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DDR-Geschichten
Zwischen Sozialismus und Queer Art

Jürgen Wittdorf: Unter der Dusche. Serie Jugend und Sport, 1962
Jürgen Wittdorf: Unter der Dusche. Serie Jugend und Sport, 1962 | © Jürgen Wittdorf / studio galerie berlin

Er war einer der bedeutendsten ostdeutschen Grafiker, doch die grundlegende Dimension seines Werks blieb lange Zeit verborgen, und nach der Wiedervereinigung geriet er fast in Vergessenheit. Heute Jedoch ist Jürgen Wittdorf (1932—2018) mit seinen Illustrationen, Linolschnitten und Holzschnitten nicht nur ein prominenter Träger des künstlerischen Erbes der DDR, sondern auch einer der Pioniere der queeren Kunst im ehemaligen Ostblock.
 

Von Matěj Forejt

Aus der Zeit, als sich die Botschaft der Deutschen Demokratischen Republik am ehemaligen Gottwaldufer in Prag befand, bewahrt das Gebäude des heutigen Goethe-Instituts auch einen unscheinbaren Teil der damaligen Kunstausstattung - eine Reproduktion einer Grafik von Jürgen Wittdorf aus dem Jahr 1974. Es zeigt ein junges Paar, einen Mann und eine Frau, in einem für den Künstler typischen Stil: Das Paar wirkt natürlich, die Atmosphäre der Szene ist bürgerlich und entspannt. Die langen Haare des Mannes müssen zu seiner Zeit auf Nonkonformismus und Rebellion hingedeutet haben. Doch dieses Kunstwerk gehört nicht zu den wichtigsten Dingen, die Jürgen Wittdorf in seinem Nachlass hinterlassen hat. Erst in jüngerer Zeit werden seine Werke gewürdigt, in denen er seine persönliche queere Perspektive in einer Zeit gesellschaftlicher Tabus und diskriminierender Gesetze zu Wort kommen ließ. Für diese bezeichnen ihn heute manche als den ostdeutschen Tom of Finland.

Jürgen Wittdorf: Paar, 1974. Eine Grafik aus der ehemaligen DDR-Botschaft in Prag Jürgen Wittdorf: Paar, 1974. Eine Grafik aus der ehemaligen DDR-Botschaft in Prag | © ¨Jürgen Wittdorf / Goethe-Institut

Wege zur Kunst

Jürgen Wittdorf wurde 1932 in Karlsruhe geboren, ging in Königsberg (heute Kaliningrad) zur Schule und studierte ab 1952 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo er 1957 seinen Abschluss machte. Hier, an der ehemaligen Leipziger Akademie, begann sich in den 1950er Jahren im Umfeld der Doktrin des sozialistischen Realismus die so genannte Leipziger Schule herauszubilden - eine vielschichtige Strömung der figurativen Malerei, die schließlich zum wichtigsten Phänomen der Kunst der Deutschen Demokratischen Republik wurde. Die Hauptvertreter dieser Bewegung (und selbst frischgebackene Absolventen der Schule) waren junge Lehrer zur Zeit von Wittdorfs Studium: Hans Mayer-Foreyt ab 1951, Wolfgang Mattheuer ab 1952 und Bernhard Heisig ab 1954. Die zeitgenössische Tendenz in der Leipziger Kunstszene dürfte die schöpferische Richtung von Jürgen Wittdorf beeinflusst haben, dessen Stil durch eine ausgeprägte stilisierte Figuration gekennzeichnet ist.

Nach einigen Jahren in Leipzig zog Wittdorf nach Ost-Berlin. Dort absolvierte er Ende der 1960er Jahre ein Meisterschülerstudium an der Akademie der Künste der DDR bei Lea Grundig, einer prominenten ostdeutschen Künstlerin, die schon in der Zwischenkriegszeit als linke Grafikerin bekannt war. Als Kommunistin, Jüdin und Vertreterin einer "entarteten" Kunst wurde sie im Nationalsozialismus verfolgt. Zu seiner Meisterzeit in den 1960er Jahren, hatte Wittdorf nicht nur Schularbeiten in der Schublade, sondern auch Bilder, in denen er die Welt darstellte, wie er sie als schwuler Künstler sah. Doch nur Wittdorfs engste Freunde wussten, dass seine in spielerischer grafischer Übertreibung wiedergegebenen Werke in Wirklichkeit voller persönlicher Sehnsüchte und Momente visueller Sinnlichkeit waren.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und queere Kunst

