Zwischen zwei Heimaten
Immer mehr junge Deutsche mit türkischen Wurzeln kehren Deutschland den Rücken, um im Heimatland ihrer Vorfahren ein neues Leben zu beginnen. Dort gelten sie als almancı: Deutschländer.
In Deutschland werden gerade die Enkel der türkischen Gastarbeiter, die Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland kamen, erwachsen. Sie beenden die Schule, studieren, machen eine Ausbildung, fangen an, zu arbeiten, und finden sich zurecht in ihrem Leben als junge Erwachsene, wie wir alle eben. Niemand würde sie, deren Familien oft schon in zweiter oder sogar dritter Generation in Deutschland leben, als Einwanderer bezeichnen.
Sie sind hier geboren und zur Schule gegangen, und die meisten von ihnen sind deutsche Staatsbürger. Gleichzeitig besitzen viele von ihnen auch die türkische Staatsbürgerschaft und sind zweisprachig aufgewachsen. Diese Voraussetzungen begünstigen ein Phänomen, das in den letzten Jahren immer häufiger auftritt: Junge Deutsche mit türkischen Wurzeln kehren der Bundesrepublik den Rücken, um in der Türkei ein neues Leben anzufangen.
Viele dieser „Rückkehrer“, wie sie sich selbst in Foren und Facebook-Gruppen nennen, landen im Ballungsraum Istanbul, aber auch außerhalb der Millionen-Metropole findet man viele von ihnen. Seit knapp zehn Jahren weist die deutsch-türkische „Migrationsbilanz“ ein Plus zugunsten der Türkei auf: im Schnitt wandern jährlich knapp 50.000 Menschen von Deutschland in die Türkei aus. In der Türkei gibt es für die Rückkehrer sogar einen eigenen Begriff, almancı, „Deutschländer“, der je nach Kontext mal liebevoll, mal abfällig verwendet wird. Vier junge Menschen erzählen, warum sie ausgewandert sind, wie sie den Übergang gemeistert haben, und ob sie Deutschland vermissen.
Wenn Leyla Ergeç (32) in Istanbul neue Leute kennenlernt, erwähnt sie ihre Herkunft nicht immer sofort. Als Tochter einer Deutschen und eines Türken ist sie zwar in Deutschland aufgewachsen und hat auch dort studiert, ist aber nach Abschluss ihres Modemanagement-Studiums in die Türkei gezogen. Als gut ausgebildete, zweisprachig aufgewachsene Fachkraft erhoffte sie sich gute Chancen im rasch wachsenden Modesektor in Istanbul. Ihre deutsche Identität, im Berufsleben durchaus von Vorteil, empfand sie im Alltag fast schon als hinderlich: „Ich will nicht aufgrund meiner Nationalität interessant sein für Andere, sondern mit meiner Persönlichkeit punkten.“
Auch wenn sie Bratwurst und deutsche Pünktlichkeit manchmal vermisst, zurück will sie nicht mehr. Leyla lebt seit 2007 in der Türkei, kehrte zwischenzeitlich für einen Job nach Düsseldorf zurück. Dort verdiente sie zwar mehr, fühlte sich aber so einsam, dass sie nach nur einem Jahr die Koffer packte und wieder nach Istanbul zog. „Hier haben die Menschen einfach weniger Berührungsängste untereinander und das Leben ist zwar chaotisch, aber gleichzeitig auch viel entspannter.“
Cem Gökçimen (27) hat zwar keine doppelte Staatsbürgerschaft, aber mit seiner mavi kart ist er im Grunde mit türkischen Staatsbürgern gleichgestellt: „Ich darf hier alles, außer wählen gehen.“ Der gebürtige Mönchengladbacher ist Sohn einer Deutschen und eines Türken, aber sein Vater, der damals zum Studieren nach Deutschland kam, vermisste seine Heimat und seine Familie so sehr, dass er mit Frau und Kindern zurück nach Izmir zog. „Meine Jugend und Pubertät in Izmir zu erleben hat mich sehr geprägt“, sagt Cem.
