„Alle haben vergessen zu fragen“
Arnon Goldfinger im Interview über seinen Film „Die Wohnung“
Der israelische Regisseur Arnon Goldfinger (50) wollte einen Dokumentarfilm über die Tel Aviver Wohnung seiner verstorbenen Großeltern drehen – für das Familienarchiv. Stattdessen kam er einem sensationellen Familiengeheimnis auf die Spur: Seine aus Berlin stammenden jüdischen Großeltern pflegten eine enge Freundschaft mit einem zeitweiligen SS-Offizier – über den Zweiten Weltkrieg hinaus.
Aus dem privaten Film wurde eine deutsch-israelische Filmproduktion mit großen Publikumserfolgen in beiden Ländern. Die Wohnung wurde für den Grimme-Preis nominiert. Im Interview spricht Goldfinger über Geschichtsbewältigung in Israel – und die deutschen und israelischen Reaktionen auf seinen Film.
Man gewinnt in Ihrem Film den Eindruck, über das Thema Holocaust sei in Ihrer Familie vor dem Filmdreh nie gesprochen worden. Das ist angesichts der deutschen Herkunft Ihrer Großeltern schier unglaublich.
Arnon Goldfinger: Das stimmt, aber so war es wirklich. Erst während des Filmdrehs stellte ich mir viele Fragen, die ich meiner Familie zuvor nie gestellt hatte. Und zwar nicht nur, weil ich mich davor gefürchtet hätte, sie zu stellen. Die meisten, auch die naheliegendsten, waren mir bislang einfach nicht in den Sinn gekommen. Die Familie meiner Mutter kam aus Deutschland, meine Großeltern fuhren nach dem Krieg jedes Jahr dorthin zurück. Trotzdem habe ich mich nie gefragt, ob es in meiner Familie eine Verbindung zum Holocaust gäbe. Das ist geradezu lächerlich. Alle haben einfach vergessen zu fragen.
Halten Sie diesen Umgang mit der eigenen Familiengeschichte für typisch?
Vor der Veröffentlichung des Films hätte ich nie gedacht, dass das Schweigen über die Vergangenheit so verbreitet in israelischen Familien gewesen wäre. Ich hatte auch die Befürchtung, dass die Form des Films viel zu persönlich gewählt sei, um damit Identifikationsmomente beim Publikum zu schaffen. Doch das Gegenteil ist passiert. Nach den ersten Vorführungen kamen viele Zuschauer auf mich zu und beschrieben mir ganz ähnliche Erfahrungen. Ich glaube, es ist so, dass die zweite Generation in Israel, übrigens ähnlich wie in Deutschland, sich nicht traute, ihren Eltern Fragen über den Holocaust zu stellen – nur natürlich aus anderen Gründen. Die dritte, also meine Generation, wusste wiederum nichts. Nach den Vorführungen kamen auch einige Holocaust-Überlebende auf mich zu und sagten: „Warum habt ihr uns denn nicht gefragt?“ Es klingt seltsam, weil das Lernen über die Geschichte des Holocaust natürlich auch in Israel zur Schulbildung gehört. Erst einige Zeit nach dem Filmstart habe ich verstanden: Beim Blick auf die Geschichte ist es ein bisschen, wie wenn man beim Augenarzt mit verschwommener Sicht eine Zahlenreihe betrachtet. Die Information ist schon da, aber man sieht sie erst klar, wenn man die richtige Brille aufsetzt.
Erst während des Filmdrehs fanden Sie heraus, dass Ihre Großeltern in den dreißiger Jahren gemeinsam mit Leopold von Mildenstein, der als Abteilungsleiter in Goebbels’ Propagandaministerium tätig war, Palästina bereist haben.
Ich muss gestehen, dass ich zunächst gar nicht einordnen konnte, um was für einen außergewöhnlichen Fall es sich hier handelte. In den Unterlagen meiner Großeltern habe ich die Artikelserie, die über Mildensteins Palästina-Reise in der Propagandazeitung Der Angriff erschienen war, gefunden. Ich habe sehr schnell verstanden, dass dies eine fantastische Geschichte war, doch die Idee, dass auf ihr aufbauend ein ganzer Film entstehen könnte, kam mir noch sehr lange nicht. Ich bin ehrlich, wenn ich sage, dass ich mit nichts, was während des Filmdrehs passiert ist, gerechnet habe. Die Beschäftigung mit der Wohnung meiner Großeltern hat mich auf eine ganz andere Fährte geführt als ich dachte, und an einen Ort, den ich nie zu besuchen im Sinn hatte, von dem ich bis dato nicht einmal gehört hatte.
