespräch zu bringen.



Hier finden Sie Bilder vom Projektauftakt in Brüssel
 
  • Freiraum Workshop © Caroline Lessire
  • Freiraum © Caroline Lessire
  • Freiraum Workshop © Caroline Lessire
  • Freiraum Workshop © Caroline Lessire
  • Freiraum Workshop © Caroline Lessire

 

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