Kein schöner Land


Den Umgang mit Migranten in der BRD stellte der iranische Regisseur Sohrab Shahid Saless 1975 in seinem Film „In der Fremde“ dar. Vor dem Hintergrund der jüngsten Migrationsbewegungen in Mitteleuropa gewinnt der Film über 40 Jahre später neue Aktualität.
In der Fremde hat fast dokumentarischen Charakter: Wir sehen Husseyin an der Stanzmaschine, nach Dienstschluss mit einer Ledertasche die Fabrik verlassen, auf die West-Berliner U-Bahn warten, die Treppe der U-Bahnstation Moritzplatz und dann die in einem unsanierten Kreuzberger Altbau hoch schreiten, einer älteren deutschen Nachbarin „Guten Abend“ wünschen und seine Wohnungstür öffnen.
Es sind lange, statische Einstellungen: Bis Husseyin abends nach Hause kommt, vergehen fast zehn Minuten. Der Zuschauer erhält ungewöhnlich viel Raum und Zeit. Zeit, sich auf die Geschichte, die primär in Bildern erzählt wird, einzulassen, und Raum für Gedanken, die entstehen, wenn man Husseyin dabei zuschaut, wie er seinen Alltag in einer grauen, ihm verschlossenen Welt bewältigt.
„Ich will ganz einfache Szenen haben, und was darin passiert, ist das Wichtigste für mich“, sagt Regisseur Sohrab Shahid Saless einmal. „Das Wesentliche ist“, ergänzt er an anderer Stelle, „das Leben zu filmen, das auf eine sehr einfache Weise ziemlich kompliziert ist.“ *
In der Fremde ist eine deutsch-iranische Co-Produktion und läuft 1975 als iranischer Wettbewerbsbeitrag bei den 25. Internationalen Filmfestspielen von Berlin. Der Film findet große Beachtung und erhält den Fipresci-Preis, den Preis der internationalen Filmkritiker.
Es ist die Zeit, als Rainer Werner Fassbinder mit Angst essen Seele auf (1973) und Helma Sanders-Brahms mit Shirins Hochzeit (1975) Spielfilme drehen, in denen das Dasein von „Gastarbeitern“ und Ausländern in der Bundesrepublik, ihre soziale Situation und ihre kulturellen Zusammenstöße mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft nüchtern und ohne jede Beschönigung dargestellt werden.
Der 1944 in Teheran geborene Drehbuchautor und Regisseur Sohrab Shahid Saless stellt hier eine Ausnahme dar – denn das In-der-Fremde-Sein hat er am eigenen Leibe erfahren. Von 1963 bis 1968 lebt und studiert er in Wien und Paris, dreht danach im Iran Kurz- und Dokumentarfilme, um Ende 1974 als Schah-Gegner den Iran wiederum zu verlassen und ins West-Berliner Exil zu gehen.
„Noch einen Gastarbeiterfilm – das wollte ich nicht, sondern einen Film über das Wort ‚Elend‘, das ursprünglich einfach ‚Im anderen Land leben‘ bedeutete, dann ‚In der Fremde‘ hieß und einen immer schlechteren Klang bekam.“
Sohrab Shahid Saless über seinen Film In der Fremde
In seinem dritten Spielfilm In der Fremde lässt Shahid Saless eigene Erfahrungen einfließen, die er in Wien als Student, Portier, Treppen- und Fensterputzer gemacht hat. Hinzu kommen Erlebnisse in Deutschland, als er sich im Juni 1974 anlässlich der Präsentation seiner beiden im Iran produzierten Spielfilme Ein einfaches Ereignis und Stillleben in West-Berlin aufhält –noch als Gast, nicht Exilant. Die Beobachtungen hier inspirieren ihn zum Film: „Während der Berlinale habe ich bemerkt, dass es viele türkische Arbeiter gibt, die heute immer noch sehr schlecht behandelt werden. Sie sprechen fast kein Deutsch, haben fast keinen Kontakt zu Deutschen und leben im Ghetto.“ *

In der Fremde (Dar Ghorbat auf Persisch) ist eine präzise Beobachtung des Lebens von Menschen fern der Heimat. Der 30-jährige türkische Arbeiter Husseyin, dargestellt vom iranischen Schauspieler Parviz Sayyad, schuftet seit vier Jahren auf ein Ziel hin: So viel Geld zu verdienen, dass er heimkehren, ein Haus kaufen, die Zimmer vermieten und heiraten kann. So lässt sich das an Abwechslung und Unterhaltung arme Dasein im dunkel und rau gezeichneten West-Berlin ertragen.
