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Corellos Code
Eine Liebesgeschichte. Eine Kriegsgeschichte. Für Emile.

Love
Illustration: Maria Krafft

Diese Geschichte handelt von nichts geringerem als dem Krieg und der Liebe in Zeiten des Krieges. Es geht um den Funker Corello und den Offizier Emile und um den Code ihrer Liebe, den Casares zu knacken versucht.

Von Charlotte Krafft

Wenn elektromagnetische Wellen im Frequenzbereich unter 3000 GHz das Äquivalent sind zum wogenden Meer: Was ist dann das Äquivalent zum Surfbrett? Genau, das Radio. Das Radio ist das Äquivalent zum Surfbrett. Und was ist das Äquivalent zum Wellenritt? Der Tanz ist das Äquivalent zum Wellenritt. Der Tanz ist ein Wellenritt, ein Wellenritt ist der Tanz zur Radiomusik. Solcher Art Radiomusik muss das sein, dass sie dir Bauchschmerzen bereitet vor unbestimmter Sehnsucht. Denn was da reitet – das ist das Gefühl natürlich, die Sehnsucht. 

Welle, Radio, Tanz, Gefühl. So ungefähr.

Das Radio spielt die richtigen Klänge der Sehnsucht immer zufällig zur rechten Zeit, oder aber es spielt zur rechten Zeit immer zufällig die richtigen Klänge, welche es dann zu erhaschen gilt, wie eine günstige Stimmung beim Vorgesetzten, einen rätselhaften Vorgang in einem vertrauten Hinterhof, eine Idee im Stadium der Flüchtigkeit, die Tränen der Eltern, oder die letzte Minute, bevor der Bäcker oder die Fischhändlerin ihren Marktstand schließen und dir eine Makrele vielleicht schenken oder ein Rosinenbrötchen.

So muss man tanzen, mit dem größten Feingefühl, mit der größten, köstlichen mühelosen Anspannung, als wäre alles um dich herum so fein und zerbrechlich und leicht, dass schon ein falsches Achselzucken, ein unachtsamer Fingerzeig ausreicht, es zu zerbrechen und fortzuwehen. Die Augen nach außen gerichtet, lass sie sich nie nach innen drehen, dann verpasst du alles. Sich in den Moment hineintanzen, muss man, oder auf ihn hinauf tanzen, wenn wir denn versuchen wollen, im ja zugegeben etwas schiefen Bild zu bleiben. Sich auf den Moment hinauf tanzen, ohne dass der Moment merkt, dass man auf ihm reitet. Leise muss man bleiben, aber nie auffallend leise. Freundlich muss man sein und behände, aber nie auffallend freundlich und behände. Lachen muss man, leise, aber bloß nicht zu leise! Und bloß kein falsches Achselzucken, bloß kein grobes Wort. So.

Aber ein Kunststück, ein Kunststück ist es erst, wenn man zu zweit die Welle reitet. Ein Tanz zu zweit zur Radiomusik, und im Schweiß auf der Stirn des anderen oder der anderen siehst du das wilde, das schöne, das freie Leben gespiegelt, das du doch immer in deinem Rücken wähnst. Das ist die Liebe vielleicht. Das ist das Kunststück. Nur noch eine Umdrehung, nur noch einmal hier herum, dort herum, dann bist du endlich mittendrin, in dem, was das Leben ist, das wahre, das ganze, das volle, das, was immer schon oder noch hinter dir liegt.

Und dann irgendwann die warme Erschöpfung. Die Ruhe.

So vielleicht.

So ist die moderne Liebe. Oder? Was sagt ihr? Die Liebe in modernen Zeiten? Also gut, ihr habt ja Recht. Die Liebe in modernen Zeiten. Sagen wir es so.

In unserer Welt allerdings, die eine Erzählung ist, sind die Zeiten natürlich immer andere, und die Liebe, die Liebe ist natürlich immer nur ein Zeichen, und der Krieg, der Krieg ist nur ein Zeichen. Und trotzdem können wir uns davon erzählen, wie die Zeichen zum Bezeichneten werden.   

