Digitale Plattformen neu denken
„Um digitale Plattformen zu erneuern, müssen wir sie auch zurückerobern.“

Digitale Plattformen neu denken
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Welchen Einfluss hatten digitale Plattformen in den vergangenen zwei Jahrzehnten? Die Autorin setzt sich über persönliche Einblicke in die Welt der sozialen Medien mit Themen wie Datenhunger, bedrohter Privatsphäre und strengeren Benutzerkontrollen auseinander.

Von Tanvi Negi

Mein privates Facebook-Konto habe ich 2012 gelöscht, bevor ich 2019 schließlich X (ehemals Twitter) den Rücken kehrte. Ein Leben ohne Twitter fiel mir zunächst nicht leicht, denn ich habe regelmäßig gepostet. Nachdem ich Jahre damit verbracht hatte, meine Liste der gefolgten Personen und Konten sorgfältig zu kuratieren, war mein Feed am Ende voll mit Beiträgen geistreicher, intelligenter Menschen, die zu aktuellen Themen posteten oder sich die Mühe machten, mit einer ganzen Serie von Posts komplexe Sachverhalte ausführlich zu erläutern.

Nach meinem Rückzug aus dieser Welt machte ich mich auf die Suche nach Möglichkeiten, informiert zu sein, ohne in Inhalten zu versinken. Aus meinem Freundeskreis bekomme ich DMs mit lustigen Social-Media-Inhalten. So kann ich Spaß haben, ohne mich von polarisierenden Diskursen oder ermüdenden Verschwörungstheorien aufreiben zu lassen. Und ich kann mit engen Freund*innen gemeinsam lachen, was unglaublich wichtig ist. Manchmal nutze ich YouTube und LinkedIn, um mich zu informieren und zu unterhalten. Wichtige Nachrichten und Informationen bekomme ich über Zeitschriften, Newsletter und Kanäle, die ich abonniert habe.

Von der Utopie zur Realität

Wie jeder vernünftig denkende Erwachsene mache ich mir Sorgen über den übermäßigen und oftmals unvorhergesehenen Einfluss, den digitale Plattformen und insbesondere Social-Media-Plattformen in den letzten zwei Jahrzehnten hatten. In der Anfangszeit der Social-Media-Plattformen hingen ihre Gründer*innen noch der utopischen Vision an, die ganze Welt miteinander zu verbinden. Tatsächlich ist unsere Welt kleiner geworden. Und die persönlichen Unterhaltungen mit Unbekannten waren sehr aufregend. Hätte damals jemand vorhersagen können, dass das Bedürfnis der Plattformen, die Aufmerksamkeit und Zeit der Nutzenden zu Geld zu machen, einen Hunger nach Daten sowie Online-Belästigung und in Extremfällen sogar eine Bedrohung der persönlichen Privatsphäre und der Souveränität eines Staates zur Folge haben könnte?

Nichtsdestotrotz haben Social Media und insbesondere Plattformen mit großer Reichweite wie Instagram, YouTube und Tiktok erfolgreich dazu beigetragen, dass Autor*innen im ländlichen Assam Beiträge zur lokalen Küche ihrer Region für eine über die ganze Welt verstreute Diaspora posten können – und zwar ohne den Einfluss traditioneller Gatekeeper. Plattformen wie Facebook, Instagram und YouTube werben immer häufiger auch in Regionalsprachen um ihr Publikum und um Content-Creator. Laut Angaben von Forbes wurden 2020 sage und schreibe 95 % aller auf YouTube aufgerufenen Videos in indischen Sprachen veröffentlicht. Heute wollen viele nicht mehr nur Inhalte konsumieren, sondern diese auch selbst als Influencer gestalten. Dabei hilft ihnen die große Reichweite dieser Plattformen.

