36,9°

Gramsci's Fall
Nora Bossong © Brost-Stiftung and Christian Deutscher

„Die zentralen Fragen meines Romans drehen sich um die Kraft des Individuums, zu lieben; die politische Macht, die Gesellschaft zu verbessern und den Kampf für die, die zu schwach sind, um für sich selbst aufzustehen.“

Der Roman 36,9° der deutschen Schriftstellerin Nora Bossong erzählt von den Hoffnungen und Enttäuschungen einer Revolution.

Von Prathap Nair

Das Leben des italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci bietet ausreichend Stoff für mehrere Polit-Thriller. Gramsci war eine der prägenden Figuren des italienischen Marxismus der 20er und 30er Jahre und ein entschiedener Kritiker der Herrschaft Mussolinis, was schließlich zu seiner Verhaftung führte. Gramsci, der bis heute als einer der bedeutendsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts gilt, starb im Alter von nur 46 Jahren. Doch er hinterließ einen Schatz an Schriften, in Form seiner „Gefängnishefte“, in denen er seine politische Theorie entwickelte, sowie zahlreicher Briefe, die er aus der Haft an ihm nahestehende Personen schrieb.

„Der sogenannte Eurokommunismus erschien einst als vielversprechende Idee…“

Nora Bossong in 36,9°

„36,9°“ der deutschen Schriftstellerin Nora Bossong erzählt von den Hoffnungen und Enttäuschungen einer Revolution. Für ihre Neufassung von Gramscis Leben konstruiert Bossong eine Parallelhandlung in der Gegenwart, die sich um den selbstbezogenen Akademiker Anton Stöver dreht. Präzise ins Englische übertragen durch Alexander Booth behält der Roman, der auf Englisch „Gramsci’s Fall“ heißt, den atmosphärischen Tonfall des Originals bei. Das eindrückliche Porträt Gramscis zeigt die persönlichen Kämpfe des Revolutionärs.

Nora über ihr buch „Gramsci’s Fall“


In diesem kurzen Interview spricht Nora Bossong darüber, was der Roman ihr bedeutet.

Warum ließen Sie gerade Gramsci wiederauferstehen, der sonst fast nur im akademischen Kontext diskutiert wird?

Es stimmt nicht, dass Gramsci heute nur noch eine akademische Fußnote ist. Er gilt immer noch als einer der wichtigsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts in Europa – ob in Frankreich, Italien oder Deutschland. Er sorgt weiter für Diskussionen zwischen linken Intellektuellen und Politikern und Anhängern des rechten Spektrums. In den 1970ern war Gramsci eine Ikone westlicher Sozialisten und Kommunisten (der sogenannte Eurokommunismus erschien der Linken als vielversprechende Idee, denn er wirkte wie ein Kompromiss zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem Sowjet-Kommunismus.) Selbst Alain de Benoît, der wichtigste Kopf der Nouvelle Droit, eines rechtsextremistischen Thinktanks in Frankreich, nimmt Gramscis Ideen zu Revolution und Macht von Neuem auf.

Was war Ihr Vorgehen, um zu vermeiden, die fiktive Version der historischen Figur Gramscis zu romantisieren?

Es gibt viele Quellen, die uns sein Leben und sein Umfeld begreiflich machen, auch seine Emotionen, Gedanken und Sorgen bezüglich privater Beziehungen. Alleine die Gefängnishefte umfassen Tausende von Seiten und bieten tiefe Einblicke. Dann haben wir Hunderte von Seiten an Briefen, darunter die von seiner Frau und ihren Schwestern. Außerdem gibt es Dokumente von wichtigen Mitgliedern der Kommunistischen Partei Italiens und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sowie offizielle Dokumente aus dem innersten Kreis der Partei. Wir besitzen eine Fülle von Dokumenten zum Nachleben Gramscis, der, wie ich bereits sagte, für verschiedenen Gruppen eine Ikone war.

Sowohl Gramsci als auch Stöver sind voller Liebesschmerz. Doch der eine ist ein Revolutionär, der andere eher ein Durchschnittstyp. Welcher der beiden war schwieriger zu schreiben und welcher machte Ihnen mehr Spaß?