Beginnen wir. Und beginnen wir so:

„Eitgeb neehed Botsic tsoIhp chchun aflikt.“

Was das bedeutet? Zum Beispiel dies: „Eitgeb neehed Botsic tsoIhp chchun aflikt“  könnten die Worte einer jener Sprachen gewesen sein, die wir Jahrzehnte zuvor noch mit allen Kräften hatten auszurotten versucht. Wir hatten sie zu Geheimsprachen zusammengeschmolzen, aus denen uns nun die schärfsten Waffen geschmiedet wurden. Da zum Beispiel wurden die Zeichen zum Bezeichneten.

Der Besessene, er wusste von diesen Waffen, er erkannte sie, aber er konnte nicht wissen, wie man sie gebraucht. Nennen wir ihn … nennen wir ihn Casares, einer Tradition wegen, und nennen wir unseren Funker Corello und unseren Offizier Emile, einer persönlichen Vorliebe wegen. Unser Casares wusste auch, was oder wer diese Worte waren, als er auf sie stieß. Ein Knistern erst, dann eine Stimme im Radio, eingenistet ins Rauschen der Vergangenheit. Er kannte den Mythos vom verliebten Funker aus dem letzten Krieg. So wie ihr ihn kennt. Ihr wollt die Geschichte noch einmal hören? Die Geschichte vom verliebten Funker, von Corello und seinem Emile? Also gut.

Ein Funker war verliebt in einen Offizier, und ein Offizier war verliebt in einen Funker.

Corello und Emile waren Tanzende gewesen, Tanzende, die zur rechten Zeit unterbrochen worden waren von den Umständen. Die Umstände waren der Krieg.

Corello, der als einer von wenigen jene Sprache sprach, deren Worte nun zu Waffen umgeschmiedet wurden, schickten die Umstände in den Norden auf eine geheime Funkstation.

Emile, der vor dem Krieg schon beim Militär gewesen war, ging in den Süden an die Front. Mit den Details kenne ich mich nicht aus, aber sie spielen auch keine Rolle. Denkt sie euch dazu, wie es euch beliebt.

Selbstverständlich quälten sich die beiden Liebenden aufs Köstlichste. Sehnsüchtig wie ein Verdurstender saß unser Emile jeden Abend in seiner Offizierskammer, so kann man es sich vorstellen, und saugte gierig jeden Funkspruch seines Geliebten auf. Denn die Botschaften des Funkers waren, wie ihr wisst, nicht nur Botschaften des Krieges, es waren auch Botschaften der Liebe darin verborgen, welche jedoch allein der Offizier entschlüsseln konnte und von denen der Offizier allein nur wusste.

Aus den Zeichen, dem Kriegs-Code seiner Kriegspartei hatte der liebesbesessene Funker Corello nämlich einen zweiten, einen neuen Code entwickelt, einen Code bestehend aus Code, mit anderen Worten: einen Doppelcode, der dasselbe auf immer andere Weise sagte und damit das Unsagbare sagbar machte, nämlich das Unvergleichliche eines Gefühls in einem Moment, mit anderen Worten: den Moment selbst, die Welle selbst. Ihr kennt doch sicher dieses tragische Stadium der Liebe, in dem man immer etwas Neues sagen will und doch nur ständig die gleichen drei Worte aussprechen kann. Tragisch. Wenn es nur andersrum wäre, wenn man nur das gleiche auf immer neue Weise sagen könnte, dann könnte man sie vielleicht konservieren, die Liebe, dann wäre sie eins mit dem Ideal, dann wäre sie unendlich. Unserem Corello war genau dies gelungen, er hatte eine Sprache erfunden, mit der er der Liebe selbst Ausdruck geben konnte – mit jedem Funkspruch etwas Neues sagen, und doch immer meinen, was wir meinen wollen, wenn wir sagen … Ihr wisst schon was.

Doch wie es in den allerschönsten unserer Geschichten nun mal so sein muss, blieb unser Funker Sender und sein Emile blieb Empfänger, denn schon kurz nachdem die Umstände unsere Liebenden getrennt hatten, vereinten sie die Liebenden wieder – und ich meine vereint. Ich meine: die Aufhebung von Abwesenheit. Kurz bevor also der Offizier die Gelegenheit gehabt hätte, seinerseits zum Sender zu werden, geriet er mit seiner Kompanie in einen Hinterhalt, bei dem er schließlich, vom Splitter einer Granate ins Herz getroffen, ums Leben kam.

