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Ulrike Almut Sandig
Monster wie wir

Monsters Like Us
© Seagull Books

Die Nachwirkungen der deutschen Teilung sind auch nach der Wiedervereinigung 1990 noch zu spüren, die Narben, die sie hinterlassen hat, nie völlig verblasst. Dennoch waren Kunst und Literatur wichtige Mittel, um die Wunden zwischen Ost und West zu heilen. Der Roman Monster wie wir der deutschen Lyrikerin, Performancekünstlerin und Schriftstellerin Ulrike Almut Sandig spielt in Ostdeutschland an der Schwelle zu Freiheit und Wiedervereinigung, doch er handelt von Kindheitstraumata und davon, wie sie eine Person prägen. Bas Buch steckt voller Zartgefühl für seine gebrochenen Charaktere und wurde durch Übersetzerin Karen Leeder mit höchster Sorgfalt ins Englische übertragen, ohne dabei seine feinfühlige Prosa einzubüßen.

Von Prathap Nair


Sandig zählt Dichter*innen der indischen Neuromantik wie Mahadevi Varna, die kaschmirische Lyrikerin Naseem Shafaie, sowie den mizosprachigen Dichter Lalnunsanga Ralte zu ihren Lieblingspoet*innen und Schriftsteller*innen wie Arundhati Roy zu ihren Inspirationen. Hier spricht sie über ihren Roman Monster wie wir.

Der zeitgenössischen deutschen Literatur bietet das einst geteilte Deutschland fruchtbaren Boden. Was sagen Sie zum Einfluss der DDR auf das kollektive deutsche Gedächtnis und die deutsche Literatur?

Ich würde sagen, es gibt kein großes öffentliches Bewusstsein dafür, dass ein bedeutender Teil der deutschen Bevölkerung in einer sozialistischen Diktatur aufgewachsen ist. Ostdeutsche jeden Alters teilen wohl das Gefühl, dass nichts mehr schmeckt oder riecht wie in ihrer Kindheit. Ein Jahr früher oder später geboren zu sein entschied, ob man noch Russisch in der Schule lernte oder nicht und, viel wichtiger, ob man fürchten musste, von der Stasi genötigt zu werden, Berichte über Freund*innen und Familie zu schreiben, oder ob die Mitgliedschaft in irgendeiner nutzlosen Organisation genügte, um zu beweisen, dass man auf der richtigen Seite stand. Schriftsteller*innen wie Lutz Seiler, Katja Oskamp oder Clemens Meyer haben die Weltliteratur um ostdeutsche Perspektiven bereichert. Aber durchschnittliche Deutsche ohne ostdeutschen Hintergrund würden die Wiedervereinigung wohl nicht als wichtige persönliche Erinnerung betrachten. In einem zusammenbrechenden und zutiefst absurden System aufgewachsen zu sein, prägt unseren Blick auf aktuelle politische Geschehnisse wie den russischen Imperialismus und das Erstarken der extremen Rechten, das besonders in den ostdeutschen Bundesländern zu beobachten ist. 

Obwohl Ihr Buch ein Bildungsroman ist, der in Ostdeutschland spielt, handelt er von persönlichen Monstern und nicht von politischen. Ruth und Viktor sind durch Kindheitstraumata verbunden, die sich schließlich auch auf ihr Erwachsenenleben auswirken. Auf welche Weise sind sie aus Ihrem Schreibprozess hervorgegangen?  