Jürgen Wittdorf: Noch kein Bartwuchs und schon Vater, 1961 Jürgen Wittdorf: Noch kein Bartwuchs und schon Vater, 1961, Zyklus für die Jugend | © Jürgen Wittdorf / Privatsammlung Kollek Nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in Ostdeutschland war Homosexualität zu dieser Zeit strafbar. Während allerdings in der Bundesrepublik Deutschland der berüchtigte, von den Nationalsozialisten eingeführte Paragraf 175 des Strafgesetzbuches auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft blieb, hatte die antifaschistisch orientierte Deutsche Demokratische Republik ihn bereits 1950 in seine mildere Form von vor 1935 zurückgeführt. Der ostdeutsche Gesetzgeber machte jedoch keine weiteren nennenswerten Fortschritte, obwohl die beiden politischen Vorgänger der ostdeutschen Regierungspartei SED, die Kommunistische Partei und die Sozialdemokraten, bereits in der Weimarer Republik eine Entkriminalisierung der Homosexualität angestrebt hatten.

Zwar wurden Schwule in der DDR nicht in gleichem Maße verfolgt wie in der Bundesrepublik, aber die Ausgrenzung queerer Menschen kam der regierenden Partei auch dort in den 1950er Jahren entgegen: zum Beispiel in der medialen Darstellung der Gefahren des Westens. Eine weitere Veränderung erfolgte 1968, als in der DDR der Paragraf 175 zusammen mit dem alten Strafgesetzbuch aufgehoben und durch ein neues Strafgesetzbuch ersetzt wurde, das sich nur gegen Schwule (und nun auch gegen Lesben) unter 18 Jahren richtete. Die Abschaffung dieser Beschränkungen erfolgte ebenfalls Ende der 1980er Jahre. In Westdeutschland wurde der Paragraf 175 erst 1994 endgültig aus dem Gesetzbuch gestrichen, als die beiden deutschen Staaten ihre Gesetzgebung vereinheitlichten.

Die reale Situation queerer Menschen in der DDR wurde jedoch trotz relativ fortschrittlicherer Gesetzgebung durch die gesellschaftliche Atmosphäre des totalitären Staates und die Tabuisierung von Homosexualität erschwert. Erst nach dem Ende der sozialistischen DDR wurde es allmählich möglich, offener über Homosexualität zu sprechen. Der erste ostdeutsche Film mit einem queeren Thema, Coming Out, entstand übrigens 1989 und wurde zufällig am Tag des Mauerfalls uraufgeführt. Also mehr als zwei Jahrzehnte später als die erwähnten Zeichnungen und Grafiken von Jürgen Wittdorf.

Offizieller Künstler der DDR

Betrachtet man Wittdorfs grafisches Werk noch einmal vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Situation in der DDR in den 1960er Jahren, so mag man umso mehr überrascht sein. Erstens: Wie ist es möglich, dass die Bilder, die wir heute ohne zu zögern als queere Kunst bezeichnen, von Wittdorf zu dieser Zeit nicht nur für die Schublade, sondern auch für staatliche Aufträge geschaffen wurden? In einem Land, in dem es keinen Kunstmarkt gab, war die Arbeit für staatliche Institutionen eine absolut notwendige Existenzgrundlage für Künstler. Und im Auftrag schuf Jürgen Wittdorf 1964 auch die Grafikserie Jugend und Sport, sein heute meistgeschätztes Werk.

Noch davor, zu Beginn der 1960er Jahre, entstand unter Wittdorfs Händen eine weitere markante Grafikserie. Es handelt sich um die Holzschnittreihe Für die Jugend, die zwar als freie Arbeit entstanden ist, für die Wittdorf aber 1963 den offiziellen Preis der Freien Deutschen Jugend (FDJ) erhielt. Und die FDJ war es auch, die Wittdorfs Grafikzyklus in Form eines großformatigen Albums und in einer großzügigen Auflage von 10.000 Exemplaren herausgab.
  • Jürgen Wittdorf: Baubrigade der Sportstudenten, 1964 © Jürgen Wittdorf / studio galerie berlin
    Jürgen Wittdorf: Baubrigade der Sportstudenten, 1964
  • Jürgen Wittdorf: Freundschaftsfoto, 1964 © Jürgen Wittdorf / studio galerie berlin
    Jürgen Wittdorf: Freundschaftsfoto, 1964
  • Jürgen Wittdorf: Trainingsgespräch, 1964 © Jürgen Wittdorf / studio galerie berlin
    Jürgen Wittdorf: Trainingsgespräch, 1964

Homoerotik im sozialistischen Gewand

Womit hat Wittdorf die ostdeutschen Jugendkreise für sich gewonnen? In seinen Holzschnitten gelang ihm ein frischer und provokanter Blick auf die Jugendkultur und auf die Generation, die man damals "Halbstarke" nannte. Ihre jugendliche Energie hielt er in der Grafik Sozia fest, den Wandel der Geschlechterrollen in dem Blatt Noch kein Bartwuchs und schon Vater und die Männerfreundschaft (vielleicht mit leicht homoerotischen Untertönen) in der Grafik Gruppe mit Fahrrädern.