Zum Grafik-Studium kam er 2008 nach Deutschland, aber schon 2013 kehrte er wieder zurück nach Izmir, ebenfalls aus Heimweh, wie er verrät. „Ich hab mich dabei ertappt, wie ich abends allein zuhause saß, Raki trank und kitschige türkische Lieder hörte.“ In Izmir stieg er gleich ins Berufsleben ein, doch der eher triste Arbeitsalltag als Designer bei einem Hersteller für Tabakwaren-Kartons holte Cem, der nichts mehr liebt, als sich mit Zeichnungen, Bildern und Musik auszudrücken, schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Fest entschlossen, es nach seinen eigenen Regeln in der Türkei zu schaffen, zog er vor Kurzem nach Istanbul und gründete dort mit einem Jugendfreund ein Animationsstudio. Auch wenn er manchmal überlegt, wie es für ihn in Deutschland gelaufen wäre, ist er sich sicher, dass er in Istanbul bleiben will.
Für Melisa (23) ist die Metropole Istanbul ein Sehnsuchtsort, der sie immer wieder lockt, herausfordert und mitreißt. Die Medizinstudentin und Enkelin von Gastarbeitern, die schon ein Auslands-Schuljahr in Mexiko hinter sich hat, spricht vier Sprachen fließend und möchte sich später entweder auf Pädiatrie oder Neurologie spezialisieren. In Istanbul leistet sie bereits ihr zweites mehrmonatiges Praktikum, dieses Mal in einem Universitätskrankenhaus im Osten der Stadt. „Hier darf ich sogar mit in die OP. Die Notaufnahme ist ständig so voll, dass jeder mit ran muss. Man traut mir hier viel mehr zu als in einem deutschen Krankenhaus.” Auch Melisa ist deutsche Staatsbürgerin und Inhaberin einer sogenannten mavi kart, einer privilegierten Aufenthaltsgenehmigung für die Türkei mit Arbeitserlaubnis.
In Istanbul genießt sie nicht nur den Trubel der Großstadt, sondern auch die Tatsache, nicht mehr so sehr aufzufallen, auch wenn das im Umkehrschluss bedeutet, dass sie sich mehr anstrengen muss, um jemand Besonderes zu sein. „In Deutschland war der Alltagsrassismus manchmal kaum mehr zu ertragen. Insbesondere Patienten im Krankenhaus haben mich spüren lassen, dass sie meine Haare und meine Augenfarbe nicht normal fanden.“ Sorgen machen ihr in der Türkei allerdings der traditionell sehr starke Nationalismus und die Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung dauerhaft am Existenzminimum leben muss. Ob sie nach ihrem Studium in Deutschland wieder in die Türkei geht, weiß sie noch nicht. „Vielleicht gehe ich auch ganz woanders hin…“
Wenn man Tuğba Koyun (24) nach ihrer gefühlten Nationalität fragt, muss sie nicht lange überlegen: „Ich fühle mich eher als Deutsche und bin hier anfangs echt aufgefallen, nicht nur wegen meines Akzents.“ Nach ihrer Ausbildung als Ergotherapeutin in Deutschland bekam die Ulmerin und Enkelin türkischer Einwanderer 2014 ein Angebot, in einer Klinik in Denizli ein Praktikum zu machen. In der kleinen Stadt knapp 150 Kilometer nordwestlich von Antalya wie im Rest der Türkei ist Ergotherapie noch immer ein echtes Novum. „Anfangs kamen kaum Patienten zu uns, vielleicht zwei oder drei am Tag.“
Im Sommer 2015 hat Tuğba sich sogar selbständig gemacht mit einer eigenen Praxis, nicht zuletzt auch, weil sie mit den fehlenden Strukturen in der Klinik nicht zurecht kam. „Jetzt arbeite ich nach meinen eigenen Regeln, genauso, wie ich es in Deutschland machen würde.“ Trotz des beruflichen Erfolgs weiß sie nicht, ob sie dauerhaft in Denizli bleiben wird. An Deutschland vermisst sie vor allem ihre Familie.