Julia von Lucadou
Die Hochhausspringerin 

The High-Rise Diver
© Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan

In ihrem Debütroman Die Hochhausspringerin entwirft die deutsche Schriftstellerin Julia von Lucadou eine Gesellschaft in der Überwachung zur Norm geworden ist und der Wert einer Person sich alleine an deren Leistungsdaten bemisst – es ist ein Blick in eine dystopischen Zukunft, der nachdenklich macht.

Von Prathap Nair

Die Angst, von unbekannten Mächten überwacht zu werden, beschäftigt die Popkultur Zeit ihres Bestehens. In mancher Hinsicht ist diese von George Orwell und Ursula K. Le Guin vorhergesehene Dystopie in unserer Ära der digitalen Datensammlung bereits Wirklichkeit geworden. Viele sind der Meinung, wir lebten schon jetzt in einer Welt, in der jede unserer Bewegungen aufgezeichnet wird und in der wir dafür belohnt werden, stets online zu sein.

Das Romandebüt der deutschen Schriftstellerin Julia von Lucadou, Die Hochhausspringerin, malt eine Welt aus, in der ständige Überwachung Normalität ist und der Wert einer Person nach ihren Leistungsdaten bestimmt wird. In einer namenlosen Megastadt der Zukunft ringen die Protagonistinnen des Buches, Hitomi Yoshida und Riva Karnovsky, mit einem System, das den Humanismus abgeschafft und Menschen zu Maschinen degradiert hat.

Das Werk lässt sich lesen als raffinierter neoexpressionistischer Roman in Black-Mirror-Ästhetik oder als eindrückliche Warnung vor einer Zukunft des ungebändigten Überwachungskapitalismus. Übersetzerin Sharmila Cohen hat Die Hochhausspringerin in makelloses Englisch übertragen und so für alle Nicht-Deutschkundigen einen perfekten Einstieg in die postmoderne deutsche Literatur geschaffen.

JULIA ÜBER IHR BUCH „The High-Rise Diver“


In diesem kurzen Interview spricht Julia von Lucadou darüber, was der Roman ihr bedeutet.

Warum haben Sie sich entschieden als Erstlingswerk einen dystopischen Science-Fiction-Roman zu schreiben und was sind Ihre literarischen Vorbilder für Die Hochhausspringerin?

Bevor ich mich entschloss, Schriftstellerin zu werden, habe ich in der Film- und Fernsehbranche gearbeitet und am eigenen Leib – und der eigenen Seele – die Auswirkungen des kapitalistischen Leistungsdrucks zu spüren bekommen. Mein Selbstwert war völlig von meiner beruflichen Leistung abhängig und ich war bereit, mich selbst bis an meine Grenzen auszubeuten, für einen Konzern, dem mein Wohlergehen völlig gleichgültig war. Als mir klar wurde wie ungesund diese Einstellung ist, wollte ich nachspüren, weshalb ich so dachte. Durch die Recherche und das Verfassen des Romans begann ich, mich selbst und meine Kolleg*innen besser zu verstehen – und die Rolle der modernen Gesellschaft und ihrer Technologien. Für mich war und ist der dystopische Roman ein hervorragendes Medium, um unsere Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und mögliche Folgen unserer Lebensweise durchzuspielen.

Ich bewundere Romane wie 1984 von George Orwell oder Der Report der Magd von Margaret Atwood für ihre intelligente Analyse und ihre packende aber auch unterhaltsame dystopische Atmosphäre.

Können Sie uns etwas zur Bedeutung ihres Romans im derzeitigen globalen politischen Klima sagen, in dem staatliche Überwachung beinahe Normalität ist?

Man kann diesen Roman als dystopisc oder Science Fiction bezeichnen, aber er basiert auf meinen Erfahrungen in der Welt, in der wir leben. Fast die gesamte Technologie des Buches existiert bereits in irgendeiner Form. Wir alle tragen Überwachungsgeräte wie Smartphones mit uns wo wir auch hingehen, und gewähren freien Zugang zu unseren privatesten Daten. Die so gesammelten Informationen werden schon heute genutzt, um uns zu diskriminieren und zu beeinflussen – in manchen Staaten durch autoritäre Regime, in anderen durch Großkonzerne oder mächtige Institutionen wie Polizei, politische Parteien oder Krankenversicherungen.

Die Welt der nahen Zukunft, in der die Hauptcharaktere des Buches Riva und Hitomi leben, zwingt ihre BewohnerInnen in eine Rückkopplungsschleife aus Erfolg und Perfektion. So gelesen, ist der Roman auch ein Kommentar zum nie enden wollenden kapitalistischen Streben nach Wachstum und Gewinn. Was sagen Sie dazu?