Ich bin selbst Ostdeutsche und mache vielleicht daher keinen großen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Trauma. Ich kenne zu viele Familien, die erfahren haben, wie das eine das andere beeinflusst. Sexueller Missbrauch kommt in sämtlichen sozialen Umfeldern vor, doch die Fähigkeit, ihn zu kommunizieren und Hilfe zu finden, hängt davon ab, wie man aufgewachsen ist. Viktor ist eine Figur, die ich entwickelt habe, lange, bevor ich entschied, diesen Roman zu schreiben. Ich arbeitete damals an einer Art Science-Fiction-Geschichte über einen jungen Mann, der seinen Weg nach Westeuropa sucht. Doch als ich diese Geschichte entwarf, kam das Thema sexueller Gewalt auf, was mir Angst machte. Meine eigene Tochter war damals noch sehr klein und ich fand es schwierig, mich in die Thematik zu vertiefen. Also schrieb ich stattdessen zwei andere Bücher. Danach kehrte ich zu dem Roman zurück, indem ich Menschen nach ihren Erfahrungen mit sexueller Gewalt fragte; ich hörte viele grausame Geschichten. Daher dachte ich, ich muss Viktor eine Kindheitsfreundin zur Seite stellen. So wurde Ruth geboren. Ich wollte ihre Kindheit nicht als traumatisch, sondern als normal darstellen – nach ihren eigenen Maßstäben. Sie erlebten Trauma, aber sie waren auch ganz normale ostdeutsche Kinder, Freund*innen, trotz all ihrer Unterschiede.

Sie gelten in Deutschland als verdiente Dichterin. Können Sie uns von Ihrem Wechsel von der Lyrik zur Prosa mit „Monster wie wir“ erzählen?

Es fühlte sich nicht an als würde ich das Genre wechseln. Neben einigen Gedichtbänden hatte ich bereits zwei Sammlungen von Geschichten veröffentlicht, die zugegebenermaßen mit der Zeit immer länger geworden waren. Doch vor allem schreibe ich all meine Erzählliteratur mit derselben grundlegenden Technik. Es gibt kaum handschriftliche Notizen, keine Pinnwände, keine schematischen Handlungsstränge – nichts von dem, was, wie ich höre, Romanautor*innen tun sollten. Egal ob Gedicht oder Roman, ich schreibe ohne Netz und doppelten Boden, ich folge einfach dem Klang der Sprache und den Fragen, die in mir aufsteigen.

In „Monster wie wir“ behandeln Sie schwierige Themen mit viel Feingefühl. Was ist Ihr Ansatz beim Schreiben über Gewalt, sexuellen Missbrauch und dysfunktionale Familien? 

Es brauchte Jahre, bis ich den Mut zu diesem Buch fand. Doch als ich einmal begonnen hatte, fand ich heraus, dass die glücklichen und manchmal sogar komischen Momente der Geschichte mir über die schwierigen hinweghalfen. Es machte mir Spaß, mir den Neonazi Viktor bei der Arbeit als Kindermädchen für eine intellektuelle französische Familie vorzustellen und dann, im letzten Teil des Buches (Spoiler), wie Ruth das Auto ihres Freundes in den Abgrund eines Kohletagebaus schiebt und wie Viktor Rache nimmt an dem französischen Vater, der seinen Stiefsohn sexuell missbraucht. Ruth und Viktor wachsen von zerbrechlichen, traumatisierten Kindern zu selbstbewussten Erwachsenen heran, jeweils auf ihre eigene Weise.

Musik ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Sie sind Klangkünstlerin und kollaborieren für ihre Gedichtperformances mit verschiedenen Musiker*innen aus aller Welt (darunter die Fusion-Rockband Alif aus Kaschmir). Erzählen Sie uns, inwiefern Musik Ihre Prosa beeinflusst – denn auch „Monster wie wir“  ist mit Verweisen auf klassische Musik durchsetzt. 

Als Dichterin war mir schon immer der Klang der Dinge wichtig. Ich habe einen Hintergrund in der Popmusik, aber ich liebe auch klassische Musik und singe in einem Chor für Renaissance-Musik. Der Roman Monster wie wir wird von Ruth erzählt, die in ihrer Kindheit Violin- und Klavierspiel lernt und später eine international erfolgreiche Pianistin wird. Ich habe keine Musik gehört, während ich an dem Roman schrieb, aber Beethovens Klaviersonate Nr. 14, deren erster Teil als Mondscheinsonate bekannt ist, lieferte mir die Struktur für jeden Abschnitt. Ich nahm ihr Tempo und ihren Charakter in jedem der drei Teile des Romans auf und zog oft die Partitur zu Rate, um sicherzugehen, dass ich Beethoven noch immer folgte. Dabei wurde der Mond zu einem wiederkehrenden Motiv in meinem Text, stummer Zeuge der Gewalt, die sich dort abspielte.