Gramscis Geschichte enthält mehr Bitterkeit und Schwere. Stöver auf der anderen Seite hat keine Ideale mehr, er ist egoistisch und könnte als überzeichneter Vertreter einer politischen Linken bezeichnet werden, die ihren Fokus verloren hat. Die Szenen mit Stöver sind humorvoller, lustiger; die mit Gramsci sind emotionaler. Sie ergänzen sich, wie ein Paar, das um die zentralen Fragen des Romans tanzt, die sich um die Kraft des Individuums, zu lieben drehen; die politische Macht, die Gesellschaft zu verbessern und den Kampf für die, die zu schwach sind, um für sich selbst aufzustehen.

Was würde eine Persönlichkeit wie Gramsci zum heutigen globalen politischen Klima sagen?

Gramsci ist zutiefst involviert. Die Vorstellung, dass seine Ideen von Rechtsextremen missbraucht werden, um die Gesellschaft zu spalten, wäre ein Alptraum. Aber seine Ausführungen zu Zivilgesellschaft, Unterdrückung und der Macht des Alltagsdenkens waren so breit angelegt und erhellend, dass es nicht überrascht, zu sehen, wie sie von der anderen Seite des politischen Spektrums aufgegriffen werden.

Gibt es weitere Ihrer Werke, die ins Englische übertragen werden?

Es gibt einen Gedichtband, der nächstes Jahr übersetzt werden soll, und es könnten weitere Romane folgen.

Lesen Sie auch nicht-deutsche Literatur (vor allem indische in englischer Sprache)? Falls ja, was hat Ihnen in letzter Zeit gefallen?

Natürlich. Ich lese viele Autor*innen und Dichter*innen von außerhalb Deutschlands. Mir hat der Gedichtband von Sujata Bhatt gefallen, „Die Stinkrose“. Bhatt ist eine indische Dichterin, deren Arbeit mich sehr beeindruckt.

 
Alexander Booth © © Alexander Booth Alexander Booth © Alexander Booth
Anmerkungen der Übersetzer: Alexander Booth zu seiner Übersetzung von „36,9°“
Meine Verbindung zum Werk von Antonio Gramsci hat mit meiner Beziehung zu Rom zu tun, wo ich über 15 Jahre hinweg immer wieder gewohnt habe; mit dem nicht-katholischen Friedhof dort (wo Gramsci begraben liegt und wo ich ehrenamtlich gearbeitet habe) und meinem langjährigen Interesse an der Lyrik Pier Paolo Pasolinis. Ich hatte Hamish Hendersons Übersetzung der Gefängnishefte vor mehr als 20 Jahren gelesen – und dann nicht wieder, bis ich mit der Übersetzung von Nora Bossongs Roman begann. Dadurch, dass ich mit den Hauptschauplätzen der Geschichte vertraut war, fiel es mit leicht, mir diese Welt zu erschließen. Ich denke, dass eine Übersetzung im Grunde ein Akt des intensiven Zuhörens ist und dass jedes Buch und jede Autor*in einzigartig ist. Was man auch übersetzt, man versucht, das Original mit seiner Eigenheit wiederzugeben, auf eine Weise, die es einerseits erhält und sein Echo vergrößert, die aber andererseits etwas Neues entstehen lässt. Was besonders ist am Original, sollte auch in der Zielsprache beibehalten werden, auch wenn – oder gerade, weil – dadurch eine gewisse Reibung entsteht. Uns geht es darum, das Feld zu erweitern, nicht, es zu verengen; nicht um mehr desselben.

über die autorin

Nora Bossong © ©Brost-Stiftung and Christian Deutscher Nora Bossong ©Brost-Stiftung and Christian Deutscher
Nora Bossong studierte sowohl Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig wie auch Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik in Berlin, Potsdam und Rom. Ihr Debütroman „Gegend“ erschien 2006. Für den Lyrikband Sommer vor den Mauern (2011) erhielt sie 2012 den Peter-Huchel-Preis. Mit dem Roman „Schutzzone“ schaffte sie es 2019 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises.

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