Belästigung auf digitalen Plattformen

Wie in echten, physischen Räumen gibt es auch bei der Teilhabe von Frauen in digitalen öffentlichen Räumen eine Schieflage. Mit Sicherheit ist die Belästigung von Frauen auf digitalen Plattformen nicht auf Indien und auch nicht auf soziale Medien beschränkt. Frauen in aller Welt, die ihre Meinung öffentlich kundtun, müssen sich viel zu oft Androhungen extremer körperlicher Gewalt oder den Vorwurf gefallen lassen, zu gereizt oder emotional zu argumentieren. In Indien haben Journalistinnen, die ihre Ansichten in sozialen Medien verbreiten, nicht nur mit Kritik oder mit Trollen, sondern vielfach sogar mit persönlichen Beleidigungen zu kämpfen, die auf ihr Aussehen, ihre Kleidung oder ihre privaten Lebensentscheidungen abzielen. Und auch wenn sich diese Frauen weiterhin mutig auf solchen Plattformen der Öffentlichkeit stellen, zahlen sie mit Sicherheit einen hohen emotionalen Preis dafür, dass sie sich zur Zielscheibe von so viel Wut und Hasskommentaren machen. Es gab einen entsetzlichen Vorfall, bei dem muslimische Frauen mit ihren Fotos und persönlichen Daten auf Twitter und GitHub beleidigt wurden. Angesichts der Tatsache, dass sich Frauenfeinde und religiöse Fanatiker so leicht auf digitalen Plattformen verbinden können, wächst die Sorge, dass sich Hasskampagnen wie diese „Sulli Deals“ gegen gesellschaftliche Minderheiten wiederholen könnten.

In einem Land mit einer Geschlechterkluft vom 40 % beim mobilen Internetzugang steigt mit dem Fehlen eines sicheren Raums der Teilhabe an digitalen Plattformen auch die Wahrscheinlichkeit, dass Familienangehörige und Partner die Aktivitäten von Frauen und jungen Mädchen auf diesen Plattformen überwachen. Es ist ein Teufelskreis, in dem die Gefahr einer unsicheren Interaktion auf digitalen Plattformen dazu führt, dass sich weniger Frauen beteiligen oder ganz zurückziehen und diese Räume damit ausschließender und frauenfeindlicher werden. Was nicht nur die Qualität des öffentlichen Diskurses mindert, sondern Frauen auch am Zugang zu Möglichkeiten der persönlichen und beruflichen Fortentwicklung, des Wissenserwerbs und der Vernetzung und Kommunikation mit ähnlich gesinnten Menschen hindern. Und Frauen sind nicht die einzige Gruppe, die auf diesen Plattformen belästigt wird – auch religiöse und geschlechtsspezifische Minderheiten fallen hier Schikanen zum Opfer.

Wie könnte eine ideale Plattform aussehen?

Stellen wir uns einmal eine digitale Plattform wie einen öffentlichen Park vor, der für alle zugänglich ist. Hier ist der Raum an sich variabel und kann von verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Zwecken genutzt werden. Vielleicht kommen Menschen hier zusammen, um sich über gemeinsame Ansichten, Interessen und Identitäten miteinander zu verbinden. Die Nutzenden könnten selbst entscheiden, inwieweit Algorithmen einen Einfluss auf ihre Erfahrungen haben sollen und wie viele Daten sie mit der Plattform teilen möchten. Eine andere Plattform könnte Nutzende dazu motivieren, bei der Abmeldung ihre digitale Entgiftung mit der Gesundheit einer organischen Lebensform (einer Pflanze) zu verbinden! Denkbar wäre auch eine Gemeinschaft ehrenamtlicher „Piraten“, die das Bewusstsein der Nutzenden dafür schärft, wie sie auf digitalen Plattformen agieren, und gleichzeitig sicherstellt, dass die digitalen Plattformen selbst Inklusion, Gleichberechtigung und Freiheit von Belästigung gewährleisten.

Letzten Endes sollten diese Plattformen auf eine völlig Neuausrichtung digitaler sozialer Interaktionen ausgerichtet sein, indem sie eine sichere und respektvolle Umgebung frei von Schikane, Tracking und Manipulation bieten. Zu diesem Zweck wäre es umso notwendiger, das Bewusstsein der Nutzenden für die Förderung eines höflichen und respektvollen Umgangs – auch bei Online-Streitgesprächen – und einer algorithmischen Kompetenz zu schärfen, damit die Nutzenden von einer Plattform und ihren personalisierten Feeds nicht zu stark beeinflusst werden. Um digitale Plattformen zu erneuern, müssen wir sie auch als Räume zurückerobern, die wir durch unsere Anwesenheit oder Abwesenheit prägen.

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