Noch bevor die Serie Für die Jugend massenhaft publik wurde, hatte Wittdorf bereits 1962 einen Auftrag der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig erhalten, aus dem Wittdorfs ikonischstes grafisches Werk, die bereits erwähnte Serie Jugend und Sport, hervorgehen sollte. Es handelt sich um eine Serie von fünf großformatigen Holzschnitten, die Szenen aus dem Leben von Sportlern zeigen. Junge, gut aussehende Männer, nur halb bekleidet, im Badeanzug oder sogar ganz nackt, sind bei einer Gruppendusche, auf einer Baustelle oder bei einem gemeinsamen Fotoshooting mit Schwimmern aus einem befreundeten afrikanischen Land zu sehen. Die Betonung der Schönheit männlicher Körper, die gegenseitige Intimität zwischen den abgebildeten jungen Männern und die unzähligen genau beobachteten Details scheinen heute klare Hinweise auf die queere Perspektive in diesen Bildern zu sein.

Doch die eindeutig queeren Aspekte in Wittdorfs Werk sind lange Zeit unbemerkt oder zumindest unbenannt geblieben. Die Darstellung männlicher Schönheit und kameradschaftlichen Miteinanders entsprach den ideologischen Bedürfnissen des sozialistischen Staates, für den diese Auftragsserie geschaffen wurde. Dennoch weisen Wittdorfs Grafiken eine subversive Leichtigkeit und elektrisierende Anziehungskraft auf, die sie von Gemälden mit vergleichbaren Sujets unterscheidet. Zum Vergleich sei hier das legendäre großformatige Gemälde Arbeiterklasse und Intelligenz genannt, das der Malerei-Hegemon der Leipziger Schule, Werner Tübke, Anfang der 1970er Jahre für den Universitätsneubau in Leipzig schuf. Daneben könnte Wittdorfs zehn Jahre zuvor für eine andere Universität in derselben Stadt geschaffene Baubrigade der Sportstudenten aus der Serie Jugend und Sport als subversiv queerer Vorläufer gelten.
Werner Tübke: Arbeiterklasse und Intelligenz, 1973 (Ausschnitt) Werner Tübke: Arbeiterklasse und Intelligenz, 1973 (Ausschnitt) | © Werner Tübke / Universität Leipzig

Ein schnelles Ende und ein allmähliches Comeback

Jürgen Wittdorf hat während seiner Zeit in der sozialistischen DDR viele Erfolge als Künstler erzielt. Die offizielle Anerkennung blieb ihm nicht versagt, er arbeitete auch als Lehrer. Er schuf Werke und ganze Grafikzyklen, die bis heute künstlerisch wertvoll sind. Doch nach dem Fall der Berliner Mauer geriet sein Werk in Vergessenheit. Während das künstlerische Erbe der DDR in den 1990er Jahren einen dramatischen Kampf um die Wiederanerkennung führte, blieb Wittdorf im wiedervereinigten Deutschland im Verborgenen und traf sich hauptsächlich mit einem kleinen Freundeskreis.

Der erste Schritt zu einem künstlerischen Comeback gelang Wittdorf noch zu Lebzeiten mit einer Einzelausstellung im Jahr 2004, die vom Berliner Schwules Museum gefördert wurde. In jüngster Zeit wurden Wittdorfs Rehabilitationsbemühungen mit der posthumen Ausstellung Lieblinge des Kunstvereins Ost (KVOST) im Jahr 2020 fortgesetzt. 2022/2023 hat anlässlich des 90. Geburtstags des Künstlers eine Retrospektive in der Galerie Schloss Biesdorf stattgefunden.

Der Sammler Boris Kollek und der Berliner Galerist Jan Linkersdorff, Wittdorfs ehemaliger Schüler, spielen eine wichtige Rolle bei der Wiederentdeckung von Wittdorfs Werk. Beide ersteigerten nach Wittdorfs Tod seinen künstlerischen Nachlass, der sich heute neben den Beständen des bereits erwähnten Schwules Museums auch in ihren Privatsammlungen finden lässt. Als einer der Pioniere der queeren Kunst im Ostblock durfte Jürgen Wittdorf noch die Zeit erleben, in der die Vielschichtigkeit seiner grafischen Arbeiten und sein Mut, mit seinem Werk gesellschaftliche Tabus zu brechen, offen gewürdigt werden. Und der Weg zu seiner vollständigen Wiederentdeckung ist noch nicht abgeschlossen.
Jürgen Wittdorf: Parisurteil, Zyklus für die Jugend, 1961 Jürgen Wittdorf: Parisurteil, Zyklus für die Jugend, 1961 | © Jürgen Wittdorf / Kvost und Schwules Museum Berlin

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