So sendete unser nichtsahnender Funker Kriegsbotschaft um Kriegsbotschaft, Liebesbotschaft um Liebesbotschaft, ohne je mehr Antwort zu erhalten als die Nachrichten über Frontverlauf, Truppenmoral, Offensiven und Gegenoffensiven. Immer verzweifelter, so kann man es sich vorstellen, wurden seine Nachrichten, immer flüchtiger der Geliebte, immer dürftiger seine Erinnerung, dafür umso vollkommener die Projektion. Wahnsinnig vor Sehnsucht versuchte der Funker in den Nachrichten Hinweise auf seinen Emile zu finden – verborgene Botschaften, Kriegsmanöver, die die Handschrift seines Geliebten trugen, doch sicher war er sich nie, immer nur ahnen konnte er und fürchten, der schlimmste und gleichzeitig der vollkommenste aller Zustände. Als der Funker dann schließlich vom Tod seines Geliebten erfuhr, war seine Liebe schon zu Zeichen geworden und er, der Funker, musste ihr nur noch folgen.

So, hört meine Worte, wurde er selbst zum Code, der seitdem durch den Äther surft, zur gespensterhaften Stimme im Radio, nach der mutige Jugendliche nachts auf den Kurzwellen suchen, auf die besessene Einsame immer gerade zur rechten Zeit stoßen. Ja, Corello und Emile waren für die Ewigkeit vereint, zumindest potenziell – und ich meine vereint – vereint im Code ihrer Liebe, der nur deshalb ewig sein konnte, weil er sich ständig änderte und doch immer dasselbe meinte. Aufgelöst waren sie in der Erzählung ihrer Liebe, die fatalerweise auch eine Erzählung ist der Gewalt.

Und Casares nun? Was tat unser Casares?

Als der Besessene, den wir Casares nennen, die Stimme des Funkers zum ersten Mal hörte und den rätselhaften Code zum ersten Mal hörte, da wusste er, womit er es zu tun hatte. Der Mythos vom verliebten Funker. Casares kannte ihn, oder erfand er ihn erst? Oder haben wir ihn erfunden? Was tut das schon? In jedem Fall wusste er von Corello und Emile und ihrer in den unendlichen Code gebannten Liebe, doch was es bedeutete, was er hörte, das wusste er nicht, sonst hätte er vielleicht … hätte hätte. Was soll das schon? Er wusste es nicht. In seiner Kammer saß er, von der rätselhaften Botschaft, dieser unendlichen Stimme aus der Vergangenheit gerührt wie vom Donner. Und wenn jemand wie vom Donner gerührt ist, passiert oft entweder Schreckliches oder Herrliches. Wer wie vom Donner gerührt ist, wird nämlich empfänglich für das, was der Moment mit sich trägt. In diesem Fall war dies ein Wunsch. Ein fürchterlicher Wunsch. Er bemächtigte sich unseres Herrn Casares ganz – der Wunsch, den Code zu knacken, den noch nie jemand vor ihm geknackt hatte – den Code der Liebe und den Code des Krieges – die Botschaften zu entschlüsseln, die noch niemand zu entschlüsseln vermocht hatte. Das war sein Wunsch.

Was er sich davon erhoffte, unser Casares? Nun, die Beweggründe echter Menschen sind oft fürchterlich prosaisch, mit anderen Worten: schrecklich banal. Aber Casares war ja kein echter Mensch, nicht? Ihm war das Rätsel zu lösen genug, denn das nun mal, war seine Bestimmung. In Geschichten gibt es so etwas. Bestimmungen, meine ich. Er war der Besessene, und vom Besessenen fragt man sich nicht, weshalb er besessen ist. Genauso wenig, wie man sich vom Teufel fragt, warum er teuflisch ist. Er ist nun mal der Teufel. Das ist alles. Wenn ihr aber dringend einen Beweggrund braucht, nehmt das Streben nach unsterblichem Ruhm, was natürlich ein Streben ist nach Unsterblichkeit.