Sie meinen Wuppertal. Dort lebt die Tochter Leopold von Mildensteins. Darf ich fragen, wie sich Ihr Verhältnis nach dem Film entwickelt hat?
Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ich bin einfach in das Leben dieser Frau getreten, für beide Seiten völlig unerwartet. Es gibt ein paar Charakteristika für dieses Verhältnis. Die beiden, Edda von Mildenstein und ihr Ehemann, sind sehr freundliche Menschen. Deshalb war es einerseits leichter für mich, mit ihnen zu arbeiten, andererseits aber auch schwieriger, weil es meine stereotypen Vorstellungen vor eine Herausforderung gestellt hat. Sie waren immer herzlich, haben mich nie abgelehnt, wenn ich mit ihnen drehen wollte. Ich habe sehr viele Gefühle für diese beiden Menschen, und ich denke, wir führen eine Art Freundschaft.
Als Zuschauerin empfand ich als sehr verstörend, dass Edda von Mildenstein die Verstrickung Ihres Vaters in das Nazi-Regime leugnete, selbst nachdem Sie ihr die Beweise aus dem Bundesarchiv zeigten.
Es ist interessant, dass Sie das so empfinden. Die meisten deutschen Zuschauer, die auf mich zukommen, reagieren genauso auf diese Filmszene. Ganz anders aber das israelische Publikum: Hier fragten mich viele, warum ich sie mit meinen Rechercheergebnissen über ihren Vater konfrontiert habe. Das fanden viele verstörend. Und es war tatsächlich sehr schwierig für mich, Edda von der Tätigkeit ihres Vaters im Propagandaministerium zu erzählen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, auch Psychologen konsultiert. Dennoch: Ich stehe voll und ganz hinter meiner Entscheidung. Ich wusste, dass ihr Vater ein aktiver Nazi im Regime war und wusste, dass es keine Alternative dazu gab, es ihr zu erzählen.
Wissen Sie, ob sich Edda von Mildensteins Haltung mittlerweile geändert hat?
Nein, das weiß ich nicht. Wir sind noch immer in Kontakt, aber über dieses Thema haben wir nie wieder offener gesprochen als im Film selbst. Wenn es von ihrer Seite kommt, spreche ich gern wieder mit ihnen darüber. Doch das Entscheidende ist: Es ist ihre Geschichte. Meine Geschichte ist die, die im Film erzählt wird.
Können Sie es ihr nachsehen, dass sie sich nicht eingesteht, wer ihr Vater war?
Ich verurteile sie nicht dafür. Sie ist ein Opfer. Ihr Vater war der Täter. Sie war die einzige Tochter eines sehr charismatischen Mannes. Ich halte es für natürlich, dass sie ihren Vater bewundert und es schwierig für sie ist, ihren Blick auf ihn zu verändern, angesichts seiner schwarzen Vergangenheit. Eine Erkenntnis, die ich aus dem Film mitgenommen habe, ist eine Parallele zwischen der Täter- und der Opfergesellschaft. Obwohl für lange Zeit weder in Deutschland noch in Israel über die Vergangenheit gesprochen wurde, wurde das Trauma auf die nachfolgenden Generationen übertragen. In gewisser Weise hat sich meine Mutter ähnlich wie Edda von Mildenstein verhalten. Auch sie wollte nicht zu tief in ihrer Vergangenheit graben. Meine Mutter hat das sehr deutlich gesagt, Edda von Mildenstein etwas eleganter.
Im Film können Sie Ihre skeptische Mutter schließlich überzeugen, Sie nach Berlin zu begleiten, wo sie ja noch geboren wurde. Sie erfahren dort von der Möglichkeit, Stolpersteine für Holocaust-Opfer verlegen zu lassen. Gibt es mittlerweile einen für Ihre ermordete Urgroßmutter?
Man stellt mir diese Frage oft, und normalerweise muss ich immer sagen: Der Prozess ist im Gange. Jetzt kann ich denselben Satz sagen, aber noch einen Termin dazu nennen. Am 23. Mai wird in Berlin unser Stolperstein verlegt.