Schwarzes Gold
Mündendorf ist eine fiktive deutsche Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets. Hier ist der Protagonist von Martin Beckers neuem Roman „Marschmusik“ aufgewachsen. Regelmäßig kommt er hierher zurück, um seine Mutter zu besuchen. Die Zeit in Mündendorf führt ihn auch zurück in die Vergangenheit und weckt die Erinnerung an einen Ort, eine Alltagskultur, die es so nicht mehr gibt.
Ein junger Mann kehrt zurück in seinen Heimatort irgendwo in der Provinz am Rande des Ruhrgebietes. Wie jedes Jahr besucht er dort seine vom zunehmenden Alter, vom Rauchen und vom Leben schlechthin gezeichnete Mutter. Der Vater ist bereits seit einigen Jahren tot.
Jetzt sind es noch wenige Meter zu Fuß. Ich könnte trödeln, aber es hilft ja nichts. Diesmal wird es nicht so schlimm, sage ich mir, während ich aus dem Linienbus steige. Ist ja nicht für lange. Unzählige Töchter und Söhne besuchen gerade ihre Familien. Oder das, was noch davon übrig ist. An Orten, die sie Heimat nennen.
Heimat, das ist ein schwieriger Begriff. Auch für den Autor, der sich seit Jahren daran abarbeitet und sich fragt, wo das eigentlich sein soll. „Dort, wo mir der Zungenschlag der Leute vertraut ist, wo ich die Gerüche schon seit meiner Kindheit kenne? Oder doch eher dort, wo diejenigen Menschen sind, die man liebt? Meine Heimat, um den Begriff jetzt doch mal zu benutzen, ist irgendwie schon der Ruhrpott – auch, wenn ich selten da bin“, sagt Martin Becker. In Leipzig habe er seine Vertrauten und Freunde. Doch es gebe für ihn noch eine dritte Heimat: „Definitiv Prag! So weit würde ich tatsächlich gehen. Weil es dort für mich – wiederum durch die Leute, die ich sehr, sehr mag – so eine Art Geborgenheit gibt, weil ich ein gewisses Ankommen spüre, wenn ich am Bahnhof aus dem Zug steige oder mit dem Flugzeug lande.“
Eine proletarische Kindheit
Beckers Roman baut sich über drei Erzählebenen auf. Da gibt es diesen jungen Mann, der in der Großstadt lebt und regelmäßig seine Familie oder das, was davon übrig geblieben ist, besucht. Dann wird der Leser durch Rückblenden in die Kindheit des Protagonisten geführt. Eine proletarische Kindheit mit all ihren Sorgen, Ängsten, aber auch Träumen. Zum Beispiel dem Traum, einmal bekannter Posaunist zu werden.
Die Stille vor dem ersten Ton. Eine Schützenhalle. Das große Konzert des Musikzugs. Mehrere hundert Leute sitzen auf ihren Stühlen, schauen mich an. Solo für Posaune und Blasorchester. Volkstümliche Fantasie über ein Motiv von Wolfgang Amadeus Mozart. Die Luft ist trocken. Im Publikum hustet jemand. Ich schwitze. Der erste Ton ist alles. Auf ihn kommt es an. Der Dirigent hebt den Stock. Das Orchester setzt ein. Ich konzentriere mich. Es ist mein erstes Solo. Es bleibt mein einziges Solo.
Die dritte Ebene rekonstruiert das Leben des Vaters, Jupp. Als Sohn eines Bergmanns kam für ihn nichts anderes in Frage kam, als ebenfalls unter Tage zu arbeiten, um später einmal heiraten, eine Familie gründen, ein Haus bauen zu können.
Der Mythos wird bleiben
So wie das Ruhrgebiet ist auch die Familie des Protagonisten durch den Steinkohleabbau geprägt. Der Vater war Bergmann, ebenso wie der Großvater und dessen Vater. Doch die große Zeit der Bergmänner, die das „schwarze Gold“ aus tiefen, stickigen Schächten nach oben fördern, ist vorbei. Und mit dem Kohleabbau droht auch der Verlust der kulturellen Identität des Ruhrgebietes. Seit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts war wohl keine Region in Deutschland so sehr vom Bergmannswesen geprägt wie der „Ruhrpott“. Wenn mit der Schließung der letzten Zeche die Kohlenindustrie verschwindet, bleiben nur die Erzählungen, die Erinnerung und schließlich der Mythos.
Während der Recherchearbeiten zu seinem Roman ist Martin Becker unter Tage gegangen. Eine unglaubliche Erfahrung, wie er sagt: „Es ist bis heute ein nicht zu beschreibendes Gefühl! Ich schleppe ja eine Vielzahl von Ängsten mit mir herum – gerade unter Tage hätte das alles ja eigentlich ausbrechen müssen – dem war aber nicht so. Ich war fasziniert von dieser Welt unter der Welt. Und davon, wie sehr die Bergarbeiter an ihrer Arbeit hängen, wie stolz sie auf das sind, was sie da tun.“
Becker taucht in seinem Buch nicht nur in die Vergangenheit einer Region ein. Er erforscht auch seine eigene Familiengeschichte, die durch seine Herkunft mitbestimmte Identität. Ähnlich wie der Protagonist seines Romans wurde er in einer sauerländischen Kleinstadt geboren, seine familiären Wurzeln sind jedoch im Ruhrgebiet, das für ihn nach wie vor ein wunderbarer Ort ist „mit einem unglaublichen Kulturangebot, mit viel Grün um die Städte herum, eben nicht mehr mit Kohlenstaub und schlechter Luft – was ich natürlich besonders liebe, das sind die Menschen: Im ersten Moment nicht selten wortkarg und etwas knurrig, aber unglaublich direkt und liebenswert – das kenne ich natürlich alles von meinem Vater, und deshalb ist es mir extrem nah.“
Marschmusik ist nicht nur eine Art liebevoller Nachruf auf eine regionale Kultur, die bald ausstirbt, sondern auch eine Rückkehr des Autors zu sich selbst. Vielleicht mag dem einen oder anderen Leser die Spannung bei der Story fehlen. Ein Manko ist das jedoch nicht. Vielmehr erlebt man, wie der Protagonist sich mit Feingefühl seiner selbst nähert in seinen Beobachtungen, seinen Erinnerungen und Gedanken. Und so wechselt der Roman zwischen Heiterkeit und Melancholie, zwischen Gegenwart und Vergangenheit einer Familie und einer ganzen Region, so bildhaft, dass man meinen könnte, die eigene Familiengeschichte zu lesen.