Freude kann Husseyin nur selten empfinden. Seine Arbeit im Aluminiumwerk ist monoton. Der Lärm in der Fabrik groß. Beim Essen sitzt er neben den deutschen Arbeitern zwar an einem Tisch. Ins Gespräch kommen sie aber nicht. Höchstens begegnen sich ihre Blicke. „Dialoge“ laufen etwa so ab: „Na, schmeckt?“, wird Husseyin gefragt. „Ja, ja“, antwortet er. „Friss du weiter.“ Er, der kaum Deutsch spricht, freut sich schon über diesen minimalen Austausch. Er zaubert ihm ein Lächeln ins Gesicht.
Kreuzberger Nächte sind lang
In solchen Szenen spürt man regelrecht die Kälte, die in diesen Nicht-Beziehungen von deutschen und türkischen Arbeitern steckt, überhaupt in diesem gefühlsarmen, nur noch rein auf mechanische Arbeit ausgerichteten Dahinvegetieren. Zugleich spürt man Husseyins Bedürfnis nach Nähe. Um Frauen kennenzulernen, lässt er sich von einem türkischen Studenten, der mit ihm und anderen Arbeitern zusammen wohnt, etwas Deutsch beibringen. Versuche, Frauen mit Phrasen wie „Darf ich Sie begleiten?“ oder „Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?“ anzusprechen, führen ins Leere.
Wir beobachten Husseyin, wie er seine Freizeit allein totschlägt, auf dem Bett sitzt, sein Geld zählt und vor sich hin träumt. Dabei geht es ihm noch besser als seinen Mitbewohnern, die übrigens allesamt von Laien dargestellt werden. Neben dem Studenten, der als einziger Deutsch spricht, zählen Osman, seine Frau und Tochter, Kasim und ein Türke ohne Namen dazu. Osman sitzt seit Monaten arbeitslos zuhause und spielt Backgammon. Kasim muss in die Türkei zurück, um die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen, als er in einem Brief vom Tod seines Vaters erfährt. Und der namenlose Türke muss Deutschland verlassen, weil er keine Arbeitserlaubnis bekommt.
Durch die beinahe immer gleiche Abfolge der insgesamt sechs Tage im Film entsteht der Eindruck eines Kreislaufs, aus dem ein Entrinnen nicht möglich ist. Die ersten fünf Tage beginnen mit Husseyin an der Stanzmaschine. Der sechste Tag endet dort. Wie es für ihn weitergeht, bleibt zwar offen. Doch dass auch in dieser Welt voller Mühsal, Schweigen und Einsamkeit „Wunder“ geschehen und ein freundliches Zusammenkommen mit Deutschen doch möglich ist, erlebt er, als er eines Abends die Wohnungstür öffnet: Die anderen sitzen am Esstisch und blicken zu jemandem, der am Tischende sitzt – eine junge Frau namens Hannelore. Von ihr hatte der türkische Student mehrfach erzählt und sich Geld für Verabredungen geborgt. Die anderen hatten aber nicht gewusst, ob sie ihm glauben sollten, dass es sie wirklich gibt.
Die mit * versehenen Zitate von Sohrab Shahid Saless sind im Original auf Französisch. Übersetzungen von Alexandra Jarchau.
Mehr über Sohrab Shahid Saless auf jádu
Im Rahmen einer lockeren Serie stellen wir diesen und weitere Filme von Sohrab Shahid Saless vor:
#1 Das stille Leben: Über die Filme Hans – Ein Junge in Deutschland (BRD / ČSSR 1985) und Der Weidenbaum (BRD / ČSSR 1984).
„Es war wie im Freilichtstudio“: Interview mit Bert Schmidt, langjähriger Regieassistent von Sohrab Shahid Saless
#2 Kein schöner Land: Über den Film In der Fremde (BRD / Iran 1975)
#3 Die Ehe der Marianne Eschbach: Über den Film Empfänger unbekannt (BRD / Iran 1983)
#4 Kulturgut (im) Fernsehen: Interview mit Jürgen Breest, der als Fernsehredakteur an den Saless-Filmen Grabbes letzter Sommer (BRD 1980), Der Weidenbaum (BRD / ČSSR 1984) und Wechselbalg (1987) mitwirkte
Geboren 1981 in Urmia, Iran. Promovierter Germanist, freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Mehr Informationen unter behrangsamsami.com