Also, ein schrecklicher Wunsch bemächtigte sich unseres Herrn Casares. Tag und Nacht saß er vor dem Radio, die Ohrmuschel – mal die eine, mal die andere – fast hautnah am Lautsprecher, die langen, ausgemergelten Finger der einen Hand, denn er aß kaum noch, er schlief kaum noch, gespannt, leicht zitternd ausgestreckt, gegen die Antenne gerichtet, als wären es selbst Antennen. Die Finger der anderen Hand um einen Füllfederhalter geschlossen, den er gleich einem Seismographen über Bogen um Bogen gleiten ließ, sodass die Papiere auf dem Tisch um ihn herum, auf dem Boden, auf den Lehnen seines Stuhls, auf seinem Schoß sogar sich sammelten, stapelten, übereinander glitten und rutschten und sich schoben, wie unterseeische Erdmassen bei einem starken Beben. So lauschte er den im Rauschen und Kratzen des Radios verborgenen endlosen Reihen fremder Worte, die wie ständig wechselnde Mantren, wie ein endloses Gebet aus dem Radio klangen. Manchmal stieß er nach vielen Stunden dieser Arbeit ein langgezogenes Stöhnen aus, welches sich langsam und tastend annäherte an die Frequenzen der Radiostimme, den Welle gewordenen Corello, wie in einem Versuch, sich mit dem Ewigen zu synchronisieren, in seine Welle einzugehen, doch es gelang unserem Casares nie ganz. Emile, Corello und sein Doppelcode blieben ihm ein Rätsel, blieben für ihn unzugänglich.

Immer dünner wurde unser Casares, immer zittriger und immer willenloser, ganz und gar erfüllt von seinem einen schrecklichen Wunsch. Seine Haut nahm erst die Farbe von Recycling-Papier an, dann die von Aluminium, glänzend wurde er, wie ein Zerrspiegel oder eine Luftspiegelung oder eine kleine Welle. Eine Art Summen schien von ihm auszugehen, irgendetwas Irritierendes jedenfalls, das die Fliegen davon abhielt, sich auf seiner schwitzenden Stirn niederzulassen. Manchmal schien sich das Licht in seiner Kammer seltsam um ihm herum zu sammeln, um ihn zu pulsieren, zu bündeln, als würde es von ihm selbst ausgehen oder als würde er es anziehen, wie ein Magnet Metallspäne anzieht. Wohl waren es die codierten Botschaften, die sich in Casares‘ Kammer sammelten und stauchten, auf ihn eindrängten und mit den Lichtwellen in einen völlig unlogischen Widerspruch gerieten, Radiowellen, die sich an den Abhängen seiner Gefühlswelt brachen, einander überholten und überlagerten, Interferenzen bildeten, verzerrt, verstärkt, sich drängten, eine über die nächste und immer heftiger seinen – Casares‘ Verstand hin und her warfen wie ein Schiff im Sturm auf hoher See.

Ja, ein Sturm wütete in seiner Kammer, peitschte die Wellen, oder die Wellen peitschten den Sturm, türmten sich dunkel, bedrängten und erstickten alles Licht, zogen es in ihre Tiefen, wie auch alles andere schließlich, was gewesen war – Casares‘ Verstand, Casares‘ Liebe, Casares‘ Körper, Casares‘ Radio, Casares‘ Kammer und die Fliegen, alles kraftvoll zermalmten in einem fürchterlichen Strudel, welcher einem Auge gleich gen Himmel blickte, und in dem zwei Dinge miteinander zu streiten schienen, zwei wirkliche Dinge zu kämpfen schienen, bis schließlich eines gewann und machtvoll dem Strudel entstieg, ein Unaussprechliches, ein Gigant aus jener Gewalt, die so lange, so lange ins Zeichen gebannt gewesen war, nun entfesselt und verzerrt, ein Gigant aus Gewalt, den ihr kennt. Ihr wisst.

Ja. So erstand der Krieg aus dem Radio. So wurde aus dem Zeichen das Bezeichnete. So ungefähr. Aber wisst ihr, was der Gigant da ohne es zu ahnen mit sich trug? Wisst ihr, was ihm, ohne dass er es merkte, am Hacken klebte? Am Hacken klebte dem Giganten ein kleines, ein zartes Etwas, das glänzt, ein kleiner Engel ist es, mit einem blonden Schopf, der einen Pfeil im Arm trägt und ihn feixend spannt. Ihr wisst schon, wer das ist, nicht wahr? Jaja, ihr wisst schon wer.

Und Casares, fragt ihr. Wo ist unser Casares abgeblieben? Na, fragt doch nicht so etwas Dummes. Genau hier natürlich. Hier ist er geblieben.

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