Meine eigene Arbeitserfahrung hat mich gelehrt, dass die Besessenheit von Produktivität und Perfektion uns nicht glücklich macht, obwohl das das Versprechen ist. Der kapitalistische Traum besagt: Wenn du nur hart genug arbeitest, wirst du reich und glücklich sein. Das ist ein verlockendes Versprechen. Ich habe daran geglaubt, denn es war auch für mich verlockend – und ich habe mich abgerackert, bis zum Burnout. Wir leben in einer Welt, in der wir mit uns selbst und mit unseresgleichen in einem ständigen Wettbewerb stehen, der durch die zahlreichen Mess- und Vergleichswerkzeuge wie soziale Medien und Aktivitäts-Tracker nur noch verschärft wird.

Sie haben einen Doktortitel in Filmwissenschaft. Hat er dabei geholfen, die Vision einer nahen Zukunft, steril und unter ständiger Beobachtung, zu entwerfen?

Auf jeden Fall! Die Idee, die Geschichte größtenteils durch die kalte Linse einer Überwachungskamera zu erzählen, stammt aus meiner Arbeit an und mit Filmen. Ich denke und schreibe deshalb auch sehr visuell. Mir gefällt, wie visuelle Erzählkunst uns tief in eine Atmosphäre oder Emotion eintauchen lässt. Und das versuche ich in meinem Roman umzusetzen.

Können Sie uns einen knappen Überblick über die zeitgenössische deutsche Literaturszene geben und verraten, wo man als Nicht-DeutschsprecherIn mit deutschen Büchern in englischer Übersetzung einsteigen könnte?

Die zeitgenössische deutsche Literatur ist – wie jede Literatur – sehr vielfältig. Ich persönlich mag Literatur, die sich mit der Welt in der wir leben, auseinandersetzt. Es gibt zurzeit viele tolle deutsche Romane, die von Rassismus handeln, Genderpolitik oder Klimawandel. Olivia Wenzel oder Kim de l’Horizon, um nur zwei Autor*innen zu nennen. Ich freue mich, von solchen Schriftsteller*innen umgeben zu sein, die zu wichtigen Debatten beitragen, ihre LeserInnen zum Nachdenken anhalten und deren Sorgen aufnehmen.

Lesen Sie indische AutorInnen? Falls ja, was haben Sie kürzlich mit Vergnügen gelesen?

Ich muss gestehen, ich kenne nicht viele. Ich habe die „großen Namen“ wie Salman Rushdie gelesen, Arundhait Roy, Vikram Seth und Rohinton Mistry. Deshalb freue ich mich darauf, die indische Literaturlandschaft bei meinem Besuch besser kennenzulernen. Ich lerne immer gerne dazu.

Sharmila Cohen © © Sharmila Cohen Sharmila Cohen © Sharmila Cohen
Anmerkungen der Übersetzer*in: Sharmila Cohen spricht über ihre Arbeit an Die Hochhausspringerin und die Bedeutung literarischer Übersetzungen.


Julia von Lucadous sprachliche Präzision war zugleich Geschenk und Herausforderung. In gewisser Hinsicht machte es meine Aufgabe leichter, an einem so klar geschriebenen Text zu arbeiten – als ob man ein völlig scharfes Foto vor sich hätte.  Andererseits spielte die Sprache eine so große Rolle im Entwurf dieser zukünftigen Dystopie und darin, sie wirklich erscheinen zu lassen, dass es extrem wichtig war, ihr vollauf gerecht zu werden. Ich brütete über einzelnen Wörtern und änderte sie mehrmals, spürte ihnen nach, bis sie genau passten. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Dieser Ausdruck klingt so futuristisch, aber auch vertraut und gegenwärtig, und gleichzeitig drückt er einen dystopischen, kapitalistischen Fortschrittsglauben aus.“

Literarische Übersetzungen sind wichtig. Sie spielen nicht nur eine Rolle, sondern viele: Sie bewahren Sprache und Kultur, ermöglichen Verständnis, machen marginalisierte Stimmen hörbar und tragen zum globalen Schmelztiegel bei, während sie gleichzeitig den Kontext anderer Kulturen sichtbar machen. Ich stelle mir Übersetzungen als Brücken vor, anstatt eines Zielortes. Man muss sie überschreiten, aber sie lassen einem immer den Weg offen zurück zu seinem Ausgangspunkt.

Über die Autorin


Julia von Lucadou © © Julia von Lucadou Julia von Lucadou © Julia von Lucadou
Julia von Lucadou wurde 1982 in Heidelberg geboren und ist Filmwissenschaftlerin und Autorin. Sie arbeitete als Regieassistentin, Fernsehredakteurin und Simulationspatientin. Ihr erster Roman „Die Hochhausspringerin“ (Hanser Berlin, 2018) wurde mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet, stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde ins Englische, Italienische und Französische übersetzt. 2022 erschien ihr zweiter Roman „Tick Tack“ (Hanser Berlin), der 2023 am Residenztheater München für die Bühne adaptiert wurde.

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