Wer sind Ihre Lieblingsschriftsteller*innen? Lesen Sie indische Autor*innen?

Ja! Ich hatte vor Jahrzehnten das Glück, Indologie zu studieren. Sanskrit war nicht mein stärkstes Fach, aber ich denke, alte Texte wie das Panchatantra halfen mir zu verstehen, dass das Metrum der physische und emotionale Herzschlag der Lyrik ist und wie Mythen unsere Narrative prägen. Später entdeckte ich neuromantische Dichter*innen wie Mahadevi Varma und die Nayi-Kavita-Bewegung und verliebte mich in Harivansh Rai Bachchans Madhushala. Ich könnte heute keine Hindi-Literatur mehr lesen, aber es gibt so viel an indischer Kultur und Sprache in Übersetzung zu entdecken, wie die kaschmirische Dichterin Naseem Shafaie oder den Mizo-Dichter Lalnunsanga Ralte (Sanga Says). Ich bin ein großer Fan von Tishani Doshi, mit der ich 2022 sogar ein Gedicht verfasst habe. Bei der Arbeit an Monster wie wir habe ich versucht, Worte so zart und schneidend zu finden wie in Arundhati Roys Roman Der Gott der kleinen Dinge, der in Deutschland ein großer Erfolg war.
 
Karen Leeder © Karen Leeder Anmerkungen der Übersetzerin: Prof. Karen Leeder zu ihrer Arbeit an Monster wie wir

Monster wie wir zu übersetzen, war eine besondere Erfahrung und eine Herausforderung. Es ist ein Buch voller Anmut und Zartheit, Humor und Lyrismus. Aber es ist auch ein Buch, das Gewalt und Missbrauch beschreibt.  Es war mir wichtig, den richtigen Ton zu treffen. Im Deutschen wird vieles zwischen den Zeilen gesagt, Dinge, die zwischen unterdrückten Erinnerungen, Wissen und Träumen in der Schwebe sind. Tatsächlich handelt das Buch von den Geschichten (und Lügen), die wir uns selbst erzählen, um mit solchem Wissen leben zu können. Es war wichtig, diese traumähnliche Qualität beizubehalten, ohne die Wahrheiten zu opfern, die gehört werden wollen. Ich habe bereits in der Vergangenheit Gedichte von Ulrike Almut Sandig übersetzt und bin vertraut mit ihrer Musikalität, ihrem Zorn und ihrer Ironie. Auch mit ihrem Anspruch: Es ist ein sehr politisches Buch, das auf verschiedenen Ebenen funktioniert. Das Neue war, diese fantastischen Figuren kennenzulernen; Figuren, deren Stimmen ich am Ende in meinem Kopf hören konnte. Übersetzungen sind wichtig, vor allem in einer globalisierten Gesellschaft. Sie halten uns am Leben und eröffnen uns die Welt. Dieses Buch beispielsweise zeigt die Brutalität und Absurdität des totalitären ostdeutschen Staates, aber auch die Gewalt und das Chaos, die hereinströmten um die Leere nach seinem Zusammenbruch zu füllen. Wir erfahren, verstehen und können unser Mitfühlen auf dieses andere Leben ausdehnen – in seinem vollsten Sinne.

Über die autorin

Ulrike Almut Sandig © Ulrike Almut Sandig Ulrike Almut Sandig lebt als Schriftstellerin und Performancedichterin in Berlin. Sie veröffentlichte Gedichte und Erzählungen, Musikalben und Hörspiele sowie den vielgelobten Roman Monster wie wir. Als Frontfrau des deutsch-ukrainischen Poesiekollektivs „Landschaft“ bringt sie in einer Fusion mit Film und elektronischer Musik Gedichte zum Tanzen. Für ihre Bühnenperformances übersetzt sie oft Lyrik aus anderen Sprachen, vor allem aus dem Englischen und Ukrainischen. Zuletzt erschien ihre Nachdichtung von »Funkhaus«, den Gedichten der queeren Māori-Dichterin Hinemoana Baker.
Sie schreibt auch für die Sprachkolumne des Goethe-